Jerusalem

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Freitag, 29. November 2013

„Eines Abends im Winter“ von Esther Kinsky und Sarah Fricke

Eine angesichts der beginnenden vorweihnachtlichen Hektik hoch willkommene, wundervolle Entschleunigung mit poetischen Mitteln verschafft uns die vielseitige Lyrikerin, Schriftstellerin und literarische Übersetzerin Esther Kinsky in ihrem bereits vor zwei Jahren erschienenen, von der jungen talentierten Hallenser Illustratorin Sarah Fricke liebevoll in Szene gesetzten Bilderbuch „Eines Abends im Winter“, das als unerwartete akustische Zugabe eine liebevoll von der Autorin selbst eingesprochene und von der Potsdamer Singakademie mit kindlich-ungekünsteltem musikalischen Charme begleitete Hörbuch-CD enthält, die die meditativ-weltenrückte Ausstrahlung von Kinskys unscheinbarem Text sogar noch zu steigern vermag:


Den neugierig-naiven, wachen, empathischen Blick dreier Katzen durch abendlich-erleuchtete Großstadtfenster, hinter denen Menschen der verschiedensten Kulturen in der unangetasteten kontemplativen Stille ihres Privatlebens als Ausdruck ihrer persönlichen und kulturellen Identität die verschiedenen Lichterfeste ihrer jeweiligen religiösen Traditionen begehen – das hinduistische Diwali-Fest, das jüdische Chanukka sowie das christliche Weihnachten.

In der dunklen Jahreszeit feiern viele Menschen auf der ganzen Welt ein Lichterfest.[...] Alle drei Feste haben gemeinsam, dass die Dunkelheit erhellt wird, dass Menschen beieinander sind und die Erinnerung an etwas feiern, das vor langer Zeit geschehen ist. Und man isst an allen drei Festen Süßigkeiten und singt oder macht Musik. Man feiert die guten Dinge, damit sie stärker sind als die schlechten.

So beginnt Esther Kinsky ihre kurze, auf den literarischen Text folgende, das Buch beschließende Erläuterung, in der sie auch einige überraschend schöne, neue, eigenwillig-pointierte Charakterisierungen der drei vorgestellten Feste findet und diese mit ironisch-geistreicher Distanz eines sich bewusst außerhalb dieser Traditionen Stellenden beschreibt.

Mama“, fragten manche Kinder, „wann schneit es endlich?“
Bald“, sagte ihre Mama, „bald ist es ganz kalt und es schneit.“
Mama“, fragten andere Kinder, „wann ist Chanukka?“
Bald“, sagte ihre Mama, „bald ist Chanukka, und jeden Tag zünden wir eine Kerze mehr an.“
Mama“, fragten wieder andere Kinder, „wann ist Weihnachten?
Bald“, sagte ihre Mama, „guckt mal, die Häuser sind schon mit so vielen Lichtern geschmückt!“

Drei schwarze Katzen sitzen Tag für Tag am Fenster einer Berliner Erdgeschosswohnung, von dem aus sie mit vorbehaltloser Neugier den bunten Alltag der Großstadt betrachten. Als sich das Jahr dem Ende zuneigt und es bereits am frühen Nachmittag dunkel zu werden beginnt, beobachten sie eines Abends im Hinterhof ein prächtiges Feuerwerk, das eine indische Großfamilie abbrennt, um den Sieg des Lichts über das Dunkel, des Guten über das Böse zu feiern.

Und nur wenige Tage später schleichen sich die drei Katzen gemeinsam aus der Wohnung, um auf einen hohen Hinterhofbaum zu klettern, von dem aus sie Einblick in nahezu alle Wohnungen des Hauses haben und erfüllt von aufrichtigem Wissensdurst die verschiedensten Äußerungen von menschlicher Spiritualität betrachten können. Allerdings hat die Art von Spiritualität, die Esther Kinsky hier so überaus einfühlsam beschreibt und Sarah Fricke in ihrer strahlend-schönen, menschenfreundlichen Bildsprache so kongenial illustriert hat, weniger mit konventioneller Religiosität zu tun, sondern ist auf äußerst poetische Weise eher dem Begriff der menschlichen Selbsterkenntnis und gelebten Individualität verbunden, wie sie etwa dem Inhalt des beschriebenen Diwali-Festes entspricht:




Denn Spiritualität ist auch die liebevoll-intime Art, wie der muslimische Nachbar gemeinsam mit seiner Frau ein frisch zubereitetes Brathähnchen verspeist, wie ein kleiner Junge – heimlich dabei von seiner Mutter beobachtet – Klavieretüden übt oder wie ein Mädchen, ganz in sich versunken, in ihrem Zimmer Bratsche spielt. Natürlich ist es auch das gemeinsame Schmücken des Weihnachtsbaums und das feierliche Entzünden der Chanukka-Kerzen, das Spielen mit der Dreidl oder der Duft von Latkes und Krapfen.

Eine alte Frau saß dahinter im Schaukelstuhl und hielt eine sehr große getigerte Katze auf dem Schoß. Franz knurrte ein bisschen. „Pssst!“, fuhr Kalman ihn an, und Franz war sofort still, er hatte keine Lust auf ein Kämpfchen. Die alte Dame schaukelte in ihrem Schaukelstuhl und kraulte die dicke getigerte Katze hinter den Ohren. Neben ihr stand ein kleiner Baum mit flinkernden, blinkernden Lichtlein. Und – Kalman, Schwartzie und Franz konnten ihren Ohren nicht trauen: Die Katze sang ein Lied!

