Jerusalem

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Donnerstag, 22. Januar 2015

„Pilatus und Jesus“ von Giorgio Agamben

Die verfeinerten Problemstellungen der Rechtsgeschichte und -philosophie gehören in aller Regel nicht unbedingt zu den Glanzpunkten klassischen wissenschaftlichen Strebens nach Erkenntnis, die auch heute noch beim Außenstehenden größeres oder gar nachhaltiges Interesse zu wecken vermögen. Dass aber einzelne Fragen, mit denen sich Rechtshistoriker gemeinhin mit befremdlicher subtiler Vehemenz zu beschäftigen vermögen, auf den interessierten Laien durchaus spannend, unterhaltsam oder sogar intellektuell anregend wirken können, zeigt der italienische Philosoph Giorgio Agamben in seinem jüngst in deutscher Übersetzung erschienenen, kurzen, aber äußerst prägnanten und erhellenden Essay über die vielschichtige wechselseitige Beziehung zwischen Pilatus und Jesus auf ebenso anschauliche wie packende Art und Weise.


Dabei kommt dem 1942 in Rom geborenen vieldiskutierten Inhaber zweier renommierter philosophischer Lehrstühle an der Universität von Venedig sowie dem Collège international de philosophie in Paris in seinem ehrlichen Bemühen um umfassende Durchdringung des gewählten Stoffes ohne Zweifel auf besonders hilfreiche Art und Weise die billige und bequeme Tatsache zu Gute, dass er bei seinen in der europäischen Kultur verorteten Lesern ein außergewöhnlich großes, geradezu selbstverständlich scheinendes, gleichsam „natürliches“ Vorwissen voraussetzen darf, da der christliche Glaube als gemeinsamer identitätsstiftender kultureller Hintergrund Europas ohne den endgültigen Richterspruch durch die historisch verbürgte Person des römischen Statthalters im neutestamentarischen Palästina, Pontius Pilatus, über den wegen unklarer Vorwürfe vom Synhedrion vor Gericht gestellten Jesus vollkommen undenkbar wäre, wie Agamben gleich zu Beginn seines Essays unmissverständlich klarstellt: Pilatus ist aus christlicher Sicht nicht weniger als der unerlässliche Erfüllungsgehilfe der Prophezeiung.

Der Prozess Jesu ist ein Schlüsselmoment der Menschheitsgeschichte, in dem sich die Ewigkeit in einem entscheidenden Augenblick mit der Geschichte verschränkt. Dringlich stellt sich die Frage, wie und warum diese Verschränkung von Zeitlichem und Ewigem, Göttlichem und Menschlichem die Form einer κρίσις, eines Gerichtsverfahrens angenommen hat.

Dabei gibt es zahlreiche scheinbar paradoxe Widersprüche im Gerichtsverfahren Jesu, die es uns nicht nur erschweren, die zahlreichen zitierten Quellen aus der Apostelgeschichte, apokryphen Texten sowie außerbiblischen Überlieferungen mit objektiver Logik zu betrachten, sondern die im Sinne des Römischen Rechts sogar eine grundsätzliche Illegitimität des Verfahrens im Allgemeinen sowie des Urteilsspruches im Besonderen anzudeuten scheinen. Vor allem die irritierende Tatsache, dass hier ein weltliches Gericht über einen Sachverhalt zu urteilen hat, der laut Aussage des Angeklagten „nicht von dieser Welt“ sei, muss den neutralen Beobachter mehr als nur irritieren – und Agambens glänzend beobachtete, nüchtern-verkürzte Wiedergabe der Befragung Jesu durch Pilatus ist von geradezu mitreißender Präzision und entwaffnender Konsequenz.

Das Gerichtsverfahren, das Pilatus abhält, ist jedoch gar kein Prozess im eigentlichen Sinne. Die Rechtshistoriker haben versucht, den Prozess Jesu vom Standpunkt des römischen Rechts aus zu beurteilen. Es überrascht nicht, dass sie zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Wenn jeder Prozess, wie der große Jurist Salvatore Satta geschrieben hat, ein „Geheimnis“ ist, dann treten die Widersprüchlichkeiten dieses Geheimnisses hier besonders deutlich zu Tage. […] Einige kommen zu dem Schluss, dass nicht einmal die einfachsten Formen des römischen Gerichtsverfahrens beobachtet wurden: nicht die Anklageschrift und die genaue Festlegung der Anklage, nicht die Feststellung einer Tatsache, nicht die Verkündung eines eindeutigen Urteils.

