Jerusalem

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Montag, 20. April 2015

„Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa“ von Fabrizio Gatti

Angesichts der unvorstellbaren humanitären Katastrophe im Mittelmeer, die seit letztem Oktober nach Beendigung der vom italienischen Staat selbständig getragenen Rettungsmission Mare Nostrum erwartungsgemäß weiter eskaliert ist, scheint es jenseits der in viele verschiedene Richtungen beliebig interpretierbaren sogenannten „Schuldfrage“ absolut unverzichtbar, sich ein wahrheitsgemäßes, vorurteilsfreies Bild von den politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Umständen zu machen, die zu dieser untragbaren Situation geführt haben, sie kontinuierlich begünstigen sowie direkt oder indirekt weiter dazu beitragen, dass sie nicht nachhaltig auf bestmögliche Art und Weise bereinigt werden kann. Auch wenn eine eingehende unvoreingenommene Beschäftigung mit der vielschichtigen Problematik und ihren Ursachen sowohl in den Herkunftsländern der Flüchtlinge als auch in den europäischen Staaten grundsätzlich mehr Fragen aufwirft als praktikable Lösungsansätze anzubieten scheint, steht es vollkommen außer Zweifel, dass die wesentliche gegenwärtige Konsequenz sämtlicher Mitgliedsstaaten der EU nichts anderes sein kann als den Betroffenen schnell und unproblematisch Hilfe zu leisten.


Es gibt wohl kaum ein Sachbuch, das die Flüchtlingsproblematik unmittelbarer, treffender und ausführlicher aus der Perspektive der Betroffenen zu schildern versteht als Fabrizio Gattis großartige, bereits Anfang 2010 erschienene und seitdem vielfach ausgezeichnete literarische Reportage „Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa“. Der mutige Autor, ein langjähriger Redakteur des Corriere della Sera und Chefreporter des L'Espresso, dessen Arbeitsweise als Enthüllungsjournalist mit unterschiedlichen falschen Identitäten in vielerlei Hinsicht dem aufklärerischen Ansatz Günter Wallraffs ähnelt, geht dabei aber in doppelter Hinsicht sehr viel weiter als sein deutscher Kollege, und es scheint kaum zu viel versprochen, sein packendes Buch über die entbehrungsreiche, lebensgefährliche Fluchtroute afrikanischer Flüchtlinge quer durch den Kontinent sogar in die Tradition der großen Abenteuerreisenden von Sir Francis Burton bis zu Reinhold Messner einzuordnen.

Der Kopf ist schon seit einigen Monaten unterwegs. Der Bauch und seine Ängste auch. Aber jeder Aufbruch hat seinen Ort in Raum und Zeit. Die Trennlinie zwischen dem Vorher und Nachher […] Sacht legt sie die rechte Hand aufs Herz, auf die Lippen und die Stirn in einer fließenden Bewegung, bis sie schließlich die Handfläche ganz öffnet. Es ist der eleganteste Abschiedsgruß, den uns die Völker der Wüste überliefert haben. Du würdest gern noch etwas sagen. Stehen bleiben. Umkehren. Doch es ist zu spät.

Die Zeit der großen Expeditionen und individualistischen Abenteurer ist ohne Frage schon lange vorbei, sämtliche Extreme der Natur sind ausführlich kartiert und vermessen, wer heute noch an die Grenzen des Menschenmöglichen gehen will, muss versuchen, sich den vom Menschen selbst geschaffenen Extremen in Form der zahlreichen sozialen und politischen Brennpunkte unserer Erde anzunähern. So darf man mit einigem Recht behaupten, dass Fabrizio Gatti mit seinem packenden, elektrisierenden Buch ein vollkommen neues literarisches Genre geschaffen hat, nämlich indem er sein Leben wie seine auf so vollkommen andere Art und Weise abenteuerlustigen Vorgänger einem kaum abschätzbar hohen individuellen Risiko aussetzt, aber deren wesentlichen, legitimen Antrieb der egomanen Selbstbestätigung durch die zeitgemäßere Motivation des empathischen Mitgefühls und der mitmenschlichen Solidarität ersetzt und folglich mit umso größerer Berechtigung von einem ebenso faszinierenden wie nachhaltig verstörenden „sozialen Abenteuer“ erzählen kann.

Ein Mensch, der weinend auf der Straße läuft, ist im Stadtbild von Agadez nichts Besonderes. In der Vergangenheit gab es zahlreiche Hungersnöte und Staatsstreiche. Menschen, die verhungerten. Jetzt kommen die Abgeschobenen hinzu, die die Wüste überlebt haben und nichts weiter besitzen als ihre Armut und ihre Würde.

