Jerusalem

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Montag, 30. Juni 2014

„Bagdad Marlboro“ von Najem Wali

Der irakische Schriftsteller Najem Wali gehört zu den wenigen international anerkannten Autoren aus dem traditionellen arabischen Kulturraum, die sich seit Jahren auch öffentlich vehement für einen friedlichen Ausgleich mit dem jüdischen Staat einsetzen. Damit besitzt er eine fundierte, unverkennbare und gewichtige Stimme, die man im Westen naturgemäß gern zitiert, auch wenn sie in ihrer eigenen Kultur vielleicht weniger stark gehört oder wahrgenommen werden kann. Der 1956 in Basra geborene und bereits seit 1980 in Deutschland lebende Wali ist vor einigen Jahren sogar persönlich nach Israel gereist, um sich ein Bild von den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen im Lande zu machen sowie das direkte Gespräch mit dem offiziell postulierten Feind zu suchen. Seine literarische Bestandsaufnahme dieser Reise (2009) ist im Ergebnis vielleicht sogar ein bisschen zu schmeichelhaft für den jüdischen Staat ausgefallen.


In seinem soeben erschienenen, neuen großen Roman erzählt Najem Wali nicht nur die allerjüngste bittere Geschichte seines Landes, sondern lässt vor allem die vergangenen kriegerischen dreißig Jahre Revue passieren, die seit seiner Flucht im Jahr 1980 vor seinem damals anstehenden Militärdienst im blutigen Krieg des Saddam-Regimes gegen den Iran vergangen sind. „In diesem Land musste ich wählen zwischen der Rolle des Mörders und der des Ermordeten“, lässt er seinen Protagonisten, den melancholischen Bauunternehmer und Möchtegern-Schriftsteller am Ende des Buches sagen, „Ich entdeckte, dass ich für die erstere Rolle nicht taugte. Ich machte mir klar, dass ich alles sein könnte, bloß kein Mörder, und dass ich, um der letzteren Rolle, der des Ermordeten, die man für mich vorgesehen hatte, zu entkommen, weggehen musste.“

Wenn ich meinen Reisepass betrachte und besonders meinen Namen und mein Geburtsdatum anschaue, kommt mir Daniel Brooks in den Sinn. Bis zu seinem plötzlichen Auftauchen hatte ich nie geglaubt, dass mein Leben sich je auf eine solch abrupte Weise verändern könnte, durch einen fremden Mann wie ihn, der von weit her kam. All das geschag vor sieben Jahren in Bagdad. Es waren die schwersten und möglicherweise auch die gefährlichsten Jahre, die die Stadt je erlebt hat. Ehrlich, wenn ich an die Geschichte zurückdenke, kommt sie mir schon recht seltsam vor. Dass sich so etwas in einer Stadt wie Bagdad abgespielt haben soll! Dass zwei Männer wie wir, mit ihren unterschiedlichen Lebenserfahrungen und durch Länder, Meere und Ozeane voneinander getrennt, sich unbedingt hier begegnen sollten!

„Bagdad Marlboro“, die versöhnlich umschließende Kombination von zwei für ihre beiden unterschiedlichen Herkunftsländer stehende Zigarettenmarken beschreibt die selbstquälerisch-tapferen Versuche eines ehemaligen amerikanischen Soldaten sowie eines desillusionierten irakischen Dichters, eine direkte und persönliche Aussöhnung mit dem erklärten Feind zu wagen, an dem beide während ihrer aktiven Militärzeit in massivem, kaum zu bewältigendem Ausmaß schuldig geworden sind. Der Dichter Salmân Mâdi, ein sorgsamer literarischer Chronist der Träume sämtlicher Soldaten seiner Einheit, hat während des ersten Golfkriegs auf Befehl seines Vorgesetzten gemeinsam mit seinen Kameraden das Feuer auf eine Gruppe bereits entwaffneter amerikanischer Kriegsgefangener eröffnet, der von Natur aus friedfertige Daniel Brooks, genannt Smiley Man, musste als Führer eines Bulldozers – angestachelt von seinem sadistischen Vorgesetzten, seinem unerbittlichen persönlichen Feind – ein ganzes Bataillon von wehrlosen irakischen Soldaten lebendig im Wüstensand begraben.

Jawohl, lieber Freund, das ist meine Rolle: Ihnen alle Geschichten zu erzählen, die noch niemand in den Archiven gefunden, die noch keine Zunge erzählt hat. Vergangene Geschichten und künftige: die Geschichte von Daniel Brooks und diejenige von Salmân Mâdi und David Barbiero; [...] die Geschichte des jungen Soldaten Nihâd, der davon träumte, in den Fußstapfen seines Onkels Nur Mulla Ibrahîm ein erstrangiger Goldschmied zu werden und nicht ahnte, dass seine Träume von einem amerikanischen Offizier im Range eines Obersts mit einem Messer massakriert würden; die Geschichte Ashârs und ihrer vierzehnköpfigen Familie, die alle an einem sonnigen Morgen kaltblütig im Schlaf auf dem Dach ihres Hauses in einem abgelegenen Dorf am Ufer des Euphrat umgebracht wurden, beschossen von amerikanischen Apache-Hubschraubern; [...] die Geschichte von Daniel Brooks, nachdem er Daniel Hussain geworden war, Daniel, der nach mir suchte und davon träumte, man werde ihm verzeiehen, der den Kindern jener lebendig begrabenen Soldaten helfen wollte, und nicht ahnte, dass er selbst an einer ganz anderen Front abgeschlachtet würde, weit weg von derjenigen, der er entkommen war, aber auch sie am Rande der Wüste; [...] Ja, die Geschichte jedes Toten und derjenigen, die noch warten. Auch Ihre Geschichte, Bradley Manning, mit dem Richter vor und den Kerkermeistern hinter Ihnen. Und vierzig Kilometer entfernt frohlocken die Mörder frei und entspannt. Ich bin sehr froh, endlich bei Ihnen zu sein, froh, Ihnen all diese Geschichten erzählt zu haben. Jetzt habe ich den Eindruck, dass wir wirklich frei sind, Sie und ich, beide jeder Last ledig.

US-Truppen in Bagdad, 2006

Najem Wali, der im Jahr 2013 zu den aufmerksamen Beobachtern des spektakulären Prozesses gegen den zwischen 2009 und 2010 im Irak stationierten Whistleblower Bradley Manning gehörte, der geheime Videos von Massakern des US-Militärs an der Zivilbevölkerung im Irak und Afghanistan an Wikileaks weitergegeben hatte, erzählt in seinem sprach- und bildmächtigen, epischen Roman die bisher ungeschriebene bittere Geschichte der intensiven, jedoch öffentlich schmerzhaft verdrängten Beziehung zwischen zwei Staaten und ihren unglücklichen Bürgern, die einander weder Freund noch Feind sein können. Doch „Bagdad Marlboro“ ist weit mehr als eine bloße Aufzählung der auf beiden Seiten begangenen Verbrechen sowie der zahlreichen verpassten Gelegenheiten, sondern vor allem ein eindringliches literarisches Plädoyer für die grenzüberschreitende Kraft bedingungsloser Mitmenschlichkeit und ein unmissverständlicher Aufruf, sich kollektivem Hass nicht zu beugen, sondern mutig aufeinander zuzugehen.