Selbst als die Lichter hinter den Fenstern verlöschen und die beginnende Nacht sich über die Großstadt senkt, Kinder wie Erwachsene friedlich einschlafen, scheint dieses eine, unsichtbare Licht noch weiterzustrahlen. Esther Kinsky und Sarah Fricke ist ein außergewöhnlich schönes klingendes Bilderbuch für Kinder und Erwachsene gelungen, das auf ebenso einfache wie kunstvoll-poetische Art und Weise zeigt, wie traditionelle Feste auch jenseits der rituellen Konventionen ganz unmittelbar lebenspraktischen Sinn und Gemeinschaft zu stiften vermögen.

Eines Abends im Winter“, erschienen bei Jacoby & Stuart (auch in englischer Sprache), 32 Seiten und eine CD, € 16,95

Freitag, 22. November 2013

"Dieses Buch gehört meiner Mutter" von Erich Hackl


Am 15. November wurde der österreichische Autor und Übersetzer aus dem Spanischen, Erich Hackl, geboren 1954 in Steyr, für sein schriftstellerisches Lebenswerk mit dem Großen Kulturpreis des Landes Oberösterreich „Adalbert Stifter“ ausgezeichnet. Dieser schöne, klangvolle und renommierte Preis ist eine verdiente Anerkennung für ein bemerkenswertes, im deutschen Sprachraum einzigartiges Werk, das sich – und das ist das wunderbare daran – nicht willkürlich auf die geschlossene Welt der Literatur beschränken lässt.

Erich Hackl, dessen „Erzählungen nach dem Leben“ „Auroras Anlass“ und „Abschied von Sidonie“ längst nicht nur in Österreich den Kanon der Schullektüre bereichern, ist es von Anfang an immer ein überaus dringliches Anliegen gewesen, dem tatsächlichen, mit wachen Sinnen aktiv gelebten Leben mit den subtilen Mitteln seiner Sprachkunst einen unverwechselbaren, zärtlich-fragilen Raum innerhalb der bewahrenden Gegenwelt der Literatur zu verschaffen.

Erich Hackl/Foto: Pedro Timon Solinis


Dabei sind es vor allem die namenlosen Schwachen, Diskriminierten und Entrechteten des Zwanzigsten Jahrhunderts, denen Hackl immer wieder seine dichterische Stimme geliehen hat: die totgeschwiegenen Sprachlosen, denen die Möglichkeit eines freien und selbstbestimmten Lebens vorenthalten oder genommen wurde. Ob Nazidiktatur, spanischer Bürgerkrieg oder lateinamerikanische Militärjunta, es ist ein stetiges Anschreiben gegen das Vergessen, das ihn antreibt, ein unbändiger, widerborstiger Wille, den Verschleppten, Gefolterten und Ermordeten sowie ihren Angehörigen auf literarischem Wege Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem er ihnen gleichsam vor aller Welt ihre Gesichter und ihre Namen zurückgibt und sie so dem Dunkel der Zeitläufe und der angestrengten Ignoranz der sich unbeteiligt gebenden Zeitgenossen entreißt.

Dabei sind Erich Hackls Bücher in der Wahl ihrer künstlerischen Mittel für gewöhnlich so reduziert, dass man oft erst im weiteren Verlauf der Lektüre merkt, dass man es hier mit einer ganz und gar eigenständigen Art der dokumentarischen Prosa zu tun hat, die einen gerade in ihrer sprachlichen Kargheit und nüchternen Authentizität so unmittelbar packt, dass man sie immer wieder getrost als literarische Sensation bezeichnen darf.

Wenn es innerhalb der jüngeren deutschen Literatur noch direkt zugängliche Werke gibt, die das kaum hoch genug einzuschätzende Kunststück fertigbringen, uns neben objektiven Fakten auch die unmittelbaren menschlichen Konsequenzen politischen Handelns aufzuzeigen, dann sind es die auf stille Art und Weise spektakulären Bücher des bescheidenen Oberösterreichers, der es sich nie gestattet, seine Protagonisten etwa durch sprachliche, strukturelle oder interpretatorische Kabinettstückchen (zu denen er im übrigen sehr wohl fähig ist, wie er als virtuoser Übersetzer von Lyrik wiederholt bewiesen hat) in den Hintergrund zu drängen.



In seinem neuen Buch betritt Erich Hackl indes literarisches Neuland, indem er sich erstmals Episoden aus der eigenen Familiengeschichte annähert. „Dieses Buch gehört meiner Mutter“ ist wie Lyrik gesetzt und bedient sich zuweilen einer geradezu biblisch anmutenden Sprache, die uns unwillkürlich und höchst überzeugend in die archaisch scheinende, geographisch wie weltanschaulich eng umrissene, bäuerlich geprägte Welt der ersten fünfundzwanzig Lebensjahre seiner Mutter in einem kleinen, abgeschiedenen, aus nicht mehr als dreißig Häusern und Höfen bestehenden Dorf im Unteren Mühlviertel, nahe der Grenze zu Tschechien hineinversetzt.