Fabrizio Gattis über den eindrucksvollen Zeitraum von mehr als einem Jahr gewissenhaft vorbereitete, gefährliche Reise nach und quer durch Afrika beginnt spektakulär, geradezu expositionsartig im Sinne einer klassischen Sinfonie: sein Flugzeug nach Dakar, der Hauptstadt des Senegal als Ausgangspunkt seiner viele Monate dauernden Odyssee als unterprivilegierter namenloser Flüchtling, kann erst mit dreistündiger Verspätung abheben, da ein abzuschiebender Afrikaner an Bord seine unwiderruflich letzte Chance auf eine kurzfristige Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung in Italien nutzt, indem er einen massiven psychotischen Anfall vortäuscht, nur um wunschgemäß von der italienischen Polizei verhaftet, wieder von Bord gebracht und zurück in seine Abschiebezelle gesperrt zu werden. In Dakar, auf der Fahrt vom Flughafen ins Hotel steigt eine einheimische Prostituierte in Gattis Taxi und verlangt mit äußerstem Nachdruck, dass er sie für diese Nacht mit auf sein Zimmer nehmen solle. Und am zweiten Tag bittet eine Kellnerin den vollkommen fremden Europäer, sie als Geliebte mit in seine Heimat zu nehmen.

Fabrizio Gatti

Ebenfalls noch in Dakar erfährt er, dass die hiesige italienische Botschaft jährlich nur etwa zweitausend Visa ausstellt, dass ein „Boss“ jedoch gegen die Zahlung von umgerechnet fünftausend Euro illegale Visa zu organisieren vermag, eine Investition, die bei einem durchschnittlichen Jahresgehalt von deutlich weniger als zweitausend Euro vollkommen utopisch erscheint. Der unwägbarste, gefährlichste und verzweifeltste Weg nach Europa jedoch, der von Fabrizio Gatti beschrittene, kostet bestenfalls zweihundertfünfzig Euro für die Fahrt von Dakar bis Tripolis, zuzüglich tausend Euro für die Überfahrt nach Italien, im schlimmsten Fall jedoch nicht weniger als das Leben. Wer es trotz aller vom Autor minutiös geschilderten Entbehrungen auf überfüllten und schrottreifen Lastwagen über Sandpisten durch die Gluthitze der Sahara schafft, schikaniert und beraubt von Räubern, Al-Qaida-Kämpfern sowie korrupten Polizisten oder Militärs, wer schließlich sogar die gefährliche Fahrt übers Mittelmeer in dafür völlig ungeeigneten Booten überlebt, muss in aller Regel die Internierung in überfüllten Auffanglagern erdulden und die Abschiebung in die alte Heimat über sich ergehen lassen. Fabrizio Gattis erschütternde Beschreibung des verdrängten Schattens unserer Zivilisation aus der Perspektive eines unschuldig darunter Leidenden gehört zweifellos zu den bemerkenswertesten persönlichen Abenteuern und literarischen Leistungen unserer Zeit. Für die Auseinandersetzung mit der derzeitigen humanitären Katastrophe ist sie ein absolut unentbehrliches Dokument.

„Bilal“, aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß, erschienen als Rowohlt Taschenbuch, 536 Seiten, € 11,99

Dienstag, 14. April 2015

„Stadt der Verlorenen von Liad Shoham“

Seit den ebenso aufregenden wie sensiblen, auch im direkten internationalen Vergleich außergewöhnlich tiefschürfenden kriminalistischen Milieustudien der verstorbenen Literatur- und Filmwissenschaftlerin Batya Gur (1947-2005), in denen die langjährige streitbare Kolumnistin der liberalen Tagesezeitung Ha'aretz auf bis dahin beispiellose Art und Weise in die unterschiedlichsten, zum Teil hermetischen sozialen und beruflichen Sphären der israelischen Gesellschaft eingedrungen ist, hat sich der Kriminalroman in Israel zu einem anspruchsvollen, vielseitigen und abwechslungsreichen literarischen Genre entwickelt, deren aufregendste junge Protagonisten in den letzten Jahren zunehmend und mit wachsender Begeisterung auch von einem deutschsprachigen Publikum entdeckt werden können.


