Jerusalem

Jerusalem

Freitag, 28. November 2014

„Hier bin ich, mein Vater“ von Friedrich Torberg

In diesem erstmals 1948 erschienenen und noch während des Zweiten Weltkriegs im amerikanischen Exil begonnenen, heute jedoch leider weithin vergessenen enigmatischen Roman, den nicht wenige aus gutem Grund für seinen besten halten, wagt der außerhalb von Österreich (wo sein Roman „Der Schüler Gerber“ zum offiziellen Kanon der Schullektüre zählt) nicht mal mehr als Kishon-Übersetzer im Gedächtnis gebliebenen brillanten Wiener Schriftstellers Friedrich Torberg den aberwitzigen und auf bravouröse Art gelungenen Versuch, ein „unlösbares Problem als solches darzustellen“, wie er es selbst als schlagfertige Entgegnung auf das seinerzeit weitverbreitete Unverständnis formulierte, das seinem unbequemen Buch bei seiner Erstveröffentlichung größtenteils entgegenschlug.



Ein Buch über die vielfältigen Gewissensqualen eines jüdischen Gestapospitzels im nationalsozialistischen Wien musste in einer Zeit, in der die meisten Menschen in Österreich wie auch in Deutschland mit umtriebigem Eifer vor allem mit der gleichermaßen unlösbar scheinenden Aufgabe beschäftigt waren, ihr unter beträchtlicher Mithilfe der Alliierten gerade erst überwundenes selbstverursachtes tausendjähriges Trauma gleichsam aktiv zu vergessen, vermutlich zwangsläufig allerseits auf Desinteresse und Verständnislosigkeit stoßen.

Immer und seit je ist es mir doch nur darum gegangen, von den andern, die keine Juden waren, so behandelt zu werden, als ob auch ich keiner wäre, so behandelt zu werden wie ein normaler Mensch. Nämlich: wie nach ihren Begriffen normaler Mensch. Das war der kleine Denkfehler, der mir dabei unterlief: daß ich mich immer nach ihren Begriffen gerichtet habe. Es ist mir nie der Gedanke gekommen, daß mit diesen ihren Begriffen etwas nicht stimmen könnte. Ich habe mein Judentum immer als Defekt akzeptiert, und die es mich fühlen ließen, immer als Ankläger. Ich habe nie zu vermuten gewagt, daß da vielleicht die Ankläger selbst an einem Defekt litten.

Torbergs unglückseliger Protagonist Otto Maier, ein im Zuge der nationalsozialistischen Judengesetze zunehmend beschäftigungsloser jüdischer Jazzpianist aus dem nachtaktiven Milieu der Wiener Boheme, wird anlässlich der Ereignisse des 9. und 10. November 1938, der sogenannten Reichspogromnacht, gemeinsam mit seinem Vater verhaftet und stundenlang mit hunderten anderer Juden unter unzumutbaren Zuständen von den Behörden festgehalten. Im Verlauf der amtlichen Erfassung der verhafteten Juden werden die beiden schließlich voneinander getrennt; während Ottos Vater, ein hochdekorierter ehemaliger Militärarzt, nach Dachau deportiert wird, darf er selbst nach dem zufälligen Eingreifen seines mittlerweile in der Gestapo zu hohem Einfluss gekommenen ehemaligen Klassenkameraden Franz Macholdt unbehelligt nach Hause gehen.

Ich hatte bis zu diesem Augenblick an meinen Vater gar nicht gedacht, genau so wenig, wie ich es zunächst am 12. März getan hatte. Jetzt dachte ich an ihn, und genau so selbstverständlich wie damals: ich dachte an ihn als den „einzigen Menschen“. Und eine leise Zärtlichkeit mischte sich in meine Gedanken, eine traurige, bedauernde Zärtlichkeit [...].

Macholdt lässt Otto allerdings bereits wenige Tage später unter beklemmend inszenierten Umständen in sein Büro rufen, um ihm nach einer zynischen Vergegenwärtigung seiner vollkommenen Abhängigkeit einen Pakt faustischen Ausmaßes anzubieten: im Tausch gegen regelmäßige Spitzeldienste im Rotlichtmenü und gezielte Denunziationen stellt er ihm, allerdings nur auf ausgesprochen vage Art und Weise, eine perspektivische Entlassung seines gesundheitlich angeschlagenem Vater aus dem Konzentrationslager in Aussicht. Da Otto allen Grund hat, ernsthaft um dessen Leben zu fürchten, willigt er nach kurzer Bedenkzeit in den schmutzigen Handel ein, da er glaubt, Macholdt mit einigen unklaren Hinweisen dauerhaft beschwichtigen zu können und so vordergründig alle Fäden zur Erreichung seines eigenen einzigen Ziels in der Hand zu behalten.