„Bagdad Marlboro“, aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich, erschienen bei Hanser, 350 Seiten, € 21,90

(Dieser Text ist bereits in einer gekürzten Fassung in der Printausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen.)

Freitag, 27. Juni 2014

„Zweite Generation“ von Michel Kichka

Im ersten überaus einprägsamen Bild von Michel Kichkas ebenso humorvoller wie tiefgründiger Graphic Novel „Zweite Generation“ starrt der noch kindliche, jedoch mit dem Autor und Zeichner erklärtermaßen identische Icherzähler ratlos auf die instinktiv in Abwehr verschränkten Arme seines in sich gekehrten Vaters und fragt sich – unerwidert über Jahre, wer ihm wohl diese merkwürdige sechsstellige Nummer zwischen die Haare seines linken Unterarms geschrieben haben mag. Wenn der Vater beim Essen laut vernehmlich rülpst, was den Kindern ausdrücklich verboten ist, heißt es: „Bei Papa ist das was anderes. Er war im Lager.“ Und wenn diesem am Mittagstisch im Familienkreis ein von seiner Frau gekochtes Gericht besonders gut schmeckt, erinnert es ihn dennoch an Auschwitz: „Weil es dort so etwas nicht gab.“



Der im Jahr 1992 mit einem unerwarteten Pulitzer-Preis prämierte amerikanische Zeichner und Karikaturist Art Spiegelman hat mit seinen berühmten Maus-Bänden „Mein Vater kotzt Geschichte aus“/„Und hier begann mein Unglück“ einen bislang in diesem Genre unerreichten, geradezu stilbildenden Klassiker geschaffen, in dem er auf äußerst prägnante, düster-depressive Art und Weise das Grauen der Schoah anhand des Leidenswegs seiner Eltern Revue passieren lässt, die auch nach dem Krieg im amerikanischen Exil innerlich nie zur Ruhe kamen – die Mutter beging 1968 Selbstmord – und auf diese Weise auch den Sohn als gleichsam „typischen“ Vertreter der sogenannten „zweiten Generation“ in seiner Weltwahrnehmung und in seiner Persönlichkeit nachhaltig prägten.

Diesem schwierig zu gestaltenden lebenslangem Thema hat sich der belgisch-israelische Karikaturist und vielbeschäftigte Illustrator von Kinderbüchern Michel Kichka (geboren 1954 in Lüttich) auf gänzlich andere, poetischere Art und Weise und in seiner ganz eigenen charakteristischen Bildsprache gewidmet. Seine innerhalb eines langwierigen schmerzhaften persönlichen Prozesses der Bewusstwerdung und Verarbeitung der eigenen traumatischen Familiengeschichte entstandene Graphic Novel „Zweite Generation – Was ich meinem Vater nie gesagt habe“ orientiert sich trotz der durchgängig-konsequenten (und dem Thema angemessenen) Ausführung in Schwarzweiß eindeutig am in seinem Grundcharakter eher leichtfüßigeren europäischen Comic belgischer Prägung, die er in Form so vertrauter Figuren wie Tintin, Gaston oder des Marsupilami bei passender Gelegenheit immer wieder kenntnisreich zitiert.


Doch auch Kichkas langjährige Erfahrung als politischer Karikaturist für israelische und europäische Tageszeitungen lässt sich an seinen geistreichen autobiographischen Zeichnungen deutlich ablesen. Dabei scheut der originelle Zeichner und langjährige Präsident der israelischen Karikaturistengilde keine großen metaphorischen Gesten: auf einer fast die gesamte Seite einnehmenden Zeichnung steht sein Vater einsam am Stracheldraht von Auschwitz bis zu den Knien in seinen eigenen Tränen; auf einem anderen Bild hängt er in der bekannten Pose des Stummfilmstars Harold Lloyd am Zeiger einer riesigen mechanischen Uhr, die exakt am Tag und in der Stunde seiner Verhaftung für alle Zeit stehengeblieben scheint. Und „Zeichne mir eine Familie“, bittet der kleine Michel in poetischer Anlehnung an Saint Exuperys kleinen Prinzen seinen ratlos dreinblickenden Vater auf der Oberfläche eines winzigen Planeten vor dem schwarzen Hintergrund eines menschenleeren Universums.

Obwohl er seine Eltern stets als sehr liebevoll wahrgenommen hat, wuchs Michel Kichka (wie seine drei Geschwister auch) fern von ihnen in einem katholischen Internat auf. Das Familienleben war geprägt vom Schweigen des Vaters, von dessen depressiven Phasen und chronischen körperlichen Leiden wie unterschiedlichsten psychosomatischen Beschwerden. Erst spät in seinem Leben gelang es Henri Kichka, ein Buch über seinen Leidensweg während der Schoah zu schreiben, mit siebzig begleitete er erstmals eine belgische Jugendgruppe nach Auschwitz – ein ehrenamtliches Engagement, das er von da an regelmäßig mindestens einmal im Jahr ausfüllen sollte. Während Michel schon in Jugendjahren nach Israel emigrierte und sich auf diese Art und Weise zu distanzieren vermochte, nahm sich sein jüngerer Bruder Charly in der festen Überzeugung, persönlich und menschlich versagt zu haben, das Leben.

Michel Kichka, 2008

Michel Kichkas große Stärke und wunderbare Begabung in seinem vorliegenden großen Werk besteht in der überaus seltenen Fähigkeit, scheinbar Unsagbares im poetisch-zauberhaften Zusammenwirken von Sprache und Bild für den Leser dennoch unmittelbar erfassbar und zugänglich zu machen. Am Ende seiner Erzählung, die auch den beinahe lebenslangen Entstehungsprozess seiner Graphic Novel umfasst, schwebt der Autor innerlich strahlend und mit weit ausgebreiteten Armen schwerelos über den aufgeschlagenen Seiten seines vollendeten Albums: „Noch niemals hatte ich mich so gut gefühlt.“ Diese allumfassende positive Annahme seines eigenen Schicksals sowie des Lebens an sich scheint Michel Kichka explizit auch auf den trotz der Schwere des Stoffes merkwürdig gut unterhaltenen Leser ausweiten zu wollen, der schließlich das nachhaltig befreiende Gefühl eines tieferen Begreifens genießen darf: hier zeigt Michel Kichka die unermesslichen wunderbaren Möglichkeiten der Graphic Novel vorbildlich auf.

„Zweite Generation“, aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock, erschienen bei Egmont, 111 Seiten, € 19,99

(Dieser Text ist bereits in einer gekürzten Fassung in der Printausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen.)