Pilatus und Jesus, Krippenfiguren, 18. Jh./Foto: Andreas Praefcke

Der Autor gibt aber auch die bewusste Abarbeitung wichtiger Bezugspunkte der Messiaserwartung sowie die mehrmalige formelhafte Wiederholung der Definition der Schuldfrage bis zur letztendlichen Auslieferung des Angeklagten durch den ratlosen Pilatus an das geistliche Gericht des Synhedrions auf kongeniale Art und Weise wieder und weist lückenlos nach, wie die sich gegenseitig ergänzenden Apostelerzählungen deutlich sichtbar zu nichts anderem dienen als die messianische Legitimität Jesu für seine Anhänger mit Hilfe der alttestamentarischen Überlieferung zweifelsfrei herzuleiten. Aber auch tiefgreifende sprachwissenschaftliche Untersuchungen haben ihren Platz in Agambens philosophischer Recherche. So weist er das altgriechische Verb παρέδωκεν („ausliefern“) in beeindruckender Kontinuität über den kompletten Verlauf des apostolischen Prozessberichts nach.

Folglich gehorcht das Passionsdrama, das Johannes so detailreich schildert, einem von einem gottgewollten, von den Theologen „Heilsökonomie“ genannten Plan seit jeher festgelegten Drehbuch: Die Akteure dieses Dramas spielen lediglich die ihnen zugedachte Rolle. Auch die letzte Szene dieses Dramas ist eine Auslieferung: der Augenblick, in dem Jesus den Geist aufgab.

So ist nicht nur die biblische Überlieferung an sich dem Wortstamm nach eigentlich eine „Auslieferung“; die erste konkrete „Auslieferung“ innerhalb der Passionsgeschichte im Sinne eines Beitrags zur Erfüllung des göttlichen Plans geschieht durch den Kuss des Judas, der Jesus dem Synhedrion ausliefert. Dieses wiederum liefert Jesus dem allgemein anerkannten Inhaber der weltlichen römischen Gerichtsbarkeit aus, nämlich Pontius Pilatus, der ihn am Ende seiner Befragung wiederum dem jüdischen Religionsgericht ausliefert. Derselbe Wortstamm beschreibt aber auch die Auslieferung Jesu durch seinen göttlichen Vater, wodurch die konkreten einzelnen Stationen der irdischen Auslieferung in ihrer Gesamtheit letztlich nur als einzelne unverzichtbare Beiträge zur Vollendung der umfassenden göttlichen Auslieferung gewertet werden können.

Hier und jetzt von der Wahrheit des Reichs, das nicht hier ist, zu zeugen, heißt anzuerkennen, dass wir das, was wir erlösen wollen, richten. Denn die Welt in ihrer Vergänglichkeit will nicht Erlösung, sondern Gerechtigkeit. Und sie will sie eben deshalb, weil sie nicht erlöst werden möchte. Als unrettbare urteilen die Geschöpfe über das Ewige – so lautet das Paradox, das Jesus zuletzt, als er vor Pilatus steht, das Wort entzieht. Hier ist das Kreuz, hier ist die Geschichte.

Giorgio Agamben demonstriert in seinem kleinen, unscheinbaren und vielleicht unzeitgemäßen Essay auf beeindruckende Art und Weise, was für ein wichtiges und mächtiges Werkzeug zur Weltdurchdringung die Philosophie auch heute noch sein kann, wenn sie ihre natürliche Neugier nicht zugunsten von starren Dogmen preisgibt. Dabei wird zwischen den Zeilen deutlich, dass es unter Umständen wichtiger und lohnender sein kann, die richtigen Fragen zu erarbeiten, um zu versuchen, den gewählten Stoff mit ihrer Hilfe so weit wie möglich zu durchdringen, als scheinbar verbindliche Antworten aufzustellen, deren wichtigste Funktion doch nur in der fundamentalen Selbsttäuschung bestehen kann, dass sämtliche Äußerungsformen des Lebens tatsächlich mit Hilfe der unzulänglichen Mittel des menschlichen Geistes erfasst werden könnten.

