Was für einen bitteren,
unwiederbringlichen Verlust der frühe Tod Jakob Arjounis im Januar
2013 für die aktuelle deutsche Literaturlandschaft bedeutet, die
dieser weltgewandt-liebenswürdige, hochbegabte sympathische Zweifler
in einem Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren über alle gängigen
Genregrenzen hinweg mit seinen zahlreichen pointierten Romanen,
Theaterstücken und perfekt konstruierten Krimis bereichert hat,
lässt sich selbst für den Unkundigen weit mehr als nur ansatzweise
ermessen, wenn er dessen nun auch als Taschenbuch vorliegenden
allerletzten Kriminalroman „Bruder Kemal“ liest: die Welt, die
sich darin widerspiegelt, ist nicht gleichförmig, sondern reich an
den zahlreichen unterschiedlichen Äußerungsformen des Lebens, ist
nicht bürokratisch, sondern menschenfreundlich, nicht vorhersehbar,
sondern intuitiv und wandelbar – selbst dort, wo sie es entgegen
unseren tiefsten Träumen und unserem natürlichen
Gerechtigkeitsempfinden doch zu sein scheint, lehnt sie sich
gleichzeitig vehement dagegen auf.
Mit einem lupenreinen
klassischen Krimi nach amerikanischem Vorbild, dem ersten (später
von Doris Dörrie verfilmten) Kayankaya-Roman „Happy Birthday,
Türke!“, der einen ungewohnt internationalen und in höchstem Maße
eigenständigen Ton in die deutsche Krimiszene einführte, hatte der
zweiundzwanzigjährige Arjouni 1988 seine Karriere begonnen; tastend
damals noch, nicht wissend, ob dies für ihn – nach einem
abgebrochenen, an anderem Ort wieder aufgenommenen und schon bald
wieder beendeten Studium sowie diversen klangvollen Aushilfsjobs –
der richtige Weg sein könne. Wenn man seiner eigenen unterhaltsam zu
lesenden, humorvoll-selbstkritischen Kurzbiographie glauben darf,
wusste er dies mit einiger Sicherheit erst nach zwei weiteren
(erfolgreichen) Romanen und zwei Theaterstücken.
Frankfurter Bahnhofsviertel: Kayankayas Revier |
Es
gibt eine großartige Szene von brillanter Komik in Jakob Arjounis
fünftem und leider letztem Kayankaya-Krimi, der den ganzen Aberwitz
unserer perfekt vernetzten, erfreulich normalen und
real-existierenden bundesdeutschen Muli-Kulti-Welt genial-ironisch
auf die Spitze treibt: der erzsympathische Frankfurter Privatdetektiv
Kemal Kayankaya kommt bei seinem neuesten Fall einem ebenso
geschäftstüchtigen wie zwielichtigen Vorstadt-Imam in die Quere,
der den bei deutschen Adoptiveltern aufgewachsenen, für jegliche
religiöse Umtriebe völlig unempfänglichen gebürtigen Türken über
seinen Sekretär telefonisch zwangsweise zur Audienz einbestellt, um
ihn massiv unter Druck zu setzen:
Anfangs
redete er türkisch, bis er mir einen Augenblick Zeit ließ, ihm zu
erklären, dass ich kein Türkisch gelernt hatte.
Nach
einer ungläubigen Pause, einem türkischen [...] Fluch und ein paar
verächtlichen Schmatzlauten, fuhr er schließlich auf Deutsch fort.
Er sprach starken hessischen Dialekt, und ich musste dreimal
nachfragen, bis ich verstand, dass seine Herrlichkeit mich zu sehen
wünsche.
