Jerusalem

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Freitag, 28. Dezember 2012

„Braune Erde“ von Daniel Höra


In 2011 veröffentlichten die beiden Journalisten Astrid Geisler und Christoph Schultheis unter dem vielsagenden Titel “Heile Welten“ ein glänzend recherchiertes Buch über die im Verborgenen stetig wachsende gefährliche Parallelwelt der neuen Rechten in Deutschland mit ihren zahlreichen, den gängigen Klischees vom brutalen Neonazi scheinbar widersprechenden Äußerungsformen, die unter dem Anstrich zur Schau gestellter angeblicher Seriosität mit nicht geringem Erfolg zunehmend dazu beitragen, rechtsradikale Ideen wieder in der Mitte der deutschen Gesellschaft zu verankern. Aus den Erkenntnissen dieses wichtigen Buches sowie des gleichnamigen fortlaufenden Blogs der beiden Autoren hat sich der gebürtige Hannoveraner Daniel Höra („Gedisst“, 2011) zu einem fesselnden Jugendroman inspirieren lassen, der auf unterhaltsame Weise nicht nur umfassend und beispielhaft aufklärt, sondern auch das Zeug dazu hat, in Zukunft zur dankbaren Pflichtlektüre in deutschen Klassenzimmern zu werden.



Der fünzehnjährige geistig aufgeweckte Ben wächst nach dem Tod beider Eltern bei der Familie seiner Tante in einem trostlosen kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern auf, das seit der politischen Wende von 1989 unter den üblichen strukturellen Problemen leidet: seit der Auflösung der LPG gibt es kaum noch Arbeitsplätze und wer außer den Alten und Kranken nicht abgewandert ist, steht ohne feste Arbeit da:

Wer brauchte auch schon Unmengen von Busfahrern? Ich hatte den Eindruck, dass jeder zweite hier bei uns zum Busfahrer ausgebildet worden war. „Bütenow – Das Dorf der Busfahrer“ Das hätten wir aufs Ortsschild schreiben sollen, vielleicht wären dann Touristen gekommen.

Stattdessen kehrt unverhofft schon bald neues Leben im baufälligen Herrenhaus ein: „Fremde! Eine Frau, zwei Männer und drei Jugendliche“ haben das Haus gekauft und beginnen mit großem Elan nicht nur die dringend notwendige Renovierung des Hauses, sondern auch die heimliche ideologische Übernahme der in Lethargie gefangenen Dorfbewohner, die sie mit scheinbar harmlosen Aktivitäten wie der „uneigennütigen“ Instandsetzung des seit der Wende brachliegenden Dorfgemeinschaftshauses, Volkstanz- und Bastelkursen, Grillabenden sowie einer aufwendigen Sonnenwendfeier zu neuer unverhoffter Tatkraft mobilisieren.

Aufgrund eines Zufalls fungiert Ben von Anfang an als eine Art Kontaktmann zwischen den Neuankömmlingen und der Dorgemeinschaft, die er für ihre Teilnahmslosigkeit und Passivität kritisiert. Obwohl er grundsätzlich ein feines soziales Gespür hat, versagt dieses angesichts der zupackenden, und scheinbar herzlichen Art von Uta, Reinhold und Hartmut sowie deren Kindern Freya, Konrad und Gunter, die martialische Kapuzenjacken mit dem Aufdruck „Sommer, Sonne, Widerstand – Wir wollen leben!“ tragen und schon bald gemeinsam mit Ben den ehemaligen Truppenübungsplatz regelmäßig zu Geländespielen und Schießübungen nutzen sowie das brachliegende Gelände mit Metalldetektoren systematisch nach Patronenhülsen und intakter Munition durchsuchen.

Auch Freya fühlt sich zu Ben hingezogen und nimmt ihn zum heimlichen Fummeln mit auf ihr Zimmer und spielt ihm Lieder des von ihr vergötterten völkischen Liedermachers Oswald Morgenthau vor. Und während Ben unbewusst immer tiefer in den Sumpf der mit scheinbarer elterlicher Fürsorge kaschierten rechtsradikalen Ideologie hineinrutscht und gegenüber seinen Mitschülern und Verwandten immer wieder zahlreiche ebenso unwahrscheinliche wie unglaubwürdige Gründe erfinden muss, um die immer deutlicher zutage tretende menschenverachtende Weltanschauung der auf Naturheilkunde und Biokost schwörenden Neuankömmlinge zu „entschuldigen“, werden jene augrund ihres Erfolgs bei der Dorfbevölkerung und einer fehlenden Opposition immer mutiger und frecher – eine Bürgerwehr wird unter lautem Beifall gegründet und bald schon steht ein neues Schild an der Ortseinfahrt, das zwar nicht jeder im Dorf gutheisst, aber gegen das auch niemand etwas unternimmt:

Braunau 856 km, Paris 1406 km, Stalingrad 2643 km.