Agamben-Graffiti

Der Autor macht die naheliegende Frage nach der Historizität der von ihm untersuchten Ereignisse an keinem Punkt zur Glaubensfrage, weder im philosophischen noch im theologischen Sinne, sondern nimmt den Bericht im Wissen um die Unmöglichkeit objektiver Beweisbarkeit einfach als gegeben hin, was aus literaturwissenschaftlicher Sicht als ein großer Gewinn erscheint. Am Ende steht auch der Leser vor der großen Herausforderung ein großes, unauflösbares Paradox mit irdischer Gelassenheit einfach bestehen zu lassen, denn weltliche Gerechtigkeit und himmlische Erlösung lassen sich unter keinen Umständen miteinander vereinen. Giorgio Agamben ist mit seinem kleinen Essay ein fesselndes Stück Literatur gelungen, das auf beeindruckende Art und Weise die Möglichkeiten der Philosophie und der ihr untergeordneten Geisteswissenschaften aufzeigt, indem er sie voll und ganz im diesseitigen Leben verortet und ihnen so ein Stück ihrer historischen Relevanz zurückgibt.

„Pilatus und Jesus“, aus dem Italienischen von Andreas Hiepko, erschienen bei Matthes & Seitz, 64 Seiten, € 10,-

Samstag, 10. Januar 2015

„Diamantenstaub“ von Ahmed Mourad

Am Ende eines ebenso beispiellosen wie blutigen Rachefeldzugs gegen Korruption und die totalitären Strukturen des pseudodemokratischen Mubarak-Regimes, der jedem Italo-Western zur Ehre gereichen würde, steht Taha, der einsame Held des Buches, schließlich gedankenverloren an der gemauerten Brüstung einer alten Brücke über den Nil, in dessen schlammigen Fluten er jenes kleine Fläschchen zu versenken trachtet, mit dessen unscheinbarem Inhalt er und sein Vater im Verlauf von über fünfzig Jahren so viele skrupellose Protagonisten des verhassten Systems auf denkbar grausame, schmerzhafte und qualvolle Art und Weise im Namen der machtlosen Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung in verzweifelter Selbstjustiz hingerichtet haben.




Da muss er ohnmächtig mit ansehen, wie ein armer Fischer, der soeben sein elendes, vielfach geflicktes Netz ausgeworfen hat, um einen vermutlich kümmerlichen Fang an Land zu ziehen, von der Luxusyacht eines wohlbekannten Lokalpolitikers mitsamt seinem kleinen Ruderboot einfach rücksichtslos über den Haufen gefahren wird, während an Bord eine ignorant-lärmende Partygesellschaft weiter schamlos sich selbst und ihren unantastbaren sozialen Status feiert. Zwar steigt der Fischer wenig später unerwarteterweise und unter dem spontanen Applaus einiger Passanten wohlbehalten wieder aus den schmutzigen Fluten, doch das Fläschchen mit dem hochwirksamen Gift landet nach diesem aufschlussreichen Erlebnis – und man meint dabei, vor seinem inneren Ohr die in Bitternis triumphierende Trompete aus Ennio Morricones Western-Soundtrack zu hören – unangetastet wieder in Tahas Hosentasche, um vermutlich schon bald einer weiteren mörderischen Verwendung zugeführt zu werden.

Schweigen ist keine Lösung mehr. Darauf zu warten, dass jemand vor dem Haus aufräumt, ist sinnlos. Nichts kratzt dir besser den Rücken als dein eigener Fingernagel, sagt man. Lauter verrottete Persönlichkeiten und tote Seelen. Ich sehe schon die Staubkörnchen in ihren Mündern, wenn ich mich von diesem Auswurf befreie. Der Staub meiner rechten Hand. Der ist mein Gesetz, begleitet von einer Warnung und einem Traum, der die Finsternis in den Seelen aufrührt. Er gibt ihnen Gelegenheit zur Reue, um damit ihre Schuld vor dem Weisen und Gerechten abzutragen.

Der talentierte junge ägyptische Schriftsteller Ahmed Mourad, der sein literarisches Handwerk an der renommierten Filmhochschule von Kairo erlernte und dessen erster Roma „Vertigo“, unter großem Erfolg auch als Mehrteiler fürs ägyptische Fernsehen verfilmt wurde, hat mit „Diamantenstaub“ nun einen weiteren fulminanten gesellschaftskritischen Thriller geschrieben, mit dem er sich vor seinen weltweit erfolgreichen schwedischen Berufskollegen Henning Mankell und Stig Larsson sowie ambitionierten skandinavischen Fernsehserien wie „Sarah Lund“ oder „Die Brücke“ keinesfalls zu verstecken braucht.

Siehe, die schlimmsten Tiere für Gott sind jene, die taub und stumm sind und die nicht begreifen“
Das schlimmste Verbrechen in den letzten drei Jahrzehnten war, den Menschen ihren Verstand zu rauben, ihr Denken auszulöschen und ihre religiösen Überzeugungen zu politisieren. Irgendwann wird die Geschichte dafür sorgen, dass man denen, die dieses Verbrechen begangen haben, den Prozess macht.