Montag, 23. Juni 2014

„Marie Marne und das Tor zur Nacht“ von Christoph Werner

Der bekannte Schriftsteller Michael Ende (1929-1995) hat, geprägt vom phantastisch-surrealistischen künstlerischen Mikrokosmos seines malenden Vaters Edgar Ende (1901-1965), ein hoch originelles, überaus vielschichtiges literarisches Werk hinterlassen, das im Kontext der internationalen Kinder- und Jugendliteratur bis heute als einzigartig gilt: Bücher wie „Jim Knopf“, „Momo“ oder „Die unendliche Geschichte“ gelten vollkommen zu Recht als unvergängliche Klassiker. In seinem vielleicht am wenigsten zugänglichen Werk „Der Spiegel im Spiegel“, einem auf kühne, assoziative Art und Weise engstens verzahnten literarischen Labyrinth dunkel-glänzender Traumvisionen, zitiert Michael Ende einige Bildideen seines Vaters sogar ganz unmittelbar: hier scheint die Grenze zwischen dem menschlichen Bewußtsein und der Welt des Unbewussten in noch stärkerem Maße aufgehoben als in seinen Kinderbüchern.



Die Ehre, mit Michael Ende verglichen zu werden ohne es von vornherein bewusst darauf angelegt zu haben, kann ein ambitionierter Schriftsteller vermutlich nur dann erreichen, wenn er nicht nur eine wirklich schlüssige Grundidee vorzuweisen hat, sondern darüber hinaus auch im kreativen Prozess des Schreibens viele weitere originelle Einfälle zu erarbeiten vermag und dabei keinen Gedanken an einen möglichen Vergleich verschwendet, sondern letztlich nur seinem eigenen literarischen Thema folgt und bis zum Ende treu bleibt. Dem renommierten Theaterregisseur und (nach zahlreichen internationalen Stationen) Leiter des Puppentheaters Halle/Saale, Christoph Werner (geboren 1964), ist gleich mit seinem ersten Roman für junge Leser ein ganz großer Wurf gelungen, der ganz unwillkürlich an die literarische Welt Michael Endes denken lässt: in seinem Buch „Marie Marne und das Tor zur Nacht“ ist es allein der unwiderstehlichen dreizehnjährigen Titelheldin vorbehalten, mit Hilfe ihrer außergewöhnlichen individuellen Talente und Fähigkeiten nicht weniger als die gesamte Menschheit aus einer selbstverschuldeten Notsituation zu retten.

Schlafen Sie nicht, wenn Sie müde sind! Schlafen Sie, wenn Sie Lust dazu haben!“

In einer fiktiven Realität, die im wesentlichen unserer aktuellen Gegenwart entspricht, hat der internationale Großkonzern All Day Industries (ADI) mit einer eigenen obskuren neurowissenschaftlichen Erfindung nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die Privatsphäre der Menschen revolutioniert: in den Filialen des Unternehmens kann man nach der Ermittlung seines persönlichen ADI-Wertes, einer Art in Tagen ausgedrückter persönlicher „Schlafenergie“, einen vor Ort auf technischem Wege herbeigeführten ADI-Traum erwerben, der ursächlich bewirkt, dass man nach dem Erwachen für die jeweils vorab ermittelte Zeitspanne – bei den meisten Menschen acht bis vierzehn Tage – nicht mehr schlafen muss. Diese ebenso erfolgreiche wie lukrative Geschäftsidee wird jedoch nicht nur von jenen Menschen genutzt, die sich diesen vermeintlichen Luxus Dank ihres hohen Grundeinkommens problemlos leisten können, sondern auch von jenen, die aufgrund ihrer geringen Einkünfte rund um die Uhr arbeiten müssen.

So, wie Sie das schildern, klingt alles sehr schön“, sagte Mrs. Pommeroy und beugte sich vor. „Aber Sie wissen, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Es gibt bestimmte Berufsgruppen, bei denen wird es mittlerweile stillschweigend vorausgesetzt, dass man regelmäßig einen ADI-Traum hat. Arbeitnehmer mit geringem Einkommen haben nicht selten einen zweiten Job, mit dem sie die Ausgaben für ihre ADI-Träume finanzieren müssen, weil die in ihrem ersten Job verlangt werden. Und diese Tendenzen nehmen zu.“

Bereits am Anfang des Buches begleitet die dreizehnjährige Marie ihren Vater, einen bekannten Filmkomponisten, in eine ADI-Filiale. Mit Hilfe eines neuen ADI-Traumes und der daraus resultierenden Wachphase von dreizehn Tagen möchte dieser neben seinem umfangreichen üblichen Arbeitspensum auch die kurz bevorstehende eigene Geburtstagsparty erfolgreich bestehen können, zu der zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eingeladen sind. Um die lange Wartezeit bis zu seinem Aufwachen zu überbrücken misst der unbedachte Auszubildende Jonas ungesetzlicherweise (denn ADI-Träume darf man erst ab einem Alter von achtzehn Jahren kaufen) Maries individuellen ADI-Wert, der vollkommen unfassbare 113 Tage ergibt – ein nie zuvor dagewesener Fall, den Jonas sogleich an die Konzernzentrale weitermeldet, den diese wiederum mit auffällig großem Interesse zur Kenntnis nimmt.


Edgar Ende: "Das Spiegelbild", 1948


Während der anschließenden Party im Grandhotel geschieht das Undenkbare: Maries Vater gerät in einen scheinbar unumkehrbaren Zustand zwischen Träumen und Wachen, der ihn bei scheinbar vollem Bewusstsein und normalen Vitalfunktionen völlig lethargisch und absolut unansprechbar macht, so dass er von den Ärzten schließlich zur Beobachtung ins Krankenhaus verlegt werden muss, wo er wochenlang wortlos dahinvegetiert und selbst seine nächsten Angehörigen nicht mehr wiederzuerkennen vermag. In ihrer größten Verzweiflung wird Marie von dem merkwürdigen, scheinbar allwissenden Mr. Phisto aufgesucht, einem kauzigen, spindeldürren Alten mit strähnigen grauen Haaren und einem altmodischen, nicht sehr kleidsamen Hut, der dem jungen Mädchen zu vermitteln versucht, dass sie aufgrund ihrer außergewöhnlichen Schlafenergie die einzige sei, die ihren Vater ins Leben zurückholen könne.

Marie blieb an der Tür stehen. Es war wie jedes Mal, wenn sie herkamen: Sobald sie ihren Vater sah, fing ihr Herz heftiger zu schlagen an. Es war unbelehrbar, dieses Herz, es wollte sich nicht daran gewöhnen, dass Hannes sie nicht erkannte. Dass er seine eigene Tochter nicht erkannte, seine Frau nicht, niemanden. Dass er nicht sprach, dass er wie abwesend war. Jedes Mal, wenn ihr Herz den ersten Freudensprung getan hatte, kam die Traurigkeit.

Dazu müsse sie sich zunächst in drei von ihm präzise definierte Träume fremder Menschen begeben, um dort einige von ihm vorgegebene Aufgaben zu erledigen und dann in einem vierten und letzten Traum mit Hilfe der in den vorherigen Träumen erworbenen Gegenstände ein furchterregendes schwarzes Tor am Rande einer surrealistisch anmutenden Landschaft zu öffnen. Das Vorhaben gelingt, und ihr Vater erwacht – jedoch muss Marie bereits am nächsten Morgen erkennen, dass Mr. Phisto sie auf heimtückische Art und Weise betrogen hat, denn seit sie das Schwarze Tor geöffnet hat, werden die Menschen überall auf der Welt von quälenden Alpträumen heimgesucht, sobald sie nur für kurze Zeit die Augen schließen: an Schlaf jeglicher Art ist nicht mehr zu denken. Während Politik und Wissenschaft schon bald ihre Machtlosigkeit öffentlich anerkennen müssen, gibt es für die von quälender Schlaflosigkeit hoffnungslos zerrüttenden Menschen scheinbar nur einen einzigen Ausweg zur Bewältigung ihres Alltags: die ADI-Träume.