Als sich Ben allmählich bewusst zu werden beginnt, in welch gefährliche Gesellschaft er sich begeben hat – gefährlich für andere, aber auch gefährlich für ihn selbst – ist es schon fast zu spät und die Situation eskaliert auf tödliche Art und Weise.

Daniel Höra bedient sich für seinen hoch spannenden Jugendkrimi, der ohne Zweifel auch Erwachsene begeistern wird, eines legitimen kleinen Kunstgriffs: um dem Leser möglichst viele Aspekte aktueller rechtsradikaler Strategien vor Augen zu führen, lässt er seinen sympathischen Protagonisten die Phase des arglosen Mitläufertums und der freundschaftlichen Schönfärberei länger durchlaufen als angesichts der schon zu Beginn der Handlung sich nach und nach ergebenden Indizien bei einem intellektuell halbwegs normal veranlagten Jugendlichen unter normalen Umständen realistisch und logisch wäre. Doch gerade der Zwiespalt zwischen scheinbar positiven Anstößen für die Dorfgemeinschaft und der dahinter verborgenen brutalen und menschenverachtenden Ideologie ist in Daniel Höras Buch hervorragend eingefangen. Ach auf diese Weise wird klar: auch heute benötigen wir klare Sinne und ungetrübte Urteilskraft, um extremen Positionen wirkungsvoll zu begegnen.

„Braune Erde“, erschienen bei Bloomsbury, 303 Seiten, € 8,99

Dienstag, 18. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 7 – John Burnside


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„In hellen Sommernächten“ von John Burnside

Die seit einigen Jahren mit vorbildlicher verlegerischer Leidenschaft betriebene Erschließung des für sein virtuoses Werk in seiner sprachlichen Heimat vielfach ausgezeichneten schottischen Dichters John Burnside (geboren 1955) für den deutschsprachigen Leser ist nur ein eher prosaisches Anzeichen für die herausragende literarische Bedeutung dieses in Ton, Thematik sowie philosophischer Weltdurchdringung gleichermaßen unverwechselbaren urtümlichen Poeten, dessen Bücher sich durch eine selten gewordene direkte und intuitive Zugänglichkeit auszeichnen, welche sich auch bei oberflächlichster Lektüre jedem Leser sofort und unmittelbar erschließen dürfte:

                                   Wie ich wachst du manchmal
früh im Dunkeln auf
und glaubst du bist durch eine innere Landschaft
meilenweit gefahren...

Dabei ist es keineswegs selbstverständlich, dass es einem Lyriker von so hohem internationalen Rang wie Burnside auch in seinen Romanen scheinbar mühelos gelingt, seine poetische Weltsicht, seine vielschichtige, wandlungsfähige Sprache und seine typische Metaphorik auf die Bedingungen dieses anderen Genres zu übertragen. Erstaunlich nur, dass erst 2011 ein erster Auswahlband seiner Lyrik unter dem Titel „Versuch über das Licht“ in deutscher Übersetzung erscheinen konnte, nachdem zuvor bereits unter großem öffentlichen Interesse zwei seiner Romane sowie seine erschütternden, von der Literaturkritik gefeierten Erinnerungen „Lügen über meinen Vater“ ins Deutsche übertragen worden waren.

John Burnsides schwebend leichter, die dunklen Grenzbereiche zwischen Realität, Traum und Wahnsinn auslotender neuer Roman „In hellen Sommernächten“ führt uns in den nächtelosen arktischen Sommer einer kleinen abgeschiedenen Insel im äußersten Norden Norwegens und variiert in der darin zeitgemäß ausgestalteten Legende von der überirdisch schönen, Verderben bringenden Waldfee Huldra gekonnt ein Loreley-Thema aus dem norwegischen Sagenkreis. Die Abiturientin Liv lebt zusammen mit ihrer Mutter, einer international anerkannten bildenden Künstlerin, in der Abgeschiedenheit der nordnorwegischen Wildnis; als selbst gewählter, unwahrscheinlicher Vaterersatz fungiert der kauzige Nachbar Kyrre, ein unermüdlicher Bastler und Sammler von Elektroschrott, der das verträumte Mädchen oft stundenlang mit sagenhaften Geschichten aus der Gegend unterhält.