Sein ebenso spannender wie intelligenter Krimi, der wie kaum ein Werk eines anderen Genres den Ton der westlichen Gesellschaft kongenial trifft und uns auf diese Weise besser als manches Sachbuch die vielschichtigen Problemstellungen und schmerzhaften Veränderungsprozesse Ägyptens im Zwanzigsten Jahrhundert zu vermitteln vermag, führt uns zunächst zurück in die frühen 1950er Jahre, in der die politischen Grundvoraussetzungen nach der Unabhängigkeit von Großbritannien noch derart offen waren, dass eine weniger totalitäre, positivere Entwicklung des Landes durchaus im Rahmen der Möglichkeiten gelegen hätte: das Buch ist „dem Mann der letzten Gelegenheit“ gewidmet, so Ahmed Mourad, dem Armeeoffizier und ersten Präsidenten der Republik Ägypten, Muhammad Nagîb, der 1954 von seinem früheren Mitstreiter und langjährigen Nachfolger Gâmal Abdel Nasser gewaltsam aus der Regierung gezwungen und unter bewachten Hausarrest gestellt wurde, nachdem er kurz zuvor die von ihm angestrebte Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie verkündet hatte.

Die Revolution hat tausend Paschas beseitigt und Millionen neue an ihre Stelle gesetzt. Die und ihre Kinder machen uns jetzt das Leben schwer. Um sie scharen sich noch jede Menge Lügner. Und die, die Geld haben, sind ihre Hühner – Hühner, die goldene Eier legen. Die protegieren sie und bereiten ihnen das Nest, um ihnen das Eierlegen leichter zu machen. Du siehst doch, wie sie ohne mit der Wimper zu zucken, miteinander mauscheln. Und einer wie Bergas, der seit den Achtzigern seine Hände noch in jeder schmutzigen Sache hatte – schau dir mal an, wie weit der damit gekommen ist! Ich ziehe den Hut vor jedem, der es schafft, ihn aufzuhalten.

Am Vorabend seiner Demission herrscht im Jüdischen Viertel von Kairo noch eine lebendige Atmosphäre der Toleranz und des allgemeinen Ausgleichs über alle Religionsgrenzen hinweg: alt eingesessene jüdische Familien können sich selbst angesichts des zunehmenden Palästinakonflikts nicht vorstellen, ihre vertraute Heimat Ägypten jemals freiwillig zu verlassen. Doch schon zwei Jahre später ändert sich durch den Suezkrieg alles, in dessen Verlauf israelische Kampfflugzeuge Kairo wiederholt bombardieren. Tahas Vater Hussain lebt zu dieser Zeit unter der Obhut des jüdischen Juweliers Lieto, einem langjährigen engen Freund seines Vaters, der zwei Jahre zuvor einem Herzinfarkt erlegen war. Während einer Bombennacht beobachtet Hussain seinen Lehrherren und Förderer zufällig dabei, wie er vom Dach seines Hauses den israelischen Piloten Lichtzeichen gibt, damit sie das Jüdische Viertel verschonen. Schon bald darauf benutzt der Heranwachsende am vermeintlichen „zionistischen Verräter“ erstmals das heimtückische schleichende Gift, das ihm Lieto selbst kurze Zeit vorher in seiner Werkstatt gezeigt hatte: Diamantenstaub, das angebliche Lieblingsgift der Borgia.

Kairo, El Gezira/Blick vom Cairo-Tower

Diamantenstaub wird üblicherweise in der Metallverarbeitung sowie in der Schmuckindustrie als probates Schleifmittel verwendet. Wenn man ihn jedoch in Getränke oder Lebensmittel mischt, so die Legende, löse er beim jeweiligen Opfer krebsähnliche Wucherungen innerhalb der Verdauungsorgane aus, in die sich der feine Staub aufgrund ihrer natürlichen Bewegungen im Verlaufe der Zeit immer stärker hineinarbeite und beim Betroffenen innerhalb von drei Monaten zu einem äußerst schmerzhaften und qualvollen Tod bei vollem Bewusstsein führe. Im Verlauf der Jahre wird Hussain, der am Ende seines Lebens gelähmt im Rollstuhl sitzen wird, das Gift immer wieder benutzen, um vermeintliche Schädlinge am Allgemeinwohl heimtückisch zu ermorden.