Edgar Ende: "Nachtwache", 1963

Als die von Selbstvorwürfen zermarterte Marie sich schließlich hilfesuchend an einen ausgewiesenen Experten für das geheimnisvolle Paralleluniversum des Unbewussten wendet, den verschroben wirkenden Neuropsychologen Professor Monroe, wird ihr jedoch noch eine andere mühevolle Möglichkeit zur Wiederherstellung des Normalzustandes aufgezeigt: sie muss sich erneut ins Reich der Träume begeben, um sich dort zunächst ihren ganz persönlichen Alpträumen entgegenzustellen und das furchterregende Schwarze Tor wieder zu schließen. Dazu kann sie sich jedoch der unerwarteten Hilfe des „Hafenmeisters“ Professor Monroe, einer „Die Nächtige“ genannten weisen alten Frau sowie einer mutigen Gruppe von sogenannten „Traumwächtern“ sicher sein. Als der ADI-Konzern und Mr. Phisto von Maries couragiertem Plan erfahren, kommt es zum ebenso symbolträchtigen wie spannenden Showdown in der Carl-Gustav-Jung-Straße 49.

Du kannst mich nicht besiegen“, sagt er ruhig, aber laut. „Du wirst es nie können. Egal, was der kleine Professor und seine Freunde dir erzählen. Du bist zu gut, du bist zu wohlerzogen. Dir fehlt der Hass, der durch Entbehrung entsteht, durch Mangel, durch fortwährendes Zurückgesetztwerden. Du hast einen liebenden Papa und eine liebende Mama und einen Onkel und ein Einfamilienhaus und liebe Freundinnen und vielleicht bald einen Freund. Dir fehlt nichts. Du bist ein westeuropäisches Wohlstandskind. Was will eine wie du mit soviel dunkler Energie? Das ist Verschwendung, ein Irrtum, eine dumme Laune der Natur, ein Fehler im Plan. Ich rate dir, halt dich raus. Geh in eine ADI-Filiale, dann hast du keine Albträume mehr.“

Christoph Werner

Christoph Werners Buch ist mit seiner inhaltlich ausgesprochen reichen, überaus fantasievollen Handlung, die auf ebenso engagierte wie moderate Art und Weise für einen geistig wachen Umgang mit der Realität und eine versöhnlichen Beziehung zur unbequemen, aber hilfreichen Welt des Unbewussten eintritt, eine echte literarische Überraschung, der man gar nicht genug Leser wünschen kann. Der Autor versteht es auf wunderbare Art und Weise, drängende Fragen unserer Zeit so geschickt zu formulieren, dass sie für den Leser sofort intuitiv annehmbar scheinen, gleichzeitig aber nicht von ihm verdrängt werden können. Die große Kunst Christoph Werners besteht darin, weder den spannenden Fortlauf der Handlung noch die Entwicklung der überzeugenden Charaktere seiner engagierten Grundhaltung zu opfern – seine Zeitkritik wird auf kongeniale Art und Weise eher zwischen den Zeilen deutlich. „Marie Marne und das Tor zur Nacht“ ist ein Buch für alle Generationen, das die Welt der Träume anders als die klassische Fantasy nicht als Weltflucht begreift, sondern als konkrete Bereicherung unserer Wahrnehmung und somit als geeignetes Hilfsmittel zur Lösung unserer drängendsten Probleme, die nur in einer ehrlichen Synthese mit dem menschlichen Verstand gelöst werden können. Hier ist er vollkommen im Einklang mit der Philosophie Michael Endes.

„Marie Marne und das Tor zur Nacht“, erschienen bei Osburg, 245 Seiten, € 17,99

Samstag, 14. Juni 2014

Fünf Bücher, nicht nur für Fußballfans

Der professionelle Fußball ist schon sehr lange ein einträgliches Millionengeschäft – im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre ist diese Tatsache jedoch so offensichtlich geworden, dass nicht wenigen langjährigen Fans zumindest zwischenzeitlich die ganz große Begeisterung verloren zu gehen droht, weil sie nicht zu Unrecht argwöhnen, dass vielen einflussreichen Funktionären mittlerweile das kalkulierte Geschäft wichtiger ist als die Schönheit und Unberechenbarkeit des Spiels. Der Markt ist so unüberschaubar und die Grenzen zu anderen Wirtschaftszweigen so unscharf geworden, dass populäre Fußballer heute nicht mehr nur für Rasierapparate und Rasenmäher werben, sondern auch für die unterschiedlichsten Arten von Kosmetikprodukten. Fußball ist so sehr in den Blickpunkt einer breiten, nach wertlosem inhaltsleeren Konsens strebenden Öffentlichkeit gerückt, dass plötzlich selbst der Frage nach der sexuellen Orientierung von Profifußballern größte gesellschaftliche Bedeutung zugesprochen wird, während die private Rückzugsmöglichkeit des einzelnen Fans in die konzentrierte Betrachtung des Spiels nahezu unmöglich geworden ist.


Football - The Beautiful Game


Hinter all diesen im Grunde abseitigen Problemstellungen drohen wir leider allzu leicht zu vergessen, dass Fußball uns vor allem höchst wirksam dazu einlädt, auf konzentrierteste Art und Weise Anteil an der Gegenwart des Spiels zu nehmen, unmittelbar gleichzeitig zu sein mit dem Geschehen und damit ganz bei uns und unserem eigenen Erleben – eine geradezu ganzheitliche Erfahrung, die wir in unserem täglichen Leben jenseits von esoterischen Zirkeln und spirituellen Wochenendseminaren kaum noch selbst machen dürfen. In diesem wunderbaren Phänomen liegt schließlich die unverwüstliche Faszination des Fußballs begründet: sobald das Spiel beginnt, dürfen wir ihm unsere ganze Aufmerksamkeit widmen und buchstäblich alles andere vergessen – das reale Geschehen auf dem Platz hat am Ende immer wieder die Kraft die beschriebenen Ärgernisse und beklagenswerten Nebenschauplätze zu überwinden und uns ausschließlich für das Spiel zu begeistern. In dieser Hinsicht kann Fußball sogar eine wirksamere und universellere Schule des menschlichen Erlebens mit allen Sinnen sein als das Lesen guter und wesentlicher Literatur, denn ein fesselndes Buch simuliert lediglich die ungeteilte Aufmerksamkeit, die wir unserem eigenen Leben widmen könnten.



Julius Hirsch. Nationalspieler. Ermordet.“ von Werner Skrentny


Nur die wenigsten Fans der deutschen Fußballnationalmannschaft dürften sich der Tatsache bewusst sein, dass in der eindrucksvollen Geschichte ihres Teams nicht etwa Gerd Müller oder Miroslav Klose als Spieler mit der höchsten durchschnittlichen Trefferquote gelten darf, sondern – mit 2,17 Toren pro Spiel – der von den Nationalsozialisten aus seiner badischen Heimat ins amerikanische Exil vertriebene jüdische Mittelstürmer Gottfried Fuchs (1889-1972). Sein langjähriger Sturmpartner im Nationalteam wie im Heimatverein, Julius Hirsch (1892-1943), zweimaliger deutscher Meister und siebenmaliger Nationalspieler, wurde dagegen brutal im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.