Wenn wir diese durch Batya Gur maßgeblich mit angestoßene erfreuliche Fortentwicklung des israelischen Kriminalromans genauer betrachten, scheint es sogar kaum zu hoch gegriffen zu behaupten, dass uns zwei junge, in den 1970er Jahren geborene begabte Autoren wie Liad Shoham und Dror Mishani, die den Kriminalroman vor allem als literarisch hoch entwickeltes, eigenständiges Genre und weniger als oberflächliche Erscheinungsform der Unterhaltungsliteratur begreifen, mittlerweile einen sehr viel direkteren, realistischeren und somit auch schmerzvolleren Blick auf die israelische Gesellschaft und ihre zum Teil unlösbar scheinenden (Dauer-)Konflikte anbieten als so hoch angesehene „ernsthafte“ Schriftsteller wie Amos Oz, David Grossman oder Abraham B. Jehoschua, die sich trotz ihrer rückwärtsgewandten, streng zionistischen Weltsicht bis heute gern in der wohlkalkulierten Pose des Friedensschriftstellers gefallen.

Die Leute wollten das einfach nicht kapieren. Rassismus und Vorurteile waren zu tief in den Menschen verwurzelt und wurden vom Staat und diesem gräßlichen Knesseth-Abgeordneten, Ehud Regev, mit einer ununterbrochenen Hetzkampagne gegen die „gefährlichen Flüchtlinge“, die „Alkoholabhängig“ und „Gewalttätig“ seien und „Seuchen“ ins Land bringen würden, noch geschürt. Wie sollte man denen begreiflich machen, dass es sich um Menschen handelte, die von einem normalen, ruhigen Leben träumten, die ihr Zuhause und ihre Heimat nicht zuletzt verlassen hatten, um der Gewalt zu entkommen?

Dieser ungewohnte Ansatz trifft in besonders vorbildlichem Maße auch auf Liad Shohams neuesten Roman „Stadt der Verlorenen“ zu, in dem der praktizierende Rechtsanwalt nach der großen, berechtigten Aufmerksamkeit für seinen ersten ins Deutsche übersetzten Thriller„Tag der Vergeltung“ in einer hoffnungslos fehlgeleiteten, offiziell im Grunde gar nicht existierenden Flüchtlingspolitik einen weiteren schwarzen Fleck der israelischen Gesellschaft identifiziert und aus den stetig wechselnden Perspektiven seiner zahlreichen unterschiedlichen Protagonisten kenntnisreich und erzählerisch virtuos von allen verschiedenen Seiten zu beleuchten versteht. Hintergrund seines hoch spannenden neuen Buches ist der regelmäßige illegale Zustrom von ostafrikanischen Flüchtlingen über die ägyptische Grenze, die sich – vor allem aus Eritrea und dem Sudan kommend – im wirtschaftlich hochentwickelten Israel ein besseres Leben ohne die in ihren Herkunftsländern herrschende Gewalt und Armut erhoffen.

Warum? Weil es um Geld ging. Die Flüchtlinge verließen ihre Staaten aus Geldnot, und in Israel fanden sie Aufnahme, weil die einheimische Wirtschaft sie nötig hatte. Der Staat brauchte die Holzhacker und Wasserträger als Knechte. Die Wirtschaft schrie um Hilfe nach Leuten, die in den Restaurants das Geschirr spülten, die Straßen säuberten, Erdbeeren ernteten, eben all jene Arbeiten erledigten, mit denen die Israelis sich nicht abgeben wollten. Entwickelte Volkswirtschaften gründeten auf Sklaven und die gab e in der Dritten Welt im Überfluss.

Rund um den einstmals legendären, ehemaligen zentralen Busbahnhof der Metropole Tel-Aviv ist innerhalb der letzten zwanzig Jahre ein Elendsquartier unvorstellbaren Ausmaßes entstanden, das notgedrungen von all jenen bewohnt wird, die in Israel aufgrund ihrer nichtjüdischen Herkunft als Bürger zweiter oder dritter Klasse gelten. Nachdem die streitbare politische Aktivistin Michal Poleg, eine aufgrund ihres cholerischen Temperaments stets übermotivierte ehrenamtliche Mitarbeiterin einer wohltätigen Nichtregierungsorganisation, die sich selbstlos um die Belange der afrikanischen Flüchtlinge kümmert, bereits wiederholt von Handlangern der Mafia mit dem Tod bedroht worden ist, wird die alleinstehende Mittdreißigerin eines Morgens in ihrer kleinen Wohnung ermordet aufgefunden. Der Tatverdacht fällt aufgrund rassistischer Ressentiments bei Polizei und Bevölkerung zunächst auf einen ihrer erklärten Schützlinge, den sensiblen, künstlerisch begabten Eritreer Gabriel Takela, der von einem Nachbarn Michals beim Verlassen ihrer Wohnung beobachtet worden war.