Ich habe geträumt, Sie säßen in einem engen Raum, einer Art Keller, und hätten eine goldene Kette um. Plötzlich kam mein großer Bruder rein. Er hat Sie an der Hand genommen und gesagt: 'Ich nehme dich mit auf einen Weg, für den wir drei Stunden brauchen werden.' Und dann rief er ein Taxi, weil Ihnen Ihr Bein weh tat und Sie nicht laufen konnten. Das war's.“
Und wenn Ihr Bruder und ich uns im Traum getroffen haben, wo liegt da das Problem?“
Ungerührt, als teilte er jemandem mit, der Ölpreis sei um zwei Pfund gestiegen, antwortete Hussain: „Das Problem ist, dass mein Bruder, mit dem Sie weggegangen sind, seit zwei Jahren tot ist.“

Als Taha, der eigentliche Protagonist des Buches, ein promovierter Apotheker, der als Pharmareferent arbeitet, eines Abends in die ärmliche, gemeinsam bewohnte Wohnung zurückkehrt, findet er seinen Vater leblos neben seinem Rollstuhl liegend. Bevor er noch die Polizei rufen kann, wird er selbst so brutal niedergestreckt und zusammengeschlagen, dass er nur mit Mühe und Not dem Tod entgeht. Als er nach Wochen auf der Intensivstation und einer aufwendigen Rehabilitation das Krankenhaus endlich wieder verlassen kann, zeigt die Polizei jedoch zu seiner wachsenden Verzweiflung keinerlei Interesse, den Mord an seinem Vater sowie den Anschlag auf sein eigenes Leben aufzuklären, obwohl Taha den wahrscheinlichen Täter, den im ganzen Viertel berüchtigten Gelegenheitskriminellen und Fixer Service, mit dem er vor kurzem eine heftige Auseinandersetzung ausgefochten und der ihm daraufhin mehrmals explizit mit dem Tode gedroht hatte, längst identifiziert und angezeigt hat.

Ui, dann bist du also doch an sozialen Fragen interessiert! Und ich hatte gedacht, du gehst nur zur Arbeit und wieder nach Hause.“
Du hast vergessen, dass ich in einer Apotheke arbeite. Der psychische Zustand der Ägypter lässt sich gut an den Medikamenten ablesen, die sie am häufigsten verlangen.“
Und welche sind das?“
Durchfallmittel.“

Gemeinsam mit der ebenso mutigen wie geheimnisvollen, aber unnahbaren Journalistin und Bloggerin Sara kommt er in der Zwischenzeit dem jahrzehntelangen mörderischen Treiben seines Vaters auf die Spur, dessen kriminelles Beispiel in ihm langsam den verzweifelten Entschluss reifen lässt, Service selbst auf bewährte Art und Weise zur Verantwortung zu ziehen. Leider stellt sich heraus, dass dieser Protektion durch den bis vor kurzem allmächtigen Polizeiobersten Wâlid genießt, der gerade erst durch seinen eigenen Größenwahn und einen von seinen politischen Gegnern künstlich gesteuerten Fall von sexueller Nötigung vom Dienst suspendiert worden ist und der somit jede Gelegenheit nutzen muss, um sich von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen reinzuwaschen. Schon bald tauchen Wâlid und Service, der bereits deutliche Symptome der bekannten Vergiftungserscheinungen trägt, gemeinsam in Tahas Wohnung auf, um ihn gewaltsam zur Rede zu stellen – aber das ist erst der Anfang einer unerbittlichen literarischen Tour de force von geradezu mythischen Dimensionen um Betrug, Mord und Rache.

Ahmed Mourad

Ahmed Mourad erweist sich in seinem absolut fesselnden, hoch spannenden und aufschlussreichen literarischen Thriller nicht nur als virtuoser, weitsichtiger und fantasievoller Krimiautor, sondern auch als überaus engagierter literarischer Chronist der sozialen und politischen Geschichte seines Landes sowie der schmerzhaften gesellschaftlichen Prozesse innerhalb der heterogenen ägyptischen Gesellschaft im Verlaufe des Zwanzigsten Jahrhunderts, besonders aber auch der jüngsten Zeit. Wer verstehen will, warum Ägypten auch nach dem vom Volk erzwungenen Machtwechsel der Nach-Mubarak-Ära nicht zur Ruhe kommt, wird an der dankbaren Lektüre dieses vielschichtigen Romans nicht vorbeikommen, der auf ideale Art und Weise die Codes westlicher Kriminalliteratur benutzt, um ein tief schürfendes, realistisches und allgemein verständliches Bild seines Landes im Umbruch zu zeichnen.

Diamantenstaub“, aus dem Arabischen von Christine Battermann, erschienen bei Lenos, 407 Seiten, € 22.50