Der deutsche Weltmeistertrainer von 1954, Sepp Herberger, der Hirsch und Fuchs in seiner Jugend noch als umjubelte Spieler des Karlsruher FV gesehen hatte, schwärmte noch am Ende seines Lebens von den beiden jüdischen Offensivspielern:

Vor allem der Karlsruher Innensturm mit Förderer, Fuchs, Hirsch, dem damals ein sagenhafter Ruf vorausging, imponierte mir mit seinen technischen Kunststückchen und bestechenden Kombinationszügen so sehr, dass ich sie heute noch in der Erinnerung nachziehen könnte.

Der renommierte Sportjournalist Werner Skrentny, Autor zahlreicher Bücher und Artikel zur deutschen Fußballgeschichte, hat als Ergebnis jahrzehntelanger privater Recherchen und gefördert von der Kulturstiftung des DFB einen beeindruckenden, 352 Seiten starken Band vorgelegt, der ganz dem Andenken des Fußballers und Menschen Julius Hirsch gewidmet ist, dessen Leben sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten radikal änderte: Anfang 1933 musste die von seinem Bruder in finanzielle Schwierigkeiten gebrachte elterliche Firma „Deutsche Signalflaggenfabrik“, ein international führender Hersteller unter anderem von Lederfußbällen, Konkurs anmelden.

Julius Hirsch (re.), Gottfried Fuchs (Mi.) im Dress des KFV


Neben seiner Tätigkeit als Trainer verschiedener Vereine gelang es Hirsch in der Folge nie wieder, langfristig in einem bestimmten Beruf Fuß zu fassen, so dass er bei seiner Deportation am 1. März 1943 im nationalsozialistischen Amtsjargon lediglich als „Hilfsarbeiter“ geführt wurde, was in letzter Konsequenz bewirkte, dass der bekennende Deutschnationale bei der Selektion in Auschwitz weder als Fußballidol noch als ehemaliger Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs und Träger des Eisernen Kreuzes II. Klasse erkannt wurde, sondern als einer unter vielen unverzüglich ins Gas geschickt wurde.

Diese menschenverachtende, zynisch-rohe Brutalität, die nichts und niemanden achtet als die eigene verquere lebensfeindliche Ideologie, verstört auch aus zeitlicher Distanz immer wieder aufs Neue: sie muss in der Tat als absoluter Tiefpunkt der modernen europäischen Geschichte gelten. So darf man es als schöne, symbolträchtige Geste werten, dass der DFB im Jahr 2005 den jährlich zu vergebenden Julius-Hirsch-Preis für Toleranz und Menschenwürde ins Leben gerufen hat. Die Leistung von Werner Skretny, der für sein wunderbares Buch sogar als Erneuerer der Freundschaft zwischen den Familien von Julius Hirsch und Gottfried Fuchs fungieren durfte, kann man kaum hoch genug bewerten.






Wir haben noch das ganze Leben“ von Eshkol Nevo


Zum Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 1998 in Frankreich zwischen dem Gastgeber und Brasilien haben sich vor dem häuslichen Fernseher in Tel-Aviv vier Freunde um die dreißig versammelt, die sich bereits seit Jugendtagen kennen und die bereits seit 1986 jedes Finale gemeinsam anschauen. Dabei wird gefachsimpelt, getrunken, gescherzt und gelacht, und aus einer spontanen Laune heraus entsteht die Idee, jeder der vier solle seine drei wesentlichen Lebensträume auf einen Zettel schreiben und in einem Umschlag verschließen – beim nächsten Endspiel vier Jahre später wolle man dann sehen, was von diesen Wünschen sich bis dahin tatsächlich verwirklicht habe.




Für den introvertierten Erzähler Juval hängen alle drei Wünsche mit seiner anmutigen Lebensgefährtin Ja’ara zusammen; der kauzige Amichai möchte eine Naturheilpraxis eröffnen, und der nach Höherem strebende Ofir endlich seinem verhassten Brotjob in der Werbeindustrie entsagen, um einen Band mit Kurzgeschichten zu veröffentlichen. Der ebenso ehrgeizige wie zielstrebige Joav schließlich, genannt „Churchill“, möchte eine glanzvolle Karriere in der Staatsanwaltschaft in Angriff nehmen.

Was wie ein belanglos-unterhaltender „Frauenroman für Männer“ in einem leichten Plauderton beginnt, entfaltet sich schon bald auf mitreißende Art und Weise zu einem sehr ambitionierten, im Erzählton hoch authentischen literarischen Panorama der israelischen Gesellschaft und ihrer wesentlichen Fragen, in dem der 1971 in Jerusalem geborene Eshkol Nevo sich nicht nur als einer der stilistisch-vielseitigsten und talentiertesten israelische Schriftsteller der jüngsten Generation erweist, sondern auch den hohen Erwartungen nach seinem selbst in Frankreich und Großbritannien mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichneten Debüt „Vier Häuser und eine Sehnsucht“ (2005) gerecht wird.

Ich dachte an Juvals großes Verlangen, die „bahaiische Symmetrie“ herzustellen, und daran, dass letzten Endes durchaus etwas dran sein konnte an den Worten seines Workshopleiters, der Wunsch hier, an diesem Ort nach der Harmonie eines Bahaiigartens zu streben, ähnele ein bisschen dem Wunsch der israelischen Nationalmannschaft, sich für eine Weltmeisterschaft zu qualifizieren: ein Bestreben das leider, leider immer im Bereich des Wunsches bleiben wird.

Zwar ist sein von Markus Lemke übersetzter zweiter Roman formal weit weniger experimentierfreudig ausgefallen als sein vielstimmiger erster über eine Haugemeinschaft in  Jerusalem, der in seiner stilistischen Variabilität an den frühen Abraham B. Jehoschua erinnerte, wenn auch um ein vielfaches lyrischer im Ton, dennoch gelingt es dem Enkel des ehemaligen israelischen Premierministers Levi Eshkol auch hier, präzise, gut-beobachtete Alltagsbetrachtungen zu anspruchsvoller und zugleich unterhaltsamer Literatur zu sublimieren und das vordergründig banale Thema der Männerfreundschaft so sorgfältig, einfühlsam und humorvoll auszuarbeiten, dass sie am Ende als einziger gangbarer Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit gesellschaftlicher Resignation erscheint.


