Als sich nun endlich eine
dichte, strahlend weiße Schneedecke über die winterliche Landschaft
ausgebreitet hat, baut man ihn in einem übermütig-unbewussten,
kindlich-ausgelassenen Schöpfungsakt kurzerhand aus zwei prächtigen
Schneekugeln zusammen, steckt ihm eine kleine Mohrrübe und ein paar
Kohlenstücke ins Gesicht, setzt ihm eine alte Pudelmütze auf den
Kopf und behauptet, er sei ein Schneemann und habe für den Rest
seines kurzen, allein von der trügerischen Gunst des Frostes
abhängigen Lebens still zu stehen.
Es sind ohne Zweifel schon
Kinder unter banaleren Umständen von ihren Eltern ins Abenteuer des
Lebens entlassen worden, aber was es nach landläufiger Meinung
bedeutet, ein Schneemann zu sein, muss der kleine Ben, den es vor
Abenteuerlust und Lebendigkeit in den Zehen kribbelt, nur allzu
schnell von seinen beiden älteren und nach ihrer eigenen Meinung
auch weitaus „lebenserfahreneren“ Artgenossen erfahren, die
reglos-resigniert mit ihm die Landschaft bestehen, erstarrt zum
bloßen Symbol für die spielerisch-naive, unbewusst formulierte
menschliche Kampfansage gegenüber der Natur.
Wenn Ben der Schneemann sich ab und zu ein kleines
bisschen bewegte (er konnte ja nichts dafür, dass es ihn juckte
oder dass ein Hund mit ihm spielen wollte, oder?), schnauzte
ihn der Schneesoldat an: „Hör auf damit! Steh still!“
Herr Zylinder, der andere große Schneemann, der neben
ihnen stand, fügte dann etwas sanfter hinzu: „Nein, nein,
Kleiner,
nicht bewegen!“
Ein hungriger kleiner
Spatz, der auf seiner Möhrennase landet, zwitschert dem kleinen
Schneemann schließlich eine unwiderstehliche Frage ein, die ihn
gefühlsmäßig schon immer bewegt zu haben scheint, die er aber
bislang – unter den unablässigen Ermahnungen, unduldsam
geschnarrten Befehlen oder vorgeblich „wohlmeinenden“ Ratschlägen
seiner Kollegen – noch nicht bewusst zu formulieren vermochte und
die sich nun, erst einmal laut ausgesprochen, nicht wieder
zurücknehmen lässt: „Warum?“
Der langjährige Typograf
und Grafikdesigner, als Kinderbuchautor jedoch ausgesprochen
spätberufene, stilistisch äußerst versierte belgische
Illustrator Guido van Genechten (geboren 1957), dessen
eindrucksvolles Werkregister in einem Zeitraum von bald dreißig
Jahren auf mittlerweile mehr als vierzig Einzelveröffentlichungen
angewachsen ist, gestaltet in seinem diesen Winter auf Deutsch
erschienenen neuen Bilderbuch „Ben, der Schneemann“ in
kindlich-naiven, bildinhaltlich reichen, mitreißenden Zeichnungen
die klassisch-universelle Geschichte eines sinnstiftenden
Aufbegehrens gegenüber falschen Autoritäten.
Guido van Genechten |
Denn im Erwachen zur
unumstößlichen Gewissheit eines ureigenen Bewusstseins als
selbstbestimmtes Individuum muss Schneemann Ben unweigerlich
erkennen, dass ein reglos ertragenes Leben, das sich im bloßen
Erdulden des allein von Außen diktierten vermeintlich
Unvermeidlichen erschöpft, weder seiner Persönlichkeit noch seinen
köperlichen oder geistigen Fähigkeiten noch seiner auf dieser
Grundlage geprägten Vorstellung vom Leben entspricht.
Schon viele Kinder- und
Jugendbücher haben uns in der Vergangenheit das wohlvertraute
melancholische Bild vom dahinschmelzenden Schneemann vermittelt: das
Leben im unabänderlichen Jahreslauf der Natur geht weiter – wer
könnte sich dagegen wehren? Guido van Genechten jedoch gibt sich mit
der bloßen Metapher vom Schneemann als Symbol für Vergänglichkeit
und Neubeginn nicht zufrieden, sondern sucht für seinen im
kreativen Prozess seines Aufbegehrens Kindern wie Erwachsenen
gleichermaßen sympathisch-vertrauten kleinen Protagonisten einen
ganz konkreten Ausweg: denn für Ben ist es keine Option, tatenlos
auf Tauwetter zu warten.
Konventioneller Schneemann |
Er läuft
langsam los, rennt, springt, tanzt und rodelt innerlich wie äußerlich
befreit den erstbesten Abhang hinab. Seine ursprüngliche bittere Wut
ist dabei bereits nach den ersten paar Schritten zu einer
wunderbaren, spielerisch-leichten Geste des persönlichen Triumphs
abgemildert: anders als der kretische Sänger und Lyriker
Psarandonis, der in einem seiner brühmtesten Lieder „ΠΕΤΡΕΣ ΠΕΤΩ ΤΟΥ ΦΕΓΓΑΡΙΟΥ“ Steine gegen den Mond
schleudert, begnügt sich der kleine Ben damit, Schneebälle zu
werfen: bis zum Mond – „Nein, sogar noch höher!“
Mit
einem alten, achtlos weggeworfenen Fahrrad radelt er immer weiter
Richtung Norden:
Ben
fuhr, bis er eine wunderschöne weiße Ebene erreichte.
Dort
sah er eine Gruppe tanzender, lachender Schneemänner.
„Hey,
müsst ihr denn nicht stillstehen?“, fragte er sie.
„Nein,
natürlich nicht“, antworteteten die Schneemänner
fröhlich.
„Nicht hier im Eisland. Hier in unserer Heimat
dürfen
wir Schneemänner uns nach Herzenslust bewegen.“
Freilich ist das Eisland
nicht der geeignete Lebensraum für jeden – dem kleinen Schneemann
jedoch bietet es die perfekten Rahmenbedingungen für eine
selbstbestimmte, schwerelos-freie Existenz im Sinne seiner ganz
persönlichen individuellen Talente, vor allem aber jenseits aller
üblichen, von Bürokraten vorgegebenen und den Mutlosen und
Untertanen kraftlos erfüllten Schneemann-Konventionen, losgelöst
vom für seine sensible Spezies üblicherweise tödlichen Verlauf der
Jahreszeiten. In diesem Sinne ist Guido van Genechten eine ganz neue,
überaus reizvolle Variante der Schneemann-Geschichte gelungen, die
uns auf moderate Art und Weise vor Augen führt, dass man zur
Erringung des persönlichen Lebensglücks manchmal nicht nur weite
und einsame Wege gehen muss, sondern vor allem auch das Undenkbare,
zuvor nicht Gedachte denken muss.
„Ben, der Schneemann“,
aus dem Niederländischen von Martin Rometsch, erschienen bei
Aracari, 32 Seiten, € 13,90
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