Als zu Beginn des arktischen Sommers innerhalb nur weniger Tage zwei ihrer Klassenkameraden auf mysteriöse Art und Weise ohne Anzeichen von Gewalteinwirkung ertrunken aufgefunden werden, stellt Kyrre die wirre Theorie auf, die Huldra habe die beiden jungen Männer in den Tod gelockt – ein abwegig irrationaler Gedanke, gegen den sich Liv intuitiv mit aller Kraft wehrt, obwohl auch sie insgeheim argwöhnt, die gleichaltrige, sexuell freizügige Maia könne etwas mit den unerklärlichen Todesfällen zu tun haben, da sie diese nur wenige Stunden zuvor noch gemeinsam mit den beiden Brüdern gesehen hatte.

Weitere unvorhergesehene Ereignisse bringen die Seele des sensiblen Mädchens in Aufruhr: in einem dringlichen Schreiben wird sie von der Lebensgefährtin ihres von der Mutter verschwiegenen Vaters, nach England zu kommen, da jener im Sterben liege. Und ein undurchschaubarer, schwermütiger Langzeit-Tourist nistet sich in Kyrres Ferienhaus ein, der sich zwar zunächst mit ihr selbst anfreundet, den sie aber schon bald darauf in allzu vertrauter Art und Weise immer wieder mit Maia am Strand beobachtet. Während sich in Livs von der „weißen“ Schlaflosigkeit ewig heller Sommernächte beflügelten Fantasie dunkle Ahnungen unvermeidlich scheinender herandrohender Tragödien zusammenbrauen und sie sich zunehmend verfolgt und beobachtet fühlt, weiß der Leser immer weniger, ob er den Sinneseindrücken der mit der urwüchsigen Kraft einer vollendeten Poetin ausgestatteten Erzählerin noch trauen kann. Wenn der Regisseur und profilierte Spezialist für „Risse im Gewebe der Welt“ David Lynch Romane schreiben würde, müssten diese in etwa so ausfallen wie John Burnsides grandioser Roman „In hellen Sommernächten“.

„In hellen Sommernächten“, aus dem Englischen von Bernhard Robben, erschienen bei Knaus, 381 Seiten, € 19,99

Mittwoch, 12. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 6 – Lisa-Maria Seydlitz


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„Sommertöchter“ von Lisa-Maria Seydlitz

Unter den wenigen Büchern des Jahres 2012, die mit Sicherheit in Erinnerung bleiben werden, darf eines zweifellos als das schönste gelten: Das bezauberndste literarische Debüt einer jungen deutschen Autorin seit langem stammt aus der Feder der erst sechsundzwanzigjährigen Absolventin des Hildesheimer Studiengangs Kreatives Schreiben, Lisa-Maria Seydlitz, geboren und aufgewachsen in Mannheim.

Als die langjährige Mitherausgeberin der ambitionierten jungen Literaturzeitschrift BELLA triste im Jahr 2008 als Stipendiatin am renommierten, jedoch vom Fachpublikum auch gerne als „Häschenkurs“ belächelten Klagenfurter Literaturkurs teilnehmen durfte, lernte sie dort den Lektor des Kölner DuMont-Verlages kennen, der sie schließlich zur drei Jahre währenden intensiven Arbeit an ihrem großartigen, im Februar erschienenen ersten Roman „Sommertöchter“ motivieren konnte. Zwar bekannte die begabte Autorin anlässlich der Veröffentlichung in einem Interview augenzwinkernd, sie fühle sich nunmehr „leergeschrieben“, dennoch hat sich ihre kreative Anstrengung vor allem aus Sicht des Lesers sehr ausgezahlt.