Eshkol Nevo

Denn am Vorabend der Weltmeisterschaft 2002 ist plötzlich nichts mehr, wie es war: Ja’ara hat eine die Freundschaft sprengende Affäre mit Churchill begonnen, alle Hoffnungen auf einen dauerhaften Frieden mit den Palästinensern sind zunichte, und Juval liegt nach einem gewalttätigen Zwischenfall mit einem an einer posttraumatischen Störung leidenden ehemaligen Angehörigen der israelischen Streitkräfte mit schweren Gehirnverletzungen im Koma. Eshkol Nevos große Kunst ist es, keinen der großen Konflikte der israelischen Gesellschaft auszusparen und dennoch nicht in bittere Hoffnungslosigkeit zu verfallen:



„Wir haben noch das ganze Leben“, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, erschienen bei dtv, 436 Seiten, € 9,90




Unten sind ein paar Typen“ von Antonio Dal Masetto


Die Grenzen zwischen realer Bespitzelung und Paranoia sind fließend in einem Überwachungsstaat, und das Opfer staatlicher Willkür läuft Gefahr, sich in einer lähmenden Atmosphäre ständigen Selbstzweifels zu verlieren und letztlich an seinem so erzeugten permanenten seelischen Ausnahmezustand zu zerbrechen. Diese erniedrigende Erfahrung ist allen Verfolgten totalitärer Regime gemein, ob sie es mit der Gestapo zu tun haben oder mit der Stasi, mit dem KGB oder dem argentinischen Geheimdienst.

Aber kaum ein Schriftsteller hat dieser Atmosphäre allgegenwärtiger Bedrohung jemals auf so elegante, spannende und treffende Weise literarische Form verliehen wie der argentinische Schriftsteller Antonio Dal Masetto, geboren 1938 am Lago Maggiore, in seinem meisterhaften Kurzoman „Unten sind ein paar Typen“. Schon der klug gewählte Titel des Buches führt uns mitten hinein in den stetig zunehmenden Zweifel des Protagonisten: Pablos Freundin hat vor dessen Haus zwei Männer in einem Auto entdeckt, die dort offensichtlich Stellung bezogen haben, um das Gebäude zu observieren.



Es ist der Vorabend des Fußballweltmeisterschaftsendspiels 1978, Argentinien gegen Holland, Stromausfälle und Störungen des Telefonnetzes sind an der Tagesordnung, eine unbestimmte, noch richtungslose Unruhe hat das Land ergriffen. Man hört zuweilen, dass Nachbarn spurlos verschwinden oder dass Leichen an der Küste an Land gespült werden. Die Militärjunta erwartet von allen Staatsbürgern eine bedingungslose Unterstützung des argentinischen Teams, man will die sportliche Großveranstaltung nutzen, um Imagewerbung für das Land zu betreiben.

Zunächst kann sich Pablo nicht vorstellen, dass die Unbekannten möglicherweise hinter ihm her sind, aber als er beschließt, sie unauffällig auf die Probe zu stellen, muss er erleben, wie sich langjährige Freunde von ihm abwenden und auch seine noch junge Liebesbeziehung plötzlich radikal auf der Kippe steht. „Unten sind ein paar Typen“ ist die konzentrierteste, hellsichtigste und gescheiteste literarische Abhandlung über die Funktionsweise des Terrors, die man seit langem lesen konnte.


„Unten sind ein paar Typen“, aus dem Spanischen von Susanna Mende, erschienen im Rotpunktverlag, 146 Seiten, € 16,-




Titelkampf“ – Fußballgeschichten der deutschen Autorennationalmannschaft



Am 6. Mai 2008 fand auf einem Nebenplatz des Berliner Olympiastadions unter der Schirmherrschaft des damaligen Bundesaußenministers Frank-Walter Steinmeier und DFB-Präsident Theo Zwanziger ein denkwürdiges Fußballspiel statt: die deutsche Autorennationalmannschaft, Vizeweltmeister 2005 und Dritter von 2007, spielte zum ersten Mal gegen das für diese Gelegenheit eigens und erstmals formierte Team Israels. Zwar ging der Sieg mit 4:2 an das eingespieltere Team, doch waren es für alle Beteiligten ohnehin am allerwenigsten sportliche Belange, die sie zu diesem interessanten Projekt bewogen hatten.

Die herzliche Atmosphäre während und nach dem Spiel sowie die am Abend danach stattfindende gemeinsame Lesung der beiden Teams in den Kammerspielen des Deutschen Theaters waren das beste Beispiel für die völkerverbindenden Aspekte von Sport und Literatur. Es wäre schön gewesen, wenn aus dieser beide Seiten so offensichtlich bereichernden Begegnung ein Buchprojekt hätte entstehen können, da viele der teilnehmenden israelischen Autoren bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden sind.




Stattdessen wird sich der Leser mit der ausgesprochen unterhaltsam zu lesenden Anthologie der deutschen Autorennationalmannschaft begnügen müssen, deren Thema allein das Spiel ums runde Leder ist. „Titelkampf“ ist die ideale Lektüre für jeden Fußballfan, dem die O-Töne von Profifußballern, Beiträge im TV und in Sportzeitschriften oder die Einschätzungen anderer Gleichgesinnter in den Sportsbars zu banal sind. Erstaunlich vielfältig sind die Texte von so unterschiedlichen Schriftstellern wie Theaterautor Moritz Rinke, Stammtorwart Albert Ostermaier, Regisseur Sönke Wortmann oder Stars der Berliner Lesebühnen wie Jochen Schmidt oder Uli Hannemann: Satire, Reportage, ambitionierte Kurzgeschichte oder Lyrik – es ist eine wahre Freude für den anspruchsvolleren Fußballfan, sich auf so geistreiche und unterhaltsame Art mit seinem Lieblingssport beschäftigen zu können. Zwar hat sich der Fußball in den letzten Jahren auch in den Feuilletons der großen überregionalen Zeitungen etabliert, aber für wie viele spannende, bewegende und lustige Geschichten er wirklich gut ist, sofern talentierte Schriftsteller davon erzählen, beweist erst diese liebevoll zusammengestellte Anthologie.


„Titelkampf“, erschienen bei Suhrkamp, 284 Seiten, € 8,90




Doppelpass“ von Charles Lewinsky



Charles Lewinsky ist ein literarisches Genie! Seit der für ihn im Alter von immerhin sechzig Jahren erst relativ spät eingetretenen, gleichwohl hoch verdienten internationalen Anerkennung infolge des Erscheinens seiner bisher in zehn Sprachen übersetzten grandiosen deutsch-jüdischen Familienchronik „Melnitz“ (2006) hat der langjährige erfahrene Fernseh- und Theaterautor, Texter von Couplets und Ghostwriter aus Zürich mit jedem seiner weiteren Werke nicht nur eine fabelhaft umtriebige schöpferische Fantasie an den Tag gelegt, sondern immer wieder auch eindringlich bewiesen, dass er sich auf geradezu virtuose Art und Weise in nahezu jede literarische Gattung einzufühlen vermag, um jeweils höchst überzeugende „wahre“ literarische Abbilder der unterschiedlichsten Lebensrealitäten zu schaffen.