Am Hang des Predigtberges
lag Sankt Leonhard.
Am Fuß des Heidenberges
lag Weitersfelden.
Firling lag so dazwischen:
vier Hügel dahin,
fünf Hügel dorthin. [...]

Drumherum ein paar tausend Steine,
verstreut über Weiden, Äcker und Wälder.

Mittendrin allerlei zahmes Getier
sowie Mannsbilder, Weiberleute und Kinder,
erfüllt von Fleiß, Gehorsam, Gottesfurcht
und einem großen Durst nach Geselligkeit.

Immer in der Schwebe
zwischen Argwohn und Leichtsinn.

Zu erschöpft,
sich die Gegenwart vorzustellen.

Solche wie ich.

In den zunächst simpel scheinenden, aber sich schon bald als ausgesprochen assoziationsreich und suggestiv erweisenden Worten, die der Autor seiner vor zehn Jahren verstorbenen Mutter leiht, wird das karge Leben im Mühlviertel auf eine Art und Weise lebendig, dass wir darin als dankbare Leser den ganzen Reichtum aller erdenklicher wesentlicher menschlicher Lebensäußerungen vollkommen unverstellt, ohne jede moralische Deutungsrichtung und in schmerzlichster, ursprünglichster und reinster Schönheit widergespiegelt erkennen dürfen. Dabei geht es hier vor allem ums tagtägliche Überleben: der Boden wirft trotz harter Arbeit, bei der die ganze Familie mit anpacken muss, zu wenig Ertrag ab, die Schulden drücken, und um den häuslichen Kirschbaum durch den Winter zu bringen, muss man in den Frostnächten ein kleines Feuerchen daneben anzünden.

Klassenfoto 1930


Dennoch ist diese aufs Wesentliche reduzierte Welt vor allem ein Ort der Schönheit und des inneren Reichtums, deren zahlreiche Ausprägungen in Hackls Version der persönlichen Bestenliste eines jungen Mädchens eine ganze Seite einnehmen:

Schlitten fahren.
Die jungen Katzen im Korbwagen spazierenfahren.
Auf dem Jahrmarkt mit dem Ringelspiel fahren.
Ein Rehkitz mit der Flasche aufziehen.
Das Roß striegeln.
Der alten Einlegerin die weißen Haare kämmen.
Von der Störschneiderin ein Märchen erzählt bekommen.
Dem Edi beim Faxenmachen zuschauen.
Dern Schaum vom Bierglas schlecken.
Auf de4m Dachboden alte Bücher finden.
Neben dem Fluder kleine Wasserräder laufen lassen.
Beim Brotbacken helfen.
Aufs Christkind warten.
Ans Christkind glauben (ein Mädchen wie ich, nur blond).
Das Christkind sehen (einen Zipfel seines himmelblauen Nachthemds).
Wenn es regnet, trocken bleiben.
Zum Essen sich Zeit nehmen dürfen.
Früh ins Bett gehen dürfen.
Beten.
Einen Schutzengel haben.
Ein gutes Wort hören.
Sich freuen.

Erich Hackls Buch ist eine unerschöpfliche Schatzkammer der alltäglichen Wunder. Es ist nebenbei auch ein eindringliches literarisches Dokument des poetischen Welt-Sehens und eine gelungene Anleitung, die guten, wesentlichen Dinge des Lebens angemessen zu würdigen. Alle großen und kleinen Dramen des chaotischen menschlichen und familiären Miteinanders haben hier ihren Platz: geplatzte Versprechen, heimliche Liebschaften, Kuppeleien, traditionelle Feindschaften, offene und versteckte Gewalt, berechtigte Liebe und grundloser Hass.

Hochzeitsfoto der Großeltern


Aber auch den kleinen, aber umso bedeutsameren Momenten des meist allzu vergänglichen Triumphs des sogenannten „kleinen Mannes“ über die Willkür der Mächtigen und den ohnmächtigen Widerstand gegen politische Ungerechtigkeit sowie insbesondere das Aufbegehren gegen die neuen nationalsozialistischen Machthaber schildert Hackl auf höchst eindringliche, unnachahmliche Art und Weise: hier scheint es noch eine ursprüngliche Art von grundsolider Anständigkeit und natürlicher moralischer Integrität zu geben. Das unbegreifliche Verschwinden der Roma und der Juden aus dem dörflichen Alltag quittiert die Erzählstimme mit hellsichtiger, entschiedener Urteilskraft:

Es war ein jüdischer Militärarzt,
der ihm im Lazarett das Leben gerettet hat.
Sagte mein Vater, und ich glaube,
so ist es gewesen.

Es war ein jüdischer Holzhändler,
der ihn in der schlechten Zeit fast ruiniert hat.
Sagte mein Vater, und ich glaube,
die Sache war komplizierter.

Es war ein jüdischer Offizier,
der den Soldaten das Plündern verboten hat.
Sagte mein Vater, und ich glaube,
ich kann es bezeugen.

Bei uns im Dorf gab es keine Juden.
Hätte es welche gegeben und dann keine mehr,
müßten wir uns ins Grab hinein noch schämen.

Die von Erich Hackl kongenial wiedergegebenen, bunt schimmernden, unvergesslichen, einprägsamen Szenen aus dem Leben seiner Mutter sind zwar wie Lyrik gesetzt, haben aber eindeutig erzählenden Charakter. Dennoch lassen sie mehr urtümlichen poetischen Gestaltungswillen erkennen als vieles, was von manchen zeitgenössischen Autoren aus Bequemlichkeit oder Unvermögen mitunter gern als Gedicht ausgegeben wird.