„Sommertöchter“ ist ein wunderbares, absolut berührendes, ebenso tieftrauriges wie herzensfröhliches, unbekümmertes und sommerlich leichtes Buch über die Suche einer jungen Frau nach dem verlorenen Glück ihrer unbeschwerten Kindheit und die Reise zu sich selbst. „Man erinnert sich nicht über Fotos oder Filmaufnahmen“, sagt eine Nebenfigur des Buches zu Juno, der zwanzigjährigen innerlich vereinsamten Protagonistin, die seit dem plötzlichen Tod ihres geliebten Vaters vor acht Jahren, der eigentlich ein sich seit langem andeutendes, langsames Verschwinden war, von einer tiefen Traurigkeit erfüllt ist und die nicht begreifen kann, warum die scheinbar unbeschwerte Idylle ihrer Kindheit im Grünen so plötzlich enden musste. 



Auch ihre Mutter erinnert sich nicht über Fotos – alle Aufnahmen, auf denen Junos Vater zu sehen war, hat sie ohne Ausnahme entsorgt, das gemeinsame Haus vor den Toren der Stadt noch am Todestag ihres Mannes zugunsten einer funktionalen Stadtwohnung aufgegeben. Aus der neuen Liebesbeziehung ihrer Mutter fühlt Juno sich ausgeschlossen, besonders nach der Geburt ihrer Halbschwester. Eines Tages jedoch erhält sie einen anonymen Brief aus Frankreich mit einem Foto von einem Fischerhaus in der Bretagne und den Worten:

„Liebe Juno, das Haus steht schon so lange leer. [...] Ob ich das Haus verkaufen wolle oder renovieren und an Touristen vermieten, lese ich, die Schrift sieht unsicher aus, als wüssten die Buchstaben und Wörter nicht, ob sie wirklich zusammengehören.“

Da ihre Mutter nicht bereit ist, mit ihr über den Inhalt des Briefes zu reden, obwohl sie offensichtlich maßgeblich zur Aufklärung beitragen könnte und sogar den Schlüssel des Hauses besitzt, macht sich Juno kurz entschlossen auf in die Bretagne, wo sie allerdings feststellen muss, dass bereits eine andere, etwa gleichaltrige junge Frau, die französische Kellnerin Julie, in dem Haus wohnt. Während sie mit Julie, dem gemeinsamen Nachbarn auf Zeit, einem deutschen Architekten, sowie der Restaurantbesitzerin Camille einen unbeschwerten Sommer verlebt, erinnert sie sich immer wieder auch an intensive Episoden aus ihrer Kindheit, an Tage im Freibad oder im Wildgehege mit ihrem Vater, seine für sie und ihre Mutter zunehmend angstbesetzte Abwesenheit während der langen Klinikaufenthalte und schließlich die Leere nach seinem Tod, der durch den radikalen Bruch der Mutter mit ihrem bisherigen Leben für die Zwölfjährige noch unverständlicher bleibt.

In der Konfrontation mit der Vergangenheit und den Erlebnissen mit Julie findet Juno schließlich einen hoffnungsvollen Ansatz, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien, ohne sie loslassen zu müssen. „Sommertöchter“ ist ein ganz großes, innerlich erfrischendes Stück Literatur, das zuweilen an die traurig-schönen Romane von Olivier Adam erinnert – man kann nur hoffen, dass die Autorin – entgegen ihrer Äußerung im Interview – noch lange nicht leergeschrieben ist.

„Sommertöchter“, erschienen bei DuMont, 208 Seiten, € 18,99

Montag, 10. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 5 - Patrick Roth


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.

„SUNRISE – Das Buch Joseph“ von Patrick Roth

Es gibt wohl keinen anderen lebenden Schriftsteller, dem es auf so genial-beeindruckende, mitunter gar im allerpositivsten Sinne überwältigende Art und Weise immer wieder scheinbar ganz mühelos gelingt, biblische Urlandschaften und Motive in der Fantasie des Lesers auferstehen zu lassen wie dem 1953 in Freiburg geborenen Patrick Roth in seinem aktuellen für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2012 nominierten Roman „Sunrise – Das Buch Joseph“ oder der diesem sprachmächtigen Hauptwerk furios den Weg bereitenden Riverside-Trilogie aus den 1990er Jahren.

Dabei würde der in seinem singulären Schreiben ebenso maßgeblich vom klassischen amerikanischen Film wie von der Philosophie Carl Gustav Jungs beeinflusste Schrifststeller sowohl dem Eindruck des scheinbar Mühelosen widersprechen wie auch der vorschnellen Diagnose, er beschreibe in seinen Büchern reale Landschaften der Bibel, wie wir sie heute noch in Israel/Palästina oder Jordanien vorfinden können: Denn die Landschaften, aus denen Patrick Roth so bravourös schöpft, liegen für gewöhnlich verborgen im kollektiven oder persönlichen Unbewussten der menschlichen Psyche und werden von Autor in einer für den Laien kaum zu ermessenden Anstrengung ans Licht gezogen, deren Handwerkszeug er ausführlich in seinen beiden bei Suhrkamp erschienenen Poetik-Vorlesungen beschreibt.