Wer kann schon von sich behaupten, in China mit dem kurioserweise alljährlich vergebenen Preis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres ausgezeichnet worden zu sein? Charles Lewinsky ist sicherlich kein bescheidener Autor, aber er hat auch absolut keinen Grund dazu: er weiß genau, was er kann, und sein schriftstellerisches Talent ist so offensichtlich, dass er getrost über seine hohen Ambitionen sprechen darf, ohne als Aufschneider gelten zu müssen, etwa wenn er in der kurzen Vorrede zu seinem Roman „Doppelpass“ bemerkt, die Form des Fortsetzungsromans habe ihn „gereizt, weil sie schön schwierig war. [...] Und weil sich eine ganze Menge großer Vorgänger auch schon mit dem gleichen Problem herumgeschlagen haben: Charles Dickens, Alexandre Dumas oder Arthur Conan Doyle – das ist doch eine ehrenwerte Ahnenreihe.“



Das anachronistisch wirkende Angebot, einen Fortsetzungsroman klassischen Zuschnitts zu schreiben, kam von der renommiertesten Schweizer Wochenzeitschrift Die Weltwoche; dort erschien der in der Buchausgabe 320 Seiten umfassende Roman „Doppelpass“ im Verlaufe des letzten Jahres in insgesamt fünfzig Folgen. Wenn Zeitungen – was auch heute noch durchaus üblich ist – ihren Lesern Fortsetzungsromane anbieten, sind das in aller Regel konventionelle, bereits vollständig und gedruckt vorliegende Romane, die von der jeweiligen Redaktion um der Fortsetzungsform willen nachträglich in homogene Teile zerlegt werden. Der ebenso ehrgeizige wie experimentierfreudige Charles Lewinsky hingegen hat vollkommen nach klassischem Vorbild gearbeitet und jede einzelne Woche des Jahres ein vollständiges Kapitel von 10.000 Zeichen abgeliefert, wobei er sich zu Beginn seines Textes über wenig mehr als das ungefähre Gerüst der Handlung im Klaren war.

Die Lektüre von „Doppelpass“ ist ein überaus humorvolles, geistreiches und kurzweiliges – ja absolutes Lesevergnügen, was ohne Frage nicht zuletzt der besonderen literarischen Form geschuldet ist, die ähnlich wie amerikanische Fernsehserien einen Cliffhanger am Ende jedes Kapitels sowie eine überraschende Auflösung am Beginn des folgenden Abschnitts bedingt. Doch auch in sich sind die einzelnen Kapitel kleine scharfsinnige Meisterwerke der satirisch-philosophischen Alltagsbetrachtung. „Doppelpass“ ist die Geschichte des gefeierten schwarzafrikanischen Fußballstars Tom Keita und seiner ehrgeizigen, publicitysüchtigen Model-Verlobten Ilona, seines Cousins Mike, der eines Tages als illegaler Einwanderer vor seiner Tür steht, sowie die Geschichte des populistischen Politikers Eidenbenz, Präsident von Keitas Fußballklub – ein absurder Jahrmarkt der Eitelkeiten, der die Mechanismen von Politik und geschäftsmäßigem Profisport gekonnt entlarvt und auf die Spitze treibt.


„Doppelpass“, erschienen bei dtv, 320 Seiten, € 9,90


Mittwoch, 4. Juni 2014

„Kornblumenblau“ von Schünemann & Volić

Wie hiesige Reaktionen auf die noch andauernde bittere Krise in der Ukraine sowie die leidenschaftslos-routinierte, vornehmlich ablehnende Sicht des Normalbürgers auf die einzelnen Konflikparteien eindrücklich beweisen, gehören die unabhängigen Staaten Osteuropas auch zwei Generationen nach Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch zu den großen Fremdkörpern im schemenhaft-unentwickelten europäischen Selbstverständnis vieler Bundesbürger, die ihre Sympathien aus träger Gewohnheit eher westeuropäischen Nachbarländern schenken, mit denen sie sich in gemeinsamer Kultur stärker verbunden glauben. „Polnische Wirtschaft“ oder „Russische Verhältnisse“ sind nur zwei der hartnäckigsten historischen Stereotypen die geradezu sprichwörtlichen Eingang in die deutsche Alltagssprache gefunden haben. Über Länder wie Serbien, Kroatien oder Albanien gibt es zahllose gängige Vorurteile, die sich im Laufe der letzten zweihundert Jahre ebenfalls kaum verändert zu haben scheinen.





Dabei bleibt deutlich hervorzuheben, dass besonders die vielbeschworene deutsch-französische Freundschaft, wie sie heute zu Recht gerühmt wird, zuallererst das Produkt einer jahrzehntelangen gemeinsamen intensiven politischen Anstrengung ist, die erst durch gezielt herbeigeführte persönliche Begegnungen und ein tiefgreifendes wechselseitiges Kennenlernen über mehrere Generationen die überkommene und von vielen nationalistisch gesinnten Intellektuellen des kolonialistischen Zeitalters pseudophilosophisch zur erbitterten Kulturfrage überhöhte Feindschaft der Vergangenheit nachhaltig zu überwinden vermochte: ein ebenso lebensfroher wie genussfreudiger fiktiver Dorfpolizist wie Bruno aus Martin Walkers wunderbaren, im südfranzösischen Perigord angesiedelten Kriminalromanen, der lieber schwarze Trüffel, Stopfleber und Rotwein genießt anstatt Verbrecher zu jagen, darf deswegen als virtuoser Lebenskünstler gelten, während ein realer serbischer oder bulgarischer Kollege mit gleichen Angewohnheiten vom Betrachter aus purer geistiger Trägheit vermutlich als verfressen und arbeitsscheu wahrgenommen würde.

Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und streckte die Beine aus. Eigentlich durfte er sich überhaupt nicht beschweren. Sein Bruder war arbeitsloser Anstreicher und schleppte den Leuten in Novi Sad die Kohlen für den Winter, seine Mutter putzte Klos auf einer ungarischen Autobahnraststätte. Und seit seine Schwester gesagt hatte, dass sie rüber wollte nach Österreich, in ein irgendwie besseres Leben, hatte niemand mehr etwas von ihr gehört. Er machte sich Sorgen. In Dragaš, dem Dorf im südwestlichen Kosovo, an der Grenze zu Albanien, waren nur noch die Großeltern und die Ziegen, und ob die Familie dort jemals – und sei es auf dem Friedhof – wieder zusammenkommen würde, stand in den Sternen. […] Man konnte es auch so sehen: Er hatte geschafft, was in der Familie keiner vor ihm geschafft hatte: Mit zwanzig Lebensjahren war er in Besitz einer Arbeit, einer Sozialversicherung und einer Kochuniform.

So darf es besonders im Sinne der europäischen Verständigung als großer Verdienst der beiden Autoren Jelena Volić und Christian Schünemann gelten, dass sie sich für ihre neue, die internationalen Krimi-Landschaften auf reizvolle Art und Weise erweiternde Buchreihe, deren erster Teil „Kornblumenblau“ bereits im vergangenen Jahr erschienen ist, die neu aufblühende serbische Metropole Belgrad als dankbaren Handlungsort und die ebenso unbestechliche wie unkonventionelle Juristin Milena Lukin als sympathische Ermittlerin ausgesucht haben, um dem Leser mit hintersinniger Eleganz vor Augen zu führen, dass ein kritischer, unabhängiger Geist und eine sensible, lebenslustige Seele nicht nur überall zu Hause sein können, sondern – losgelöst von sozialer oder geographischer Herkunft – sogar die einzigen wesentlichen Mittel zur individuellen Welterkundung sind.