Der private Rahmen von Hackls familiärer Dichtung ist dabei nur scheinbar ein Widerspruch zu seinem bisherigen engagierten Eintreten für die politischen Verlierer des Zwanzigsten Jahrhunderts in seinen früheren Werken. Sein letztes Buch „Familie Salzmann“ war bewusst mit dem Untertitel „Erzählung aus unserer Mitte“ versehen – ein unmissverständlicher Hinweis auf die wohl wichtigste Erkenntnis aus all seinen bisherigen akribischen literarischen Recherchen: alle zu ihrer Zeit zu Unrecht Verfolgten waren vor ihrer infamen sozialen Ächtung immer Teil der Gesellschaft – Menschen „wie du und ich“ mit Träumen, Zielen und familiären Bindungen. Diese wesentliche Einsicht hat Hackl in seinem neuen Buch gleichsam noch weiter verdichtet – auch wenn seine Protagonisten hier größtenteils das Privileg eines friedlichen und erfüllten Lebens genießen dürfen.

Erich Hackls Mutter mit Tante und Hund


Am Ende zeigt sich wieder einmal, dass das kindlich-naive Bewusstsein nicht nur am intensivsten, lebhaftesten und wertschätzendsten zu beobachten vermag, sondern dass es dies auch auf völlig unvoreingenommene Art und Weise und ohne versteckte Motive tut. Die Erinnerungen von Erich Hackls Mutter enden folgerichtig mit ihrer Heirat und dem Verlassen des Elternhauses:

Als es soweit war, fiel der Abschied nicht schwer:
von dieser Welt, in der ich aufgehoben gewesen war
die ersten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens,
die einzigen, die mir gegenwärtig blieben bis zuletzt
in Träumen
auf Erden.

Den beschriebenen Zustand des kindlichen Weltbetrachtens aber gilt es wiederzuerlangen: das, so deutet Hackl in seiner Nachbemerkung lediglich an, ist eine Lebensaufgabe, die nur wenige glückliche Menschen zu vollbringen vermögen.

„Dieses Buch gehört meiner Mutter“, erschienen bei Diogenes, 116 Seiten, € 17,90

Montag, 18. November 2013

"Germania" von Harald Gilbers

Als ob die Bilanz des Nationalsozialismus, insbesondere in der moralischen Eskalation der Schoah sowie den blutigen Schlachten des Zweiten Weltkriegs, nicht schon grausam genug ausfiele, hat der langjährige Fernsehredakteur, Schriftsteller und freie Theaterregisseur Harald Gilbers das unter den chirurgischen Luftangriffen der Alliierten des Frühsommers 1944 in Trümmer fallende, desolate Berlin in seinem fesselnd-unterhaltsamen historischen Kriminalroman „Germania“ zum morbide-pittoresken Schauplatz eines mordlustigen, mit irrer Präzision zuschlagenden Serientäters gemacht, dessen blutige Untaten auf doppelte Weise die von den Machthabern staatlich legitimierte sittliche Verrohung eines ganzen Volkes widerspiegeln.



Die beklagenswerten, ausnahmslos weiblichen Opfer des psychopathischen Mörders werden stets nach demselben Muster, mit weit gespreizten Beinen sowie entblößten und grausam verstümmelten Geschlechtsteilen und zweier durch ihre Gehörgänge bis ins Gehirn hineingetriebenen Nägel in den Ohren vor verschiedenen Gedenkstätten auf dem Stadtgebiet von Berlin zu Ehren der Opfer des Ersten Weltkriegs augefunden. Die unbeholfenen Bekennerschreiben in fehlerhafter Rechtschreibung suggerieren eine deutliche ideologische Nähe des mutmaßlichen Täters zur nationalsozialistischen Führung:

Die Dirnen sind gefährlich. Viel noch als die Juden und die Bolschehwisten zusammen. Sie haben unsre Heimat unterwandert. Sie verschmutzen unser Bluht rauben unsere Lebenskraft. Jemand muß es die Leute sagen. Die Hure die ich in Schöneweide, hab liegenlassen ist nicht die letzte. Warum sieht der Führer zu, daß in den Puffs vom Lebensborn die gesamte SS verseucht wird? Unsre Bewegung, hat eine falsche richtung genommen.

Doch während an den militärischen Fronten sowie im gänzlich rechtsfrei scheinenden Raum der Konzentrationslager und des nationalsozialistischen Polizeistaats wahllos und nahezu ungeahndet gemordet werden darf, solange es dabei „nur“ die auch öffentlich als Untermenschen gebrandmarkten, vom System offiziell Diskriminierten trifft, kann der undurchschaubar-kafkaeske Apparat des zu Beginn des Zweiten Weltkriegs durch Zusammenlegung der unterschiedlichen Polizeiorgane geschaffenen Reichssicherheitshauptamtes spätestens nach dem zweiten Mordfall – zumal begangen an der Chefsekretärin eines einflussreichen Parteibonzen – nicht umhin, eine Sonderermittlungskommission unter Leitung eines SS-Kommandos zu nominieren.