Sein opus magnum „SUNRISE“ ist die bislang ungeschriebene Geschichte eines der auch in der irritierenden Oberflächlichkeit seiner apostolischen Darstellung auffälligsten und damit im heimlich Verborgenen bedeutendsten männlichen Nebencharaktere des Neuen Testaments, der erstaunlicherweise in der christlichen Überlieferung kaum Erwähnung findet, obwohl er doch wie selbstverständlich das Kind aller Kinder als sein eigenes annahm, jenes Kind, ohne das das Christentum nicht wäre, obwohl die wahre Vaterschaft dieses Kindes heute wie zu biblischen Zeiten mehr als zweifelhaft erscheinen muss und auch die Geschichte der Mutter vor dem gewöhnlichen Hintergrund einer rationalen Weltsicht kaum bestehen kann.

Ich kenne einen Menschen, dessentwegen Himmel und Erde geworden sind, [...] der einst Herr eures Herrn war.“



Patrick Roth macht Joseph, den Jesus- und Gottesvater, ohne wenn und aber zum langmütigen Helden seines aufsehenerregenden sprachmächtigen Romans und folgt ihm, als einem zweiten „herrlichen Dulder“, bis in tiefste Tiefen von Vision, Vorsehung und Schicksal, bis ins mythische Dunkel der hebräischen Vorväter der biblischen Überlieferung, deren Abstammungslinie bis zum legendären ersten Menschen Adam hinabreicht. Der altsprachlich ausgebildete Autor beschreibt Joseph dabei als einen im modernsten Sinne visionären Menschen, der seinen Träumen und Gott in einem Maße vertraut, wie es gleichsam nur einem Menschen der Bibel anzustehen scheint. Eine in der jüdisch-osteuropäischen mystizistischen Bewegung des Chassidismus populäre und durch zahlreiche Vertonungen bis heute bekannte spirituelle Anrufung lautet:

Warum stürzt die Seele
aus erhabensten Höhen hinab
in den tiefsten Abgrund? -
Absturz und Aufstieg schaffen
und bedingen einander.

Diese erschütternde Erkenntnis scheint Patrick Roth wie in einem ebenso versierten und in jeder erdenklichen Hinsicht fundierten wie traum- und lebensgesättigten literarischen Kommentar bildmächtig auszuführen. Als sich sein Protagonist Joseph dem undenkbaren Gottesbefehl verweigert, jenes eine, größte und für einen liebenden Vater gänzlich unzumutbare Opfer erneut zu vollbringen, dem sich Abraham einst beugte, ohne es letztlich ausführen zu müssen, wird er in eine fesselnde Geschichte von Schuld und Verstrickung hineingezogen, der man sich als Leser nicht entziehen kann und an deren sämtliche Handlungstränge auf wunderbare Weise miteinander versöhnenden Ende man mit einer der beglückendsten und tröstlichsten Schlussszenen entschädigt wird, die die Literatur je hervorgebracht hat.

Einen absolut empfehlenswerten Einstieg in Patrick Roths faszinierendes Werk bietet die Komplettlesung des als glänzender Vorleser bekannten Autors, die seit heute im Rahmen der Sendereihe „Fortsezung folgt“ täglich bis zum 29. Januar in 33 Folgen auf SWR-2 ausgestrahlt wird.

"SUNRISE - Das Buch Joseph", erschienen bei Wallstein, 509 Seiten, € 24,90

Mittwoch, 5. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 4 – Julie Otsuka


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„Wovon wir träumten“ von Julie Otsuka

Das ist Amerika, sagten wir uns, wir müssen uns keine Sorgen machen. Und wir irrten uns.“ So lakonisch beginnt in Julie Otsakas großartigem kleinen, poetischen Roman „Wovon wir träumten“ über japanische Immigrantinnen in den USA, der Anfang des Jahres zu Recht mit dem renommierten PEN/Faulkner Award ausgezeichnet wurde, für zahlreiche japanische Frauen zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts der Eintritt in ein neues, vermeintlich besseres Leben.