„Wer will mich sehen?“
„Sei Hellischkeit.“
„Helligkeit?“
„Heelliischkeit!“
„Tut mir leid. Heilig, Höllig?“
„Hellisch! Wie hellische Aussicht! Mensch!“
„Ah, seine Herrlichkeit.“
„Jetzt tu bloß net so, du...!“
„Wer ist seine Herrlichkeit?“
„Isch hab doch gesacht, isch bin dä Sekrätär vom Scheisch
Hakim!“
Und
dieser Scheich Hakim ist eine ganz große Nummer im lokalen
Drogengeschäft... Aber in Kayankayas fünftem und letztem Fall
trifft nicht nur scheinheilig-aufgesetzte Religiosität auf
überzeugten Atheismus, sondern auch gutgläubige emotionale Unschuld
auf kalte amoralische Berechnung sowie die geballte weibliche
Verführungskraft in Person einer attraktiven Klientin auf schwer
erkämpfte männliche Vernunft in Gestalt des zwar mittlerweile seit
mehreren Jahren fest liierten, jedoch für weibliche Reize immer noch
überaus empfänglichen Protagonisten.
Die
auch mit knapp vierzig Jahren ausgesprochen verheißungsvolle
Bankierstochter Valerie de Chavannes bestellt Kayankaya in ihre noble
Villa im Frankfurter Diplomatenviertel und beauftragt ihn mit der
Suche nach ihrer seit einigen Tagen spurlos verschwundenen frühreifen
sechzehnjährigen Tochter, die sich vermutlich in amouröser
Begleitung eines älteren türkischen Mannes aufhält, der sich als
bildender Künstler ausgegeben hat – eines weitläufigen Neffen des
besagten Scheich Hakim, wie sich bald herausstellt. Parallel dazu
erhält Kayankaya einen weiteren vermeintlich leicht zu bewältigenden
Auftrag als Personenschützer eines marokkanischen Schriftstellers,
der sein in der arabischen Welt angeblich wegen seiner homosexuellen
Thematik kontrovers aufgenommenes, in Wirklichkeit aber von der
Presseabteilung seines deutschen Verlages gezielt als Tabubruch
lanciertes neues Buch auf der Frankfurter Buchmesse vorstellen wird.
Zwar
gibt es für eine tatsächliche Bedrohung dieses charmant-naiven
Möchtegern-Casanovas und ausgeprägten Selbstdarstellers durch
radikale Islamisten auch nach ausgiebiger detektivischer Recherche
keinerlei realistische Hinweise, aber am Ende überlagern und
verbinden sich die beiden unterschiedlichen Fälle dennoch auf so
ungeahnte Art und Weise nahezu untrennbar miteinander, dass
ausgerechnet der auf weltfremdeste Art und Weise harmlose Malik
Rashid zum ersten Opfer einer so kaum vorauszuahnenden, geradezu
filmreifen Gewalteskalation von Doppelmord, sexueller Nötigung,
Erpressung und Entführung zu werden droht.
Jakob Arjouni, 2006 |
Auch
in seinem unwiederbringlich letzten Kayankaya-Roman ist Jakob Arjouni
erneut ein unwiderstehlicher, ebenso unterhaltsamer wie engagierter
literarischer Cocktail gelungen, der scharf beobachtete
Milieuschilderungen mit außergewöhnlich lebensechter
Charakterzeichnung und zahlreichen geradezu slapstickhaften Einlagen
von großer satirischer Schärfe verbindet. Insbesondere die
zahlreichen Denkwürdigkeiten der Frankfurter Buchmesse, die der
Autor volkommen zu Recht als gnadenlos übertriebene und im Grunde
„artfremde“ Selbstdarstellung der Buchbranche geißelt, werden
von ihm mit ausgesprochen treffsicherem Hintersinn porträtiert. Dass
nun ausgerechnet der unstete, seit mehr als zwanzig Jahren nicht
gerade ungefährlich lebende Kayankaya seinen friedfertigen,
menschenfreundlichen Schöpfer überlebt, ist von einer gewissen
traurigen Ironie. Allerdings vereint diese unvergesslich-lebensechte,
literarisch-moderne Gestalt nicht nur einige der besten
allgemein-menschlichen Tugenden in sich, sondern deutlich erkennbar
auch die meisten des allzu früh verstorbenen Autors: welcher
ambitionierte Schriftsteller kann wahrheitsgemäß Ähnliches von
sich behaupten?
„Bruder Kemal“, erschienen bei Diogenes, 225 Seiten, € 10,90
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.