Belgrad heißt auf Serbisch „die weiße Stadt“. Milena kannte hier jede Straße und jedes Haus – jedenfalls kam es ihr so vor. In den alten Büchern mit Fotos aus früheren Zeiten war freilich etwas anderes zu sehen als dieser graue, mit Reklametafeln gespickte Steinhaufen. Was Serben, Türken und Habsburger über Jahrhunderte gestaltet und gebaut hatten, wurde durch die deutschen Bombenangriffe am sechsten April 1941 weitgehend vernichtet und die Zerstörung durch die Alliierten in den ersten Monaten des Jahres 1944 vollendet. Übriggeblieben waren vereinzelte stuck- und säulenverzierte Prachtbauten aus den vergangenen Jahrhunderten, für die Nachwelt gehegt und gepflegt und umgeben von symmetrischen Blumenrabatten, zierlichen Parkbänken und vornehm plätschernden Springbrunnen. Die schönen alten Kästen waren vorzugsweise den gewählten Vertretern des serbischen Volkes und Dienern der staatlichen Bürokratie vorbehalten – oder zahlungskräftigen Hotelgästen aus dem Ausland.

Jelena Volić und Christian Schünemann

Milena, Anfang vierzig und alleinerziehende Mutter eines zehnjährigen Sohnes aus einer gescheiterten Beziehung mit einem deutschen Komilitonen während des gemeinsamen Studiums in Berlin, bestreitet als hochausgebildete Juristin und Spezialistin für internationales Strafrecht ihr kümmerliches Einkommen als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Kriminalistik und Kriminologie der Universität Belgrad sowie aus Fördergeldern der Deutschen Akademischen Gesellschaft: offiziell erklärtes, aber von ihren Vorgesetzten bewusst hintertriebenes „gemeinsames“ Ziel ist die Errichtung eines Fachbereichs für Internationale Strafverfolgung und Gerichtsbarkeit als europäisches Forschungsprojekt, das künftig das Haager Tribunal aktiv bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien unterstützen soll.

Zwischen diesen Ruinen und alten Denkmälern klaffte eine riesige Lücke, ein schwarzes Loch, in dem eine ganze Welt versunken war. Es war die Welt Jugoslawiens mit dem roten Pioniertuch, den weißen Kniestrümpfen und den Räumen ihrer Kindheit – bewohnt von strengen Tanten und witzigen Onkeln, gewärmt von der Liebe aufmerksamer Eltern, sie duftete nach Gugelhupf und warmem Kakao. Das Abenteuer der ersten Zigarette im kroatischen Inselsommer, der erste Kuss auf der Skihütte in den bosnischen Bergen waren mit einem schalen Gefühl der Enttäuschung aus dem Gedächtnis gelöscht und die Fotos aus den Alben verbannt. Das halbe Jahrhundert einer ganzen Nation war von der Tafel der Weltgeschichte gewischt worden, und jeder Einzelne hatte das Anrecht auf sentimentale Erinnerungen eingebüßt, weil man Kriegsgenerälen und Politikern erlaubte, die Geschichte umzuschreiben.

Als auf dem hochgesicherten Militärgelände von Topčider zwei junge Gardisten der serbischen Eliteeinheit während eines gewöhnlichen Routinerundgangs im Rahmen ihres Wachdienstes unter mysteriösen Umständen zu Tode kommen, behauptet die Militärführung, die beiden unerfahrenen Rekruten seien einem verbotenen archaischen Selbstmordritual zum Opfer gefallen, weswegen man ihnen von amtlicher Seite ein Begräbnis mit den sonst üblichen militärischen Ehren entschieden verweigert. Die entsetzten Eltern der beiden Todesopfer engagieren daraufhin auf eigene Kosten den streitbaren, mit vitaler subversiver Energie ausgestatteten Anwalt Siniša Stojković, um ihre Söhne von dem Verdacht militärischen Ungehorsams reinzuwaschen und um herauszufinden, was in jener Nacht wirklich passiert sein mag.

Belgrad, Ada-Brücke

Obwohl dem überzeugten Querulanten für gewöhnlich kein noch so kontroverser Fall zu heiß ist, stößt er bei seinen riskanten Ermittlungen in höchsten Militärkreisen schnell an die legalen Grenzen seiner Berufsausübung und muss daher seine mit zahlreichen offiziellen Vollmachten ausgestattete langjährige Freundin Milena um Hilfe bitten, die sich sofort mit einer unnachahmlichen Mischung aus natürlichem Gerechtigkeitssinn und starrsinnigem Todesmut in eine schwer durchschaubare Grundkonstellation hineinwühlt, in der alte militärische Seilschaften aus dem Balkankrieg, Kriegsverbrechen an der muslimischen Minderheit und kollektives Streben nach Zugehörigkeit ebenso eine Rolle spielen wie politische Machtgier, Korruption und falsch verstandene Loyalität zu fragwürdigen moralischen Instanzen. Mit ihrem scharfen Verstand und ihren zahlreichen unbequemen Fragen kommt sie dabei der bitteren Wahrheit so nahe, dass sie schon bald auf der Abschussliste einer innerhalb der serbischen Elite gut vernetzten Gruppe von ebenso unbeirrbaren wie skrupellosen Nationalisten landet.

Schritt eins: Er hatte die Observierung wiederaufgenommen. Er führte die Mission im eigenen Auftrag durch, ohne Befehl und ohne Instruktionen von oben. Er musste Informationen sammeln und sortieren, er musste den Gegner einschätzen und herausfinden, wer alles dazugehörte. War die Frau die Chefin und der Silbertyp mit dem Seidenschal, mit dem sie manchmal unterwegs war, ihr Laufbursche? […] Momčilo hatte die Frau unterschätzt. Alle hatten sie die Frau unterschätzt. Er, Pawle, musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren und versuchen, jeden ihrer Schritte vorauszuberechnen. Er musste sich klug anstellen. Er allein musste entscheiden, wann die Beobachtungsphase beendet war und wann Schritt zwei, der Zugriff, zu erfolgen hatte.

Den beiden Autoren ist mit ihrem ersten gemeinsamen, spannend zu lesenden Kriminalroman ein für den interessierten Leser ausgesprochen wertvoller, kenntnisreicher Blick auf die aktuelle politische und wirtschaftliche Situation Serbiens gelungen, der – ausgehend von der wechselhaften Geschichte des Landes am unverdienten Rande Europas – nicht nur die Befindlichkeiten seiner Bewohner auf ebenso gründliche wie liebevolle Art und Weise zu porträtieren versteht, sondern auch angemessen auf das „verlorene Paradies“ des vereinten Jugoslawiens und seiner unterschiedlichen Nationalitäten eingeht. Dabei bleibt auch der lange Schatten deutscher Kriegsverbrechen stets spürbar. In dieser Hinsicht bietet „Kornblumenblau“ ein nahezu unbezahlbares Leseerlebnis, das zwar eine persönliche Begegnung mit dem Land und seinen Bürgern nicht ersetzen kann, aber dennoch vorbildlich aufzeigt, wie man seine persönliche Sichtweise aufs Unbekannte wirksam verändern kann, wenn man sich diesem mit Demut und Verständnis nähert.

„Kornblumenblau“, erschienen bei Diogenes, 362 Seiten, € 19,90