Wenn du hier im Dorf bleibst, hatten sie uns gewarnt, wirst du niemals heiraten.“ Denn während es seit dem im Jahr 1882 in Kraft getretenen sogenannten „Chinese Exclusion Act“ zunächst bedeutende, von der amerikanischen Industrie geförderte japanische Einwanderungswellen in die USA gab, um den vom Staat verordneten Ausfall chinesischer Arbeiter zu kompensieren, durften ab 1907 lediglich noch die Ehefrauen von zu diesem Zeitpunkt bereits in den USA ansässigen japanischen Einwanderern einreisen, worin clevere Heiratsvermittler beiderseits des Pazifiks ein einträgliches Geschäft witterten, während viele junge unverheiratete Frauen gerne die Chance ergriffen, den bitteren Lebensbedingungen in ihrer Heimat zu entkommen.



Julie Otsuka, 1962 geboren, in Kalifornien aufgewachsen und selbst Kind japanischer Einwanderer, bedient sich in ihrem Roman eines sehr einfachen, aber höchst wirkungsvollen, den Leser nachhaltig beeindruckenden Stilmittels, um die kollektive Erfahrung einer ganzen Generation von Einwanderinnen zu beschreiben, indem sie von der ersten Seite an mit unfehlbarer Konsequenz in der ersten Person Plural erzählt. Dabei schafft sie es scheinbar mühelos, dieses große „Wir“ trotz aller von ihr beschriebenen individuellen Unterschiede bis in die Gegenwart reichen zu lassen und uns als scheinbar Unbeteiligten die alles andere als selbstverständliche Erkenntnis heischende Geste abzuringen, dass wir uns nur allzu gerne und ohne jeden Vorbehalt ganz mit ihren Protagonistinnen und ihren universellen Erfahrungen identifizieren, die auch wir aus unserem Leben wiederzuerkennen meinen.

Denn die unschuldig-aufregenden Träume, Ängste und Hoffnungen, die die jungen Mädchen noch auf der Überfahrt wägen, während sich für manche von ihnen bereits abzeichnet, dass sich das Leben als viel reicher, aber auch viel bitterer erweisen könnte als man es ihnen beigebracht hat, werden sich nahezu ohne Ausnahme nicht erfüllen. Die Männer, die sie in Kalifornien erwarten, sind keine Fabrikbesitzer, Rechtsanwälte und Ärzte, sondern Feldarbeiter, Tellerwäscher und Hilfskräfte jeder Art, die sie gleich in der ersten verspäteten „Hochzeitsnacht“ auf so vielerlei verschiedene Art „nehmen“, dass Julie Otsuka für die Beschreibung dessen ein ganzes kunstvolles Kapitel von nicht weniger als vier Seiten einfügt.

Ihr Leben wird sich als hart und desillusionierend erweisen, aber gerade als sich manche von ihnen dennoch nach Jahrzehnten endlich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet haben, schlägt die Weltgeschichte zu und Nazi-Deutschlands Verbündeter Japan bombardiert Pearl Harbor, was die USA zur Deportation von geschätzten 120.000 japanischen Immigranten führt. Gerade auch diese Ereignisse beschreibt die Autorin auf überaus eindringliche, noch lange im Gedächtnis des Lesers nachwirkende Art und Weise, wodurch unwillkürlich Parallelen zur Judendeportation in Mitteleuropa durchscheinen, was sich im letzten Kapitel noch verstärkt, denn hier verlässt Julie Otsuka schließlich die Sicht ihrer Protagonistinnen, nicht aber das kollektive „Wir“ – denn hier erzählen nun die zurückgebliebenen weißen Amerikaner von jenem schrecklichen unleugbaren Loch, das die Deportierten in ihrem Bewusstsein und in ihrem Leben zurückgelassen haben. „Wovon wir träumten“ ist ein großartiger inspirierender Roman, der Geschichte als Vorbedingung und universellen Teil der Gegenwart auf geradezu vorbildliche Art und Weise erfahrbar macht.