Deren Chef, der ehrgeizige, aber in systematischer Polizeiarbeit gänzlich unerfahrene Hauptsturmführer Vogler, dessen vorrangigstes Ziel eine möglichst baldige Rückversetzung an die militärische Front ist, hat sich für die auch aus Gründen der Parteiräson dringend zu erreichende, unverzügliche Aufklärung des Falles die Rückendeckung seiner Vorgesetzten für einen vollkommen unkonventionellen und aus objektiver heutiger Sicht eher unrealistisch scheinenden Schachzug entschieden: nämlich den wegen seiner Ehe mit einer Christin noch halbwegs geschützten, jedoch kurz vor der Deportation stehenden ehemaligen jüdischen Polizeikommissar Richard Oppenheimer vorübergehend zur Unterstützung seiner Dienststelle zu reaktivieren.

Sie können das machen. Sie sind unvoreingenommen. Sie können Fragen stellen, die sich kein Nationalsozialist trauen würde auch nur anzudeuten. Nur auf diese Weise ist es sinnvoll, eine Untersuchung zu führen.“

Die völlig undenkbare Situation, dass ein Jude mit gelbem Stern am Revers gegen Ende der Nazi-Herrschaft in Deutschland eine geheime polizeiliche Ermittlung leitet, Zeugen befragt und dabei untergeordneten SS-Männern dienstliche Anweisungen erteilt, wird schon bald zumindest für Außenstehende von Voglers Befehl entschärft, den Stern dauerhaft von der Kleidung zu entfernen; im Laufe der weiteren Ermittlungsarbeit kommt es sogar zu einer gruseligen Begegnung mit Reichspropagandaminister Joseph Goebbels:

Sie sind also Jude, Oppenheimer?“
Ja.“
Nun gut, das kann vorkommen. Zumindest scheint Hauptsturmführer Vogler großes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten zu haben. Trotzdem sollte niemand erfahren, dass Sie nichtarischer Herkunft sind. Wenn Ihr Name nicht wäre, könnte man sich durchaus täuschen lassen. [...] Was mich angeht, sind Sie bis zur Beendigung der Untersuchung von der Zugehörigkeit zujm jüdischen Volk suspendiert. Bis dahin sind Sie als Arier zu behandeln. Punktum. Vogler wird sich um alles Nötige kümmern. Das war's, meine Herren.“
Oppenheimer blickte Goebbels völlig überrumpelt an. Er hatte nicht gewusst, dass selbst die Religionszugehörigkeit in den Kompetenzbereich eines Propagandaministers fiel. Was würde jetzt geschehen? Würde ihm nun wie durch ein Wunder eine neue Vorhaut wachsen?

Der schottische Thriller-Spezialist Philip Kerr, zweimaliger Preisträger des renommierten Krimi-Preises, hat in seiner großartigen Berlin-Noir-Reihe um den ehemaligen Kriminaloberkommissar und Privatdetektiv Bernie Gunther, einer Art von freidenkerischem Philip Marlowe im Nazi-Deutschland der 1930er und 40er Jahre, einen bisher unerreichten Standard in diesem von ihm selbst erfundenen Genre gesetzt. Der eher aufklärerische Ansatz des Österreichers Otto Basil (1901-1983) in seiner grandiosen Farce „Wenn das der Führer wüßte“ (1966) unterscheidet sich ebenfalls deutlich davon wie der des englischen Historikers und Bestseller-Autors Robert Harris in seinem spannenden anti-utopistischen Roman „Vaterland“ – beide Bücher spielen in einem fiktiven Nachkriegseuropa, das durch einen allumfassenden Sieg der Nationalsozialisten geprägt ist.



Harald Gilbers gelingt es in seinem Debütroman auf äußerst unterhaltsame sowie historisch fundierte und von zahlreichen verlässlichen Quellen inspirierte Art und Weise, die Wartezeit bis zum Erscheinen des nächsten Bernie-Gunther-Falles „Böhmisches Blut“ im Januar 2014 mehr als angemessen zu überbrücken. Der Münchener Autor (geboren 1969) zeichnet in atmospärisch dichten Szenen ein beängstigend realistisches, ausgesprochen verstörendes Endzeitpanorama einer verdientermaßen dem Untergang geweihten Stadt. Dabei enthält er sich deutlich einer angesichts des zahlreiche weltanschauliche Fragen aufwerfenden Sujets durchaus naheliegenden, stereotypen Schwarz-Weiß-Charakterzeichnung seiner Hauptfiguren, die dadurch an Tiefenschärfe und Lebensnähe noch gewinnen. Die historische Durchdringung seines Stoffs in ihrer atmospärisch-hochintensiven Wirkung auf den Leser kommt der eines guten Sachbuchs sehr nahe.

Als Oppermann und Vogler während eines schweren Bombenangriffes gemeinsam im fürstlich bestückten Keller eines zu befragenden hochrangigen Parteimitglieds verschüttet werden und die beiden ungleichen Partner die Wartezeit bis zur ungewissen Rettung mit dem Genuss der dort gelagerten Lebensmittelvorräte und kostbaren Weine sowie dem Anhören der auch Musik verbotener Komponisten enthaltenden Schallplattensammlung überbrücken, deutet sich sogar die unwahrscheinliche Möglichkeit einer Art von Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Partnern an.