Damals, ganz am Anfang, phantasierte ich mich nämlich noch in die Rolle eines geheimen Rächers der Verfolgten hinein und erging mich überhaupt in allerlei kindischen Vorstellungen. Eine davon verstieg sich so weit, daß ich, wenn mir in den nächsten Tagen ein großer Coup gelänge, meinen Vater vielleicht noch rechtzeitig herausbekommen könnte, um mit ihm zusammen dem Orchester nach Ungarn nachzureisen.

Als sich sein ehemaliger Mitschüler schon bald nicht mehr mit Ottos nebulösen Tipps abspeisen lässt, beginnt dieser „notgedrungen“, wie er seine Spitzeleien vor sich selbst rechtzufertigen versucht, und unter beträchtlichen Gewissensqualen zunächst weitläufig Bekannte, später sogar langjährige Freunde und Musikerkollegen bei den nationalsozialistischen Behörden zu denunzieren. Auf diese Weise verliert er langsam und unausweichlich jeglichen Halt in seiner Clique wie auch in sich selbst. Als er durch Zufall erfährt, dass sein kränklicher Vater bereits kurze Zeit nach seiner Deportation verstorben ist, fasst er einen nahezu undurchführbar scheinenden Racheplan als schwindelerregenden moralischen Drahtseilakt zwischen Mut und Leichtsinn, der ihn noch weiter an die äußerste Grenze der Selbstverleugnung bringt – und weit darüber hinaus.

Friedrich Torberg. Foto
© Ch. Brandstätter Verlag

Mit seinem atemlos zu lesenden, nachhaltig verstörenden Roman, dessen Titel eine deutlich erkennbare, in höchstem Maße assoziationsreiche Anspielung auf das biblische Sohnesopfer beinhaltet, findet Friedrich Torberg angesichts der deprimierenden Schlusspointe nur geringen Trost für den verstört zurückbleibenden Leser, den dieser scheinbar allzu leicht, wie sich schließlich herausstellt, überlesen hat und deshalb am Ende systematisch zurückblättern muss, in der unbewussten fieberhaften Hoffnung, die entstandene Leere wieder mit Sinn füllen zu können. Den verzehrenden Grundkonflikt seines unglücklichen Protagonisten als bittere Agentenfarce inszeniert der Autor ähnlich ausweglos wie seine geistigen Verwandten Graham Greene und John Le Carré, mit denen er der entschiedenen Meinung ist, dass jeder, der sich auf dieses unmoralische Geschäft einlässt, am Ende nur verlieren kann. „Hier bin ich, mein Vater“ ist mit seiner angesichts seines frühen Entstehungszeitpunkts außergewöhnlich hellsichtigen, scharfsinnigen und radikalen politischen Analyse möglicherweise eine noch bedeutendere Wiederentdeckung aus dem nahezu vergessenen Werk Friedrich Torbergs als dessen allerdings zugänglichere Novelle „Mein ist die Rache“.

„Hier bin ich, mein Vater“, mit einem Nachwort von David Axmann, erschienen bei Milena, 301, Seiten, € 24,90

Dienstag, 25. November 2014

In eigener Sache

Liebe Leser und Freunde des Psychosemitischen Buchblogs,

aus beruflichen Gründen – der Liquidierung der Unternehmung, für die ich in den vergangenen elf Jahren hauptberuflich tätig gewesen bin bis Ende Februar sowie kurzfristig notwendig gewordener Projekte der Literaturvermittlung und des Lektorats – kann ich leider bis auf Weiteres keine Rezensionen in der gewohnt ausführlichen Form an diesem Ort bereitstellen.

In kürzerer Form als ich es mir eigentlich wünsche möchte ich an dieser Stelle jedoch wenigstens auf jene Bücher hinweisen, die ich in letzter Zeit sehr gerne gelesen habe und für ausführliche Besprechungen sowie als explizite Leseempfehlungen fest vorgesehen hatte.

Für das große Interesse und die freundliche Unterstützung bedanke ich mich sehr herzlich!

