Jerusalem

Jerusalem

Samstag, 15. Februar 2014

„Bruder Kemal“ von Jakob Arjouni

Was für einen bitteren, unwiederbringlichen Verlust der frühe Tod Jakob Arjounis im Januar 2013 für die aktuelle deutsche Literaturlandschaft bedeutet, die dieser weltgewandt-liebenswürdige, hochbegabte sympathische Zweifler in einem Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren über alle gängigen Genregrenzen hinweg mit seinen zahlreichen pointierten Romanen, Theaterstücken und perfekt konstruierten Krimis bereichert hat, lässt sich selbst für den Unkundigen weit mehr als nur ansatzweise ermessen, wenn er dessen nun auch als Taschenbuch vorliegenden allerletzten Kriminalroman „Bruder Kemal“ liest: die Welt, die sich darin widerspiegelt, ist nicht gleichförmig, sondern reich an den zahlreichen unterschiedlichen Äußerungsformen des Lebens, ist nicht bürokratisch, sondern menschenfreundlich, nicht vorhersehbar, sondern intuitiv und wandelbar – selbst dort, wo sie es entgegen unseren tiefsten Träumen und unserem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden doch zu sein scheint, lehnt sie sich gleichzeitig vehement dagegen auf.


Mit einem lupenreinen klassischen Krimi nach amerikanischem Vorbild, dem ersten (später von Doris Dörrie verfilmten) Kayankaya-Roman „Happy Birthday, Türke!“, der einen ungewohnt internationalen und in höchstem Maße eigenständigen Ton in die deutsche Krimiszene einführte, hatte der zweiundzwanzigjährige Arjouni 1988 seine Karriere begonnen; tastend damals noch, nicht wissend, ob dies für ihn – nach einem abgebrochenen, an anderem Ort wieder aufgenommenen und schon bald wieder beendeten Studium sowie diversen klangvollen Aushilfsjobs – der richtige Weg sein könne. Wenn man seiner eigenen unterhaltsam zu lesenden, humorvoll-selbstkritischen Kurzbiographie glauben darf, wusste er dies mit einiger Sicherheit erst nach zwei weiteren (erfolgreichen) Romanen und zwei Theaterstücken.

Frankfurter Bahnhofsviertel: Kayankayas Revier


Es gibt eine großartige Szene von brillanter Komik in Jakob Arjounis fünftem und leider letztem Kayankaya-Krimi, der den ganzen Aberwitz unserer perfekt vernetzten, erfreulich normalen und real-existierenden bundesdeutschen Muli-Kulti-Welt genial-ironisch auf die Spitze treibt: der erzsympathische Frankfurter Privatdetektiv Kemal Kayankaya kommt bei seinem neuesten Fall einem ebenso geschäftstüchtigen wie zwielichtigen Vorstadt-Imam in die Quere, der den bei deutschen Adoptiveltern aufgewachsenen, für jegliche religiöse Umtriebe völlig unempfänglichen gebürtigen Türken über seinen Sekretär telefonisch zwangsweise zur Audienz einbestellt, um ihn massiv unter Druck zu setzen:

Anfangs redete er türkisch, bis er mir einen Augenblick Zeit ließ, ihm zu erklären, dass ich kein Türkisch gelernt hatte.
Nach einer ungläubigen Pause, einem türkischen [...] Fluch und ein paar verächtlichen Schmatzlauten, fuhr er schließlich auf Deutsch fort. Er sprach starken hessischen Dialekt, und ich musste dreimal nachfragen, bis ich verstand, dass seine Herrlichkeit mich zu sehen wünsche.