Oppenheimer blieb der Bissen Eisbein fast im Hals stecken. Wenn er so darüber nachdachte, dann war er in einer interessanten Lage. Er saß mit einem SS-Mann zusammen, verschüttet unter Tonnen von Geröll, und hörte sich ausgerechnet Musik von einem jüdischen Komponisten und einem linken Dichter an. Konnte man das als Wehrkraftzersetzung deuten? Nun, zumindest konnte Oppenheimer behaupten, das er hier unten keine anderen Schallplatten gefunden hatte. „Soldaten wooohnen, auf den Kanooonen“, krächzte es durch den Raum. Es dauerte nicht lang, und auch Vogler sang den Refrain mit.

Was Oppenheimer jedoch nicht ahnen kann: Vogler hat von seinem obersten Vorgesetzten längst den unmissverständlichen Befehl erhalten, seinen unstatthaften Kollegen nach erfolgreichem Abschluss des Falles persönlich zu liquidieren – wobei nach nationalsozialistischer Lesart Erfolg nicht unbedingt mit einer wahrheitsgemäßen Rekonstruktion des Tathergangs und der Überführung des tatsächlichen Mörders gleichzusetzen ist.

„Germania“ ist ein ausgesprochen intelligentes kriminalistisches Gedankenspiel im Stile von Philip Kerrs Berlin-Noir-Romanen, das mit zahlreichen authentischen Details, scharfsinnigen Beobachtungen und treffenden Analysen sowie im streng focussierten Rahmen einer geradezu nervenzerrend-spannenden Handlung ein vermutlich authentisches Bild der allerletzten, finalen Stufe des Auseinanderbrechens eines geschlossenen verbrecherischen Systems zeichnet, das nicht nur aufgrund seiner moralischen Verkommenheit und seines Absolutheitsanspruchs geradezu zwingend scheitern musste, sondern vor allem wegen eines von ihm verantworteten unvorstellbaren und schwer zu vergegenwärtigenden Maßes an Mordtaten, das in der Menschheitsgeschichte bis heute ohne jede Parallele ist.

„Germania“, erschienen bei Knaur, 538 Seiten, € 9,99

Freitag, 8. November 2013

9. November 1938


I. Herschel Grynszpan

Am 7. November 1938 gab der junge Hannoveraner Jude Herschel Grynszpan (1921-1942) in den Räumen der deutschen Botschaft in Paris fünf gezielte Pistolenschüsse auf den der NSDAP angehörenden Legationssekretär Ernst vom Rath (1909-1938) ab, der zwei Tage später seinen Verletzungen erlag – nach neuesten Erkenntnissen möglicherweise aufgrund von der seinem Zustand nicht angemessener ärztlicher Behandlung durch zwei von Hitler persönlich abkommandierte deutsche Ärzte. Diesen Zwischenfall nahmen die Nationalsozialisten auf infame Art und Weise zum Anlass, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 von zivil gekleideten Mitgliedern der SA und der SS landesweit brutale Aktionen gegen deutsche Juden zu inszenieren, die ein „spontanes Ausbrechen des Volkszorns“ im Sinne eines mittelalterlichen Pogroms suggerieren sollten und die Initialzündung zum Übergang von der rechtlichen Diskriminierung zur aktiven Verfolgung der deutschen Juden markierten. In dieser bitteren Nacht wurden von den Nationalsozialisten tausende Synagogen, Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe in Deutschland zerstört sowie ungefähr 400 Menschen ermordet oder in den Selbstmord getrieben. Die in den nächsten Tagen vollzogene verbrecherische Deportation von etwa 30.000 Juden in Konzentrationslager hatte ebenfalls Hunderte von Todesopfern zur Folge. Es ist von fundamentaler Bedeutung, immer wieder an dieses Datum zu erinnern. Herschel Grynszpan blieb in Frankreich ohne Prozess inhaftiert, wurde nach der Besetzung durch deutsche Truppen nach Deutschland überstellt und dort vermutlich spätestens Anfang 1943 ermordet.

Herschel Grynszpan nach seiner Festnahme



II. Abraham Sutzkever

Der im Januar 2010 im Alter von sechsundneunzig Jahren verstorbene Abraham Sutzkever, jüdischer Partisan und Überlebender des Wilnaer Ghettos, neben Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg Mitherausgeber des Schwarzbuchs über den Genozid an den sowjetischen Juden und Zeuge bei den Nürnberger Prozessen, gehört mit seinem sprachlich ebenso kraftvollen wie gedanklich sensiblen Werk nicht nur zu den produktivsten und literarisch bedeutendsten Lyrikern jiddischer Sprache überhaupt, sondern war mit der von ihm in Tel Aviv von 1946 bis 1995 herausgegebenen Zeitschrift „Di goldene Kejt“ (Die goldene Kette) auch ohne Zweifel einer der größten lebenslangen Förderer der jiddischen Dichtung überhaupt.

Abraham Sutzkever


Eine anlässlich seines 95. Geburtstags im Juli 2009 erschienene Anthologie seines beeindruckenden poetischen Werks in deutscher Übersetzung, die eine überaus repräsentative, sachkundig zusammengestellte Auswahl seiner Gedichte bis 1992 umfasst, war erstaunlicherweise in dieser Form ursprünglich gar nicht geplant gewesen, sondern zunächst nur als weniger umfangreiche poetische Beigabe zu seinem zeitgleich im selben Schweizer Verlag erschienenen erschütternden Prosabericht über das Wilnaer Ghetto „Wilner Getto 1941-1944“ gedacht.