Florian Hunger





„Wolfshunger“ von Philip Kerr


Mit jedem neuen Roman aus Philip Kerrs international zu Recht gefeierter Krimiserie Berlin Noir um den moralisch unbestechlichen und regimekritischen deutschen Ermittler Bernhard Gunther wird umso deutlicher, wie virtuos und ehrgeizig der schottische Spannungsautor sein höchst anerkennenswertes Ziel weiterverfolgt, ein differenziertes literarisches Gesamtbild von Deutschland während der Nazi-Herrschaft zu erschaffen, das nicht nur der historischen Realität, wie wir sie aus zahlreichen Zeitzeugenberichten und geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitungen vermittelt bekommen haben, auf vorbildliche Weise zu entsprechen scheint, sondern das dem Leser von heute auch in der Person seines unnachahmlichen Protagonisten, des psychisch gebrochenen und durch die von ihm unfreiwillig bezeugten Verbrechen traumatisierten ehemaligen Kriminalkommissars im Rang eines Hauptmanns, eine wirklichkeitsnahe kritisch-objektive Beurteilung des Lebens unter nationalsozialistischer Diktatur sowie der kollektiven Verbrechen Nazi-Deutschlands aus individueller Sicht, gleichsam von innen heraus zu vermitteln vermag, die im Hinblick auf ein natürliches Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden des Lesers in hohem Maße moralisch prägend werden kann.



Bernie Gunthers mittlerweile neunter, nicht in chronologischer Reihenfolge veröffentlichter Fall Mit dem Titel „Wolfshunger“ führt ihn im beginnenden Frühling des bitteren Kriegsjahrs 1943 in den Wald von Katyn bei Smolensk (heute Ukraine), wo der NKWD nach der sowjetischen Annexion Ostpolens infolge des Hitler-Stalin-Pakts drei Jahre zuvor ein Massaker an mehreren tausend im Verlauf der Kriegshandlungen gefangen genommenen polnischen Offizieren verübt hatte, das nun von der Wehrmachtsuntersuchungsstelle für Kriegsverbrechen aufgearbeitet und von Joseph Goebbels und seinem Propagandaministerium durch bewusste Instrumentalisierung einer internationalen Expertenkommission als Kriegsverbrechen der Alliierten propagandistisch ausgeschlachtet werden soll. Vor Ort begegnet Bernie erneut einer schwer zu ertragenden Mischung aus roher, staatlich sanktionierter Gewalt, ignoranten militärischen Gehorsams und einem weit verzweigten Netzwerk von brutaler, amoralischer Machtausübung und Korruption. Nach dem unbegreiflichen blutigen Mord an zwei zunächst vollkommen harmlos scheinenden Wehrmachtsfunkern sowie einem russischen Arzt und seiner Tochter, mit denen Gunther allesamt in persönlichem Kontakt stand, nimmt er in gewohnt leichtsinniger Art auf eigene Faust inoffizielle Ermittlungen auf, die ihn schon bald in höchste Lebensgefahr bringen und nur wenig später sogar zu einem kaltblütigen Mord an einem unschuldigen Kameraden zwingen. Er verliert erneut auf denkbar unglückliche Art und Weise die Liebe einer schönen Frau und räsonniert aus heutiger Sicht ungewohnt scharfsinnig und erfrischend über die merkwürdig zauderhafte, im kollektiven Gedenken der Bundesrepublik unverhältnismäßig überhöhte Verschwörung adliger deutscher Offiziere gegen Hitler, die ein Jahr später im vorhersehbaren Fiasko des 20. Juli münden sollte.

Eins muss ich Ihnen lassen. Sie Genie haben dreimal in ebenso vielen Wochen versucht, Hitler umzubringen, und jedes Mal ging es schief. Man sollte doch meinen, dass eine Gruppe ranghoher Offiziere weiß, wie man einen Mann tötet. Sie sollten darin gut sein, oder nicht? Während des Großen Krieges hatte jedenfalls keiner von Ihnen Probleme, Milionen Menschen abzuschlachten. Aber es scheint Ihnen allen unmöglich, Hitler umzubringen. Als nächstes erzählen Sie mir vielleicht noch, Sie wollen silberne Kugeln benutzen, um den Scheißkerl aus der Welt zu schaffen.

Auch im neunten Band seiner originellen Buchreihe um Bernie Gunther ist Philip Kerr erneut eine auch intellektuell fesselnde Mischung aus kriminalistischer Spannungsliteratur, zuverlässiger historischer Recherche und glänzender politischer Analyse auf allerhöchstem Niveau gelungen. Anders als die meisten anderen Thriller und Kriminalromane unserer Zeit, die man nach der Lektüre ohne zu zögern leihweise weitergibt, verschenkt oder irgendwo liegen lässt, stellt man die Berlin-Noir-Romane in die erste Reihe im Bücherregal zu den anderen Bänden.

„Wolfshunger“, aus dem Englischen von Juliane Pahnke, erschienen bei Wunderlich, 543 Seiten, € 22,95



„Aufstieg und Fall des Wollspinners William Bellman“ 

von Diane Setterfield


Nachdem der zehnjährige William Bellman unter dem Beifall seiner gleichaltrigen Freunde mit einem perfekten, unglaublich scheinenden Schuss aus seiner selbstgebauten Zwille an einem denkwürdigen Spätsommertag eine in weiter Entfernung auf einem Ast sitzende Krähe getötet hat, bekommt er noch am selben Abend einen heftigen Fieberanfall, der ihn für die Dauer einer Woche besinnungslos ans Bett fesselt. Auf dem Nachhauseweg hatte er noch unter dem Baum seines fragwürdigen Triumphs plötzlich einen schwarz gekleideten Jungen stehen sehen, der ihm unverwandt hinterherblickte, bis er im Haus verschwunden war. 