Wer will mich sehen?“
Sei Hellischkeit.“
Helligkeit?“
Heelliischkeit!“
Tut mir leid. Heilig, Höllig?“
Hellisch! Wie hellische Aussicht! Mensch!“
Ah, seine Herrlichkeit.“
Jetzt tu bloß net so, du...!“
Wer ist seine Herrlichkeit?“
Isch hab doch gesacht, isch bin dä Sekrätär vom Scheisch Hakim!“

Und dieser Scheich Hakim ist eine ganz große Nummer im lokalen Drogengeschäft... Aber in Kayankayas fünftem und letztem Fall trifft nicht nur scheinheilig-aufgesetzte Religiosität auf überzeugten Atheismus, sondern auch gutgläubige emotionale Unschuld auf kalte amoralische Berechnung sowie die geballte weibliche Verführungskraft in Person einer attraktiven Klientin auf schwer erkämpfte männliche Vernunft in Gestalt des zwar mittlerweile seit mehreren Jahren fest liierten, jedoch für weibliche Reize immer noch überaus empfänglichen Protagonisten.

Die auch mit knapp vierzig Jahren ausgesprochen verheißungsvolle Bankierstochter Valerie de Chavannes bestellt Kayankaya in ihre noble Villa im Frankfurter Diplomatenviertel und beauftragt ihn mit der Suche nach ihrer seit einigen Tagen spurlos verschwundenen frühreifen sechzehnjährigen Tochter, die sich vermutlich in amouröser Begleitung eines älteren türkischen Mannes aufhält, der sich als bildender Künstler ausgegeben hat – eines weitläufigen Neffen des besagten Scheich Hakim, wie sich bald herausstellt. Parallel dazu erhält Kayankaya einen weiteren vermeintlich leicht zu bewältigenden Auftrag als Personenschützer eines marokkanischen Schriftstellers, der sein in der arabischen Welt angeblich wegen seiner homosexuellen Thematik kontrovers aufgenommenes, in Wirklichkeit aber von der Presseabteilung seines deutschen Verlages gezielt als Tabubruch lanciertes neues Buch auf der Frankfurter Buchmesse vorstellen wird.

Zwar gibt es für eine tatsächliche Bedrohung dieses charmant-naiven Möchtegern-Casanovas und ausgeprägten Selbstdarstellers durch radikale Islamisten auch nach ausgiebiger detektivischer Recherche keinerlei realistische Hinweise, aber am Ende überlagern und verbinden sich die beiden unterschiedlichen Fälle dennoch auf so ungeahnte Art und Weise nahezu untrennbar miteinander, dass ausgerechnet der auf weltfremdeste Art und Weise harmlose Malik Rashid zum ersten Opfer einer so kaum vorauszuahnenden, geradezu filmreifen Gewalteskalation von Doppelmord, sexueller Nötigung, Erpressung und Entführung zu werden droht.

Jakob Arjouni, 2006

Auch in seinem unwiederbringlich letzten Kayankaya-Roman ist Jakob Arjouni erneut ein unwiderstehlicher, ebenso unterhaltsamer wie engagierter literarischer Cocktail gelungen, der scharf beobachtete Milieuschilderungen mit außergewöhnlich lebensechter Charakterzeichnung und zahlreichen geradezu slapstickhaften Einlagen von großer satirischer Schärfe verbindet. Insbesondere die zahlreichen Denkwürdigkeiten der Frankfurter Buchmesse, die der Autor volkommen zu Recht als gnadenlos übertriebene und im Grunde „artfremde“ Selbstdarstellung der Buchbranche geißelt, werden von ihm mit ausgesprochen treffsicherem Hintersinn porträtiert. Dass nun ausgerechnet der unstete, seit mehr als zwanzig Jahren nicht gerade ungefährlich lebende Kayankaya seinen friedfertigen, menschenfreundlichen Schöpfer überlebt, ist von einer gewissen traurigen Ironie. Allerdings vereint diese unvergesslich-lebensechte, literarisch-moderne Gestalt nicht nur einige der besten allgemein-menschlichen Tugenden in sich, sondern deutlich erkennbar auch die meisten des allzu früh verstorbenen Autors: welcher ambitionierte Schriftsteller kann wahrheitsgemäß Ähnliches von sich behaupten?

„Bruder Kemal“, erschienen bei Diogenes, 225 Seiten, € 10,90

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.