Ein barfüßiger Wanderer auf einem Fels
im Abendgold
schüttelt den Staub der Welt von sich.
Aus dem Wald
fliegt ein Vogel auf
und fängt das letzte Stückchen Sonne weg.

Eine Weide am Fluß ist da auch.

Ein Weg.
Ein Feld.
Eine wimmelnde Wiese.
Geheime Schritte
hungriger Wolken.
Wo sind die Hände, die Wunder machen?

Was bleibt zu tun in dieser Stunde,
o meine tausendfarbene Welt?
Es sei denn
im Bettelsack des Windes
die rote Schönheit einsammeln
und sie heimbringen zum Abendbrot.

Ein Elend wie ein Berg ist da auch.


Die von dem renommierten Übersetzer und Spezialisten für mittelhochdeutsche Dichtung Hubert Witt kongenial teils gereimt übertragenen, teils in freie Metrik übersetzten achtzig Gedichte und Poeme führen dem Leser auf vorbildliche, absolut beeindruckende Art und Weise sehr anschaulich vor Augen, wie aus einem ausgesprochen talentierten jungen Dichter unter der leidvollen Erfahrung der nationalsozialistischen Verfolgung sowie des eigenhändigen bewaffneten Kampfes gegen die Besatzungstruppen ein wirklich großer Lyriker von internationalem Rang wurde.

Jüdische Widerstandskämpfer nach der Befreiung Wilnas durch die Rote Armee

Was an Sutzkevers Lyrik am meisten beeindruckt, ist seine vitale, trotz allem lebensbejahende Weltsicht, die in ihrem Streben nach poetischer Schönheit immer wieder herausragende, tief beeindruckende Metaphern für das geistige und physische Überleben im Angesicht des jegliche menschliche Maßstäbe sprengenden Mordens findet und damit letztlich auch Adornos unsinnige Ächtung der Poesie nach dem Holocaust ad absurdum führt.

Sing kein Trauerlied,
entehre die Trauer nicht.
Worte verraten.
Namen wandeln sich
ins Gegenteil.

Blick auf den Schnee,
beleuchte mit seiner Ruh
dein Erinnern.
Licht ist die Sprache deines Herzens.
Und du
bist neugeboren.

Streck deine Finger zum Schnee,
zu den kalten
Geweben.
Wecke in ihnen
das verborgene
Leben.


III. Maurice Bavaud

Der 9. November markiert auch den Jahrestag zweier gescheiterter Attentatsversuche auf das Leben Adolf Hitlers, die zwei mutige Einzeltäter während offizieller „Gedenkveranstaltungen“ der Nationalsozialisten anlässlich des Jahrestags von Hitlers gescheitertem Münchener Putschversuch vom 9. November 1923 durchzuführen geplant hatten. Während Georg Elsers (1903-1945) ausgeklügelte Zeitbombe im Münchener Bürgerbräukeller am 8. November 1939 Hitler nur um wenige Minuten verfehlte, kam der Schweizer Priesteranwärter Maurice Bavaud, dessen Schicksal einer breiten Öffentlichkeit in Deutschland immer noch zu wenig bekannt ist, während eines offiziellen Gedenkmarsches am 9. November 1938 gar nicht erst zum Abschluss, sondern musste seine Pläne, den Diktator zu ermorden, bis auf weiteres verschieben.

Georg-Elser-Sondermarke aus dem Jahr 2003

Nachdem er dem selbsternannten „Führer“ anschließend wochenlang hinterhergereist war, wobei er all seine Ersparnisse verbrauchte, wurde er auf der Rückreise nach Paris ohne Fahrschein als Schwarzfahrer verhaftet und aufgrund verdächtiger bei ihm gefundener Dokumente sowie seiner ebenfalls mitgeführten Waffe der Gestapo übergeben, die ihm unter Folter ein umfassendes Geständnis entpresste. Da der umstrittene Schweizer Botschafter Hans Frölicher (1887-1961) es ablehnte, sich für den Gefangenen einzusetzen, dessen Pläne er öffentlich als „verabscheuungswürdig“ kritisierte, wurde Bavaud in einem unrechtmäßigen Geheimverfahren kurzerhand zum Tode verurteilt und am 14. Mai 1941 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Seine Rehabilitation erfolgte erst Ende der 1950er Jahre.

Maurice Bavaud

Bemerkenswert sind die Attentatsversuche von Elser und Bavaud besonders deshalb, weil sie beide trotz ihres eher bescheidenen, kleinbrügerlichen Hintergrunds auf vollkommen eigenständige Art und Weise nach einer umfassenden persönlichen Analyse der politischen Umstände Ihrer Zeit unabhängig voneinander zu dem klaren, unumstößlichen Urteil gekommen waren, dass nur die Beseitigung Hitlers die schlimmen zu erwartenden Folgen seiner schändlichen Politik verhindern könne. Anders als die meisten ihrer gleichgesinnten Zeitgenossen richteten Elser und Bavaud aber auch ihr individuelles Handeln vollkommen auf das zu erreichende Ziel aus – und das verdient gerade in einem Land, in dem Widerstand in der der öffentlichen Wahrnehung weitgehend mit dem späten und zögerlichen militärischen Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 gleichgesetzt wird, weit mehr als unsere bloße Anerkennung.