Als William das Fieber glücklich überstanden hat, beginnt seine denkwürdige Karriere als völlig unbeschwert scheinendes sprichwörtliches Glückskind, dem im viktorianischen England offensichtlich alles im Leben gelingt: nicht nur fliegen ihm mühelos sämtliche Herzen seiner Mitmenschen zu, insbesondere der Frauen, auch im Beruf gelingt ihm Dank seines Fleißes und seines Einfühlungsvermögens nahezu alles. Nur wenige Jahre nachdem er als Lehrling in die Weberei seines Onkels eingetreten ist, hat er sich dort schon so unersetzlich gemacht, dass es nur eine Frage der Zeit zu sein scheint, bis er die Leitung des im Zuge der Industrialisierung aufstrebenden Betriebs übernehmen wird. Doch da beginnen in seinem persönlichen Umfeld die plötzlichen Todesfälle: seine geliebte Mutter, sein Onkel, sein Cousin. Und während der Beerdigungen fällt William immer wieder ein schwarz gekleideter Fremder auf, der ihn mit stechendem Blick aus der Ferne fixiert und ihn in zunehmendem Maße beunruhigt, doch ihm immer dann ausweicht, wenn er Mut gefasst hat, ihn zur Rede zu stellen. Allein in der Arbeit findet der aufstrebende Jungunternehmer Trost und Zuflucht, die Weberei floriert und kann sich Dank seiner fabelhaften Voraussicht gut am Markt positionieren. Er heiratet die Frau seines Herzens und sie bekommen mit den Jahren vier Kinder.

Doch auf dem Höhepunkt seines privaten und beruflichen Erfolges, bricht eine Typhusepidemie aus, der nacheinander seine jüngste Tochter, seine beiden Söhne und seine Frau zum Opfer fallen. Als auch die älteste Tochter erkrankt, betrinkt sich William bis zur Besinnungslosigkeit in der Dorfkneipe. Auf seinem nächtlichen Heimweg beobachtet er, wie der mysteriöse Mann in Schwarz den Friedhof betritt und folgt ihm. Über einer Reihe von bereits ausgehobenen Gräbern kommt es zu einem denkwürdigen Handschlag zwischen den beiden, der alles ändert. Am nächsten Morgen zeigt Williams Tochter überraschend Anzeichen der Besserung und der Unternehmer stürzt sich mit voller Energie in ein makabres Großprojekt, dem größten Kaufhaus für Trauerwaren, das es in London jemals gegeben hat.

"Was für ein Leben ich hatte!", sagte er staunend zu Black. "Ich könnte ein halbes Leben damit zubringen, einfach nur daran zu denken!"
"Erinner dich!"
Er erinnerte sich, Szene für Szene, jeden Augenblick, Glück und Kummer, Freude, Liebe und Trauer quollen aus dem Winkel hervor, in dem er sie eingemauert hatte, ein Strom aus Tagen, Stunden und Sekunden, der nicht enden wollte.
Mir ist kalt, merkte er und dachte augenblicklich daran, wie er vor vielen Jahren, in Decken gehüllt, am Kaminfeuer eines kleinen Cottage gezittert und das Gewicht seiner Tochter auf dem Schoß gespürt hatte.

Diane Setterfields ebenso virtuoser wie kenntnisreicher historischer Roman variiert das Thema der moralischen Einsicht und Umkehr, das wir aus Charles Dickens' berühmter Weihnachtsgeschichte kennen, auf höchst originelle und lebensbejahende Art und Weise. Dabei gelingt es ihr absolut meisterhaft, das verdrängte Kindheitstrauma ihres unglückseligen Protagonisten so in die Handlung und die geglückte Konstruktion ihres atemlos zu lesenden Buches einzubetten, dass in der Raben- und Vergänglichkeitssymbolik zwar deutliche Anklänge ans Phantastische bestehen bleiben, aber ohne dass diese nicht auch nüchtern und rational im Sinne einer psychologischen Umschichtung innerer Erlebnisse deutbar bleiben. „Aufstieg und Fall des Wollspinners William Bellman“ ist damit eine überaus dankbare, wenn nicht die ideale Lektüre für die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr.

„Aufstiegund Fall des Wollspinners William Bellman“, aus dem Englischen von Anke und Eberhard Kreutzer, erschienen bei Blessing, 400 Seiten, €19,99