Tel Aviv, ehemaliger zentraler Busbahnhof/Foto: Udi Steinwell

Itai Fischer, dem besonnenen Direktor der unabhängigen Flüchtlingsorganisation, ist von Anfang an klar, dass Gabriel nicht der Täter gewesen sein kann, da dessen einziger Antrieb die Suche nach seiner während der Flucht im Sinai von Beduinen verschleppten und mit großer Wahrscheinlichkeit in die Prostitution gezwungenen jüngeren Schwester Lidi ist. Während Itai aus eigenem Impuls Kontakt zur Polizei aufnimmt, um Gabriel zu entlasten, darf die linkische junge Ermittlerin Anat Nachmias, stellvertretende Leiterin einer Sonderkommission, aufgrund einer Dienstreise ihres Vorgesetzten und gegen zahlreiche interne Widerstände zum ersten Mal eine Morduntersuchung leiten und stürzt sich mit großer Energie, bewundernswerter geistiger Unabhängigkeit und unkonventionellen Methoden in die undurchsichtig scheinenden Mordermittlungen. Für den Leiter der obersten Polizeibehörde wie für die meisten ihrer machohaften männlichen Kollegen scheint der Fall jedoch bereits eindeutig: nur der flüchtige „kleine Nigger“ komme als Täter in Frage – sobald dieser verhaftet werden könne, sei der Fall gelöst.

Nachmias, versteh doch. Ein Mord versetzt den gesamten Apparat in Aufruhr. Vor allem unsere Herren Direktoren. Ihnen sitzen alle im Nacken: der Bereichsleiter, der oberste Polizeichef, der Minister, die Medien, die Familie des Opfers. Speziell bei einem Fall wie diesem, da Politiker wie Regev sich permanent in die Ermittlungen einmischen, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Der einzige Weg, um ihnen den Druck zu nehmen, besteht darin, einen Verdächtigen zu präsentieren. Sobald man den möglichen Täter in Gewahrsam nimmt, glätten sich die Wogen. Der Druck lässt nach. Haben sich die Gemüter beruhigt, kann man mit den Ermittlungen beginnen. Du hast exakt das Gegenteil gemacht. Statt die Wogen zu glätten, hast du einen Sturm ausgelöst.“

Uns Lesern bietet Liad Shoham in einer weiteren Nebenhandlung aber auch die maßlosen Selbstzweifel des karrierebewussten Staatsanwalts Jariv Ninio an, des freiwilligen Erfüllungsgehilfen eines schamlos gegen die angebliche Zerstörung des jüdischen Charakters seines Staates hetzenden nationalistischen Politikers. Der moralisch zerrüttete Jariv, ein ehemaliger Liebhabers der Ermordeten, hatte diese in volltrunkenem Zustand in der Mordnacht aufgesucht, um sie wegen ihrer kürzlich gegen ihn eingereichten Anzeige zur Rede zu stellen. In dieser hatte sie ihn zu Recht beschuldigt, ein geheimes Gutachten des Außenministeriums unterschlagen zu haben, das abgeschobenen Flüchtlingen in ihren Heimatländern nur äußerst geringe Überlebenschancen attestiert. Jariv war am nächsten Morgen mit massiven Gesichtsverletzungen aufgewacht und konnte sich an keinerlei Details mehr erinnern. War er selbst womöglich der Täter? Und welche Rolle spielt der joviale „Banker“ Boaz Javin, der Finanzchef des allmächtigen und stets den Überblick bewahrenden Mafiapaten Schimon Faro, mit dem sich die Ermordete kurz vor ihrem Tod ausdrücklich angelegt hatte?

Liad Shoham/Foto: Oren Day

„Stadt der Verlorenen“ ist besonders im virtuosen und ausgesprochen überzeugend gestalteten stetigen Wechsel der Erzählperspektiven ein überdurchschnittlich fesselnder, atemlos zu lesender, glänzender Kriminalroman, bei dem es dem Autor scheinbar mühelos gelingt, die psychologischen Eigenarten und inneren Konflikte sowohl der positiven Identifikationsfiguren wie auch der zahlreichen Tatverdächtigen gleichermaßen überzeugend zu skizzieren und hervorzuheben. Er zeichnet dabei das Bild eines von zahlreichen Ressentiments behafteten und von den aktuellen Realitäten überforderten Staates, dem es – wenn auch aus teilweise nachvollziehbaren Gründen – angesichts der zahlreichen Herausforderungen der Moderne nicht gelingt, eine nachhaltige Abkehr vom klassischen Nationalstaat zu vollziehen, welche den Herausforderungen der Gegenwart in vollem Umfang Rechnung zu tragen vermag. Bemerkenswert, dass der Autor dabei nicht Partei für eine bestimmte Sichtweise ergreift, sondern lediglich für die Sache an sich: einen angemesseneren politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der Flüchtlingsproblematik.

„Stadt der Verlorenen“, aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch, erschienen bei DuMont, 412 Seiten, € 9,99