„Wovon wir träumten“, aus dem Amerikanischen von Katja Scholtz, erschienen bei mare, 159 Seiten, € 18,-

Montag, 3. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 3 – Nikos Kavvadias


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„Die Schiffswache“ von Nikos Kavvadias

„Erwachsene weinen nicht. Trotzdem ist da ein Knoten, der aufsteigt, oder eine Schlinge, die einen würgt. Genau das ist es, was Menschen an Land dazu treibt, Bücher zu schreiben, und Seeleute schnitzen Segelschiffe, takeln sie auf und stecken sie in Flaschen, oder sie lassen sich ihren Körper tätowieren. Wenn die Bücher gut, die Segelschiffe sauber gearbeitet und die Tätowierungen schön bunt sind, dann...“

Ja, dann tragen sie die ganze Welt in sich, spiegeln das menschliche Leben und Streben in all seinen Facetten, unterstützen uns darin, Sinn in unserem Sein zu erkennen und ein ums andere Mal auch unser ebenso notwendiges wie unvermeidliches Scheitern anzuerkennen und in ein tieferes melancholisch-vorurteilsfreies Begreifen zu verwandeln, das uns innerlich so sehr zu stärken vermöchte, dass wir meinen, jeden möglicherweise noch auf uns zukommenden Schmerz ertragen zu können.

Es ist ein höchst merkwürdiges Phänomen, dass manche der wichtigsten, prägendsten und tiefste Wahrheiten aussprechenden Werke der Literatur schon bald, nachdem sie erstmals erklungen sind, wieder in der Versenkung verschwinden, noch bevor sie ihr verdientes Publikum gewonnen haben, so als wäre die Zeit für universelle Wahrheiten noch nicht reif oder als wollten diese Wahrheiten nicht gehört werden. Damit der einzige Roman des in seiner Heimat Griechenland bis heute verehrten und von vielen seiner Landsleute auswendig zitierbaren Lyrikers Nikos Kavvadias (1910-1975) im Jahr 2001 überhaupt erstmals in deutscher Sprache erscheinen konnte – fünfundzwanzig Jahre nach dessen Tod an Land, was den leidenschaftlichen Seemann, der beinahe sein ganzes Leben als Funker auf verschiedenen Überseeschiffen verbracht hat, sehr geschmerzt haben muss – war die erste und wichtigste Aufgabe der Herausgeber die lückenlose Klärung der sich als völlig unübersichtlich darstellenden Autorenrechte. 



Und obwohl der zunächst unter dem Titel „Die Wache“ erscheinende Roman von der Kritik ausnahmslos gefeiert wurde, waren die Verkäufe offenbar so mäßig, dass die auf dem heutigen Buchmarkt naturgemäß der Originalausgabe in absehbarer Zeit immer folgende und somit unvermeidlich scheinende Taschenbuchausgabe nie realisiert wurde. Umso schöner und verdienstvoller, dass der kleine Schweizer Unionsverlag sich nun die Taschenbuchrechte dieses kleinen Meisterwerkes für seine erfolgreiche Reihe „Meeresromane“ gesichert hat und somit dem vielleicht ehrlichsten, bewegendsten und wahrhaftigsten Seefahrerroman aller Zeiten eine neue Chance bietet, mit seinem unermesslichen Potenzial als Generationen-Lieblingsbuch auch hierzulande endlich sein verdientes, begeistertes Publikum zu finden.

Ende der 1940er Jahre durchpflügt ein altes griechisches Frachtschiff das südchinesische Meer, an Bord Waffen für die nach der Macht strebenden chinesischen Kommunisten. Während der Wache an Deck unterhalten sich die griechischen Matrosen über ihr Leben, ihre Träume, ihre Taten und Untaten. Nikos Kavvadias’ Buch ist eine große wunderbare Elegie in der Sprache eines vollendeten Poeten über das harte Leben auf See, Einsamkeit und Entbehrungen, Geheimnisse und Verbrechen – und nicht zuletzt über die unerfüllte Liebe zu schönen Frauen: Ehefrauen, Geliebten, Müttern, Schwestern und Huren. Als „Die Schiffswache“ erstmals in französischer Sprache erschien, riet ein begeisterter Kritiker den Lesern seiner Zeitung: „Das Buch lässt nicht los. Keinen einzigen Moment, das garantiere ich. Eine Seltenheit. Auf einmal zu verschlingen. Und in mehreren Exemplaren zu kaufen. Für Ihre Freunde.“ Dem ist nichts hinzuzufügen – „Die Schiffswache“ ist ein Meisterwerk der Weltliteratur, dem man gar nicht genug Leser wünschen kann.

„Die Schiffswache“, aus dem Griechischen von Maria Petersen, erschienen im Unionsverlag, 275 Seiten, € 12,95