„Gesänge vom Meer des Todes“, aus dem Jiddischen von Hubert Witt, erschienen bei Ammann, 191 Seiten, € 22,95

Dienstag, 5. November 2013

"Gerron" von Charles Lewinsky


Vielleicht etwas voreilig – wenn auch völlig zu Recht – hat die Literaturkritik Charles Lewinskys im Jahr 2006 erschienenen und seither bereits in zahlreiche Sprachen übersetzten Überraschungsbestseller, die epochale deutsch-jüdische Familienchronik „Melnitz“, als das unumstrittene Opus magnum des rastlos-kreativen literarischen Genies und versierten Stilisten bezeichnet – wie aber soll man ein Werk nennen, welches das erstgenannte an künstlerischer Strahlkraft, literarischem Ehrgeiz und Kunstfertigkeit noch übertrifft?

Vor der kleinen Fensteröffnung heben zwei Männer einen dritten hoch. [...] Er schiebt einen Zettel durch das Gitter. Ein Hilferuf. Oder ein Bericht über das, was mit uns geschieht. [...] Vielleicht, wenn die Leute wüssten, dass ich in diesem Zug sitze. Ihr Liebling. Der sympathische Dicke. Dass ich hier auf dem dreckigen Boden hocke, ein Bein angewinkelt, weil kein Platz da ist, um beide auszustrecken, den Rücken an eine Wassertonne gelehnt. Vielleicht würden sie dann reagieren. Aber die Filme, in denen ich mitgespielt habe, sind längst verboten, und Theateraufführungen haben die Leute schon vergessen, wenn sie an der Garderobe um ihre Pelze anstehen. Ich bin Vergangenheit. Selbst wenn sie meine gesamte Geschichte hinschrieben – es würde sie niemand glauben.

In den seit der Veröffentlichung von „Melnitz“ vergangenen Jahren hat sich der 1946 in Zürich geborene literarische Tausendsassa Charles Lewinsky mit virtuosen kleinen Fingerübungen wie der fabulierfreudigen Geschichtensammlung „Zehnundeine Nacht“ oder dem in der Schweizer Weltwoche erschienenen satirischen Fortsetzungsroman „Doppelpass“ die Zeit vertrieben, obwohl er da bereits intensive Recherchearbeiten für seinen neuen großen Roman „Gerron“ betrieb, der Anfang September 2011 endlich erscheinen konnte und seit vergangenem Monat nun auch als Taschenbuch vorliegt.



Lewinsky erzählt darin die denkwürdige, wahre, unglaubliche Geschichte des großen deutsch-jüdischen Schauspielers Kurt Gerron (1897-1944), des unfreiwilligen künstlerischen Leiters der von den Nazis im Konzentrationslager Theresienstadt befohlenen, makabren filmischen Propaganda-Farce „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“. Da außer den öffentlich bekannten Fakten über das Leben des Arztes, beliebten Schauspielers und Regisseurs nur wenig Privates herauszufinden war, hat der Autor um einige gesicherte biografische Eckpfeiler herum fiktive Erlebnisse und Begegnungen gruppiert, die – wie er im Interview betont – mit den bekannten Tatsachen nichts zu tun haben, ihnen aber auch nicht widersprechen.

Kurt Gerron (rechts) mit seinem Kabarett-Partner Siegfried Arno


Auf diese Weise entsteht ein fesselndes Psychogramm einer ebenso faszinierenden wie widersprüchlichen Künstlerpersönlichkeit, die nach dem Aufstieg zum Star und allseits umjubelten Rollen in der Welturraufführung der Dreigroschenoper am 31. August 1928 (als Tiger Brown) oder im legendären Marlene-Dietrich-Film „Der Blaue Engel“ (1930) an der ihm von den Nationalsozialisten gestellten wahnwitzigen letzten Aufgabe zu zerbrechen droht, sich ihr aber dennoch über die Selbstaufgabe hinaus bewusst stellt, nur um anschließend dennoch kaltblütig in Auschwitz ermordet zu werden: tragischerweise nur drei Tage, bevor die Vergasungen dort endgültig eingestellt wurden. Unvergesslich bereits die gespenstische Anfangsszene des Romans, in der Gerron von einem SS-Bürokraten „gebeten“ wird, den geplanten Propagandafilm über Theresienstadt für die Nazis zu inszenieren:

Mein größter Fehler? Ich glaube an die Inszenierbarkeit der Welt.

Lewinsky beweist in seinem furiosen Zeitroman erneut seine Ausnahmestellung innerhalb der deutschsprachigen Literatur: keine literarische Herausforderung scheint ihm zu groß, um sie nicht gerne anzunehmen und sie nicht mit Bravour, Witz und literarischem Tiefgang zu meistern. Man kann nur grenzenlose Bewunderung für einen Autor empfinden, der es nicht nur immer wieder schafft, sein Publikum zu überraschen, sondern dem es auch in jedem Satz, jedem Gedanken meisterhaft gelingt, gleichzeitig zugänglich, unterhaltsam und tiefgründig zu bleiben. „Gerron“ ist ohne Zweifel eines der ganz großen literarischen Ereignisse der letzten Jahre.
„Gerron“, erschienen bei dtv, 544 Seiten, € 12,90