Jerusalem

Jerusalem

Montag, 3. Februar 2014

„Ben, der Schneemann“ von Guido van Genechten

Als sich nun endlich eine dichte, strahlend weiße Schneedecke über die winterliche Landschaft ausgebreitet hat, baut man ihn in einem übermütig-unbewussten, kindlich-ausgelassenen Schöpfungsakt kurzerhand aus zwei prächtigen Schneekugeln zusammen, steckt ihm eine kleine Mohrrübe und ein paar Kohlenstücke ins Gesicht, setzt ihm eine alte Pudelmütze auf den Kopf und behauptet, er sei ein Schneemann und habe für den Rest seines kurzen, allein von der trügerischen Gunst des Frostes abhängigen Lebens still zu stehen.



Es sind ohne Zweifel schon Kinder unter banaleren Umständen von ihren Eltern ins Abenteuer des Lebens entlassen worden, aber was es nach landläufiger Meinung bedeutet, ein Schneemann zu sein, muss der kleine Ben, den es vor Abenteuerlust und Lebendigkeit in den Zehen kribbelt, nur allzu schnell von seinen beiden älteren und nach ihrer eigenen Meinung auch weitaus „lebenserfahreneren“ Artgenossen erfahren, die reglos-resigniert mit ihm die Landschaft bestehen, erstarrt zum bloßen Symbol für die spielerisch-naive, unbewusst formulierte menschliche Kampfansage gegenüber der Natur.

Wenn Ben der Schneemann sich ab und zu ein kleines
bisschen bewegte (er konnte ja nichts dafür, dass es ihn juckte
oder dass ein Hund mit ihm spielen wollte, oder?), schnauzte
ihn der Schneesoldat an: „Hör auf damit! Steh still!“
Herr Zylinder, der andere große Schneemann, der neben
ihnen stand, fügte dann etwas sanfter hinzu: „Nein, nein, Kleiner,
nicht bewegen!“

Ein hungriger kleiner Spatz, der auf seiner Möhrennase landet, zwitschert dem kleinen Schneemann schließlich eine unwiderstehliche Frage ein, die ihn gefühlsmäßig schon immer bewegt zu haben scheint, die er aber bislang – unter den unablässigen Ermahnungen, unduldsam geschnarrten Befehlen oder vorgeblich „wohlmeinenden“ Ratschlägen seiner Kollegen – noch nicht bewusst zu formulieren vermochte und die sich nun, erst einmal laut ausgesprochen, nicht wieder zurücknehmen lässt: „Warum?“


Der langjährige Typograf und Grafikdesigner, als Kinderbuchautor jedoch ausgesprochen spätberufene, stilistisch äußerst versierte belgische Illustrator Guido van Genechten (geboren 1957), dessen eindrucksvolles Werkregister in einem Zeitraum von bald dreißig Jahren auf mittlerweile mehr als vierzig Einzelveröffentlichungen angewachsen ist, gestaltet in seinem diesen Winter auf Deutsch erschienenen neuen Bilderbuch „Ben, der Schneemann“ in kindlich-naiven, bildinhaltlich reichen, mitreißenden Zeichnungen die klassisch-universelle Geschichte eines sinnstiftenden Aufbegehrens gegenüber falschen Autoritäten.

Guido van Genechten

Denn im Erwachen zur unumstößlichen Gewissheit eines ureigenen Bewusstseins als selbstbestimmtes Individuum muss Schneemann Ben unweigerlich erkennen, dass ein reglos ertragenes Leben, das sich im bloßen Erdulden des allein von Außen diktierten vermeintlich Unvermeidlichen erschöpft, weder seiner Persönlichkeit noch seinen köperlichen oder geistigen Fähigkeiten noch seiner auf dieser Grundlage geprägten Vorstellung vom Leben entspricht.

Schon viele Kinder- und Jugendbücher haben uns in der Vergangenheit das wohlvertraute melancholische Bild vom dahinschmelzenden Schneemann vermittelt: das Leben im unabänderlichen Jahreslauf der Natur geht weiter – wer könnte sich dagegen wehren? Guido van Genechten jedoch gibt sich mit der bloßen Metapher vom Schneemann als Symbol für Vergänglichkeit und Neubeginn nicht zufrieden, sondern sucht für seinen im kreativen Prozess seines Aufbegehrens Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen sympathisch-vertrauten kleinen Protagonisten einen ganz konkreten Ausweg: denn für Ben ist es keine Option, tatenlos auf Tauwetter zu warten.

Konventioneller Schneemann

Er läuft langsam los, rennt, springt, tanzt und rodelt innerlich wie äußerlich befreit den erstbesten Abhang hinab. Seine ursprüngliche bittere Wut ist dabei bereits nach den ersten paar Schritten zu einer wunderbaren, spielerisch-leichten Geste des persönlichen Triumphs abgemildert: anders als der kretische Sänger und Lyriker Psarandonis, der in einem seiner brühmtesten Lieder „ΠΕΤΡΕΣ ΠΕΤΩ ΤΟΥ ΦΕΓΓΑΡΙΟΥ“ Steine gegen den Mond schleudert, begnügt sich der kleine Ben damit, Schneebälle zu werfen: bis zum Mond – „Nein, sogar noch höher!“

Mit einem alten, achtlos weggeworfenen Fahrrad radelt er immer weiter Richtung Norden:

Ben fuhr, bis er eine wunderschöne weiße Ebene erreichte.
Dort sah er eine Gruppe tanzender, lachender Schneemänner.
Hey, müsst ihr denn nicht stillstehen?“, fragte er sie.
Nein, natürlich nicht“, antworteteten die Schneemänner
fröhlich. „Nicht hier im Eisland. Hier in unserer Heimat
dürfen wir Schneemänner uns nach Herzenslust bewegen.“

Freilich ist das Eisland nicht der geeignete Lebensraum für jeden – dem kleinen Schneemann jedoch bietet es die perfekten Rahmenbedingungen für eine selbstbestimmte, schwerelos-freie Existenz im Sinne seiner ganz persönlichen individuellen Talente, vor allem aber jenseits aller üblichen, von Bürokraten vorgegebenen und den Mutlosen und Untertanen kraftlos erfüllten Schneemann-Konventionen, losgelöst vom für seine sensible Spezies üblicherweise tödlichen Verlauf der Jahreszeiten. In diesem Sinne ist Guido van Genechten eine ganz neue, überaus reizvolle Variante der Schneemann-Geschichte gelungen, die uns auf moderate Art und Weise vor Augen führt, dass man zur Erringung des persönlichen Lebensglücks manchmal nicht nur weite und einsame Wege gehen muss, sondern vor allem auch das Undenkbare, zuvor nicht Gedachte denken muss.

„Ben, der Schneemann“, aus dem Niederländischen von Martin Rometsch, erschienen bei Aracari, 32 Seiten, € 13,90


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.