Jerusalem

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Samstag, 23. März 2013

„Die Sängerin aus dem Ghetto“ von Agata Tuszyńska

Hilfe!! Die Clique Szpilman und Polanski will mich umbringen! Hilfe!!

Dieser verstörend-paranoid anmutende Satz, wiedergegeben von der Journalistin, Schriftstellerin und gefeierten Biografin Isaac Bashevis Singers Agata Tuszyńska in ihrem klugen, soeben erschienenen Buch „Die Sängerin aus dem Ghetto“, stand in großen roten Lettern an der Flurwand der letzten Wohnung der im Jahr 2007 im Alter von 91 Jahren in Paris verstorbenen jüdisch-polnischen Sängerin Wiera Gran, einer schillernden Protagonistin und Überlebenden des berüchtigten Warschauer Ghettos, die sich seit der Befreiung Polens über zwei Drittel ihres langen Lebens bei Auftritten rund um die Welt immer wieder mit denselben haltlosen Vorwürfen anderer ehemaliger Leidensgenossen konfrontiert fand und deshalb ihre vor dem Krieg viel versprechende Karriere nie in dem Maße fortsetzen konnte, wie es ihr angesichts ihres herausragenden und allgemein bewunderten Talents vorherbestimmt zu sein schien.

„Ich will ein Buch über Sie schreiben“, erklärt die Autorin der zu diesem Zeitpunkt bereits weit über achtzigjährigen Wiera Gran, nachdem sie im Laufe zahlreicher Besuche endlich das Vertrauen der überall Verrat und feindliche Agenten witternden altersschwachen, jedoch immer noch beeindruckend-kämpferischen, vollkommen isoliert lebenden Diva gewonnen hat:

Davor habe ich keine Angst. Man hat bereits so viele Lügen über mich verbreitet, Sie müssen bedenken, ich bin dieser Herr K. von Kafka.“



Es kommt im weiten Feld der NS-Erinnerungsliteratur ausgesprochen selten vor, dass in den Biografien von zwei verschiedenen miteinander bekannten prominenten Opfern der Schoah ein und dasselbe Ereignis in ihren jeweiligen Büchern aus unterschiedlicher Perspektive geschildert wird. Die bereits 1946 erstmals erschienenen und 1998 in modifizierter Form erneut aufgelegten Erinnerungen des Pianisten und Komponisten Władysław Szpilman sind insbesondere durch die Oscar-prämierte Verfilmung unter dem Titel „Der Pianist“ durch Roman Polanski im Jahr 2001 einem großen internationalen Publikum bekannt geworden.

Der langjährige Leiter der Musikabteilung des Polnischen Rundfunks (bis 1963) hatte nach der Liquidierung des Ghettos in seinem Warschauer Dachbodenversteck vor allem Dank der Hilfe eines deutschen Offiziers überleben können, der ihn über Wochen und bis kurz vor der endgültigen Befreiung durch sowjetische Truppen mit Nahrungsmitteln und warmer Kleidung versorgte.

Die zu Beginn des Krieges bereits bekannte Sängerin Wiera Gran hingegen, die sich schon kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen in Sicherheit gebracht hatte und ihren Lebensunterhalt durchaus erfolgreich als Mitglied einer staatlichen Varietétruppe in der Sowjetunion bestritt, kehrte aus Sorge um ihre Mutter im Frühjahr 1941 freiwillig nach Warschau zurück, wo ihr Mann, ebenfalls jüdischer Herkunft, dank seines polnischen Namens und seines katholischen Glaubens eine Anstellung als Krankenhausarzt fand, während sie aus freien Stücken ins neu geschaffene Ghetto übersiedelte, um ausgerechnet dort weiterhin ihrer Berufung als Sängerin nachgehen zu können.

Wo in dieser vom Typhus bedrohten Welt war Raum für Applaus, Scheinwerfer, die Klänge von Klaviermusik? Ich sehe es nicht.
In jenem Moment begriff Wiera meiner Meinung nach nicht, dass sie mit dem Singen hätte aufhören sollen. Der Gedanke kam ihr gar nicht in den Sinn. Sie klammerte sich an ihre Arbeit. Singen war ihr Ein und Alles. Applaus war ihr Leben, er bedeutete Zugehörigkeit und Bewunderung. So sehe ich es. Aus allem, was sie tat, aus all ihren Entscheidungen spricht: Ich will leben wie vorher, ich will sein wie vorher – bewundert, außergewöhnlich, allmächtig.
Wie hätte ich denn wissen können, was passieren würde?“

In der Tat dauerte es nicht lange, bis Wiera Gran sich zu einer festen Größe in der aus heutiger Sicht überraschend komplexen und breit gefächerten Kulturszene des Ghettos entwickelt hatte, die Dank ihrer exorbitanten Gagen laut eigenen Aussagen – wofür sich allerdings keine Belege finden lassen – ein privates Waisenheim eröffnen konnte und allabendlich im teuersten Lokal des polizeilich abgeriegelten Judenbezirks, dem Sztuka, auftreten konnte: um sie zu sehen, seien regelmäßig sogar Nichtjuden verbotenerweise von der so genannten „arischen Seite“ ins Ghetto gekommen:

Für seine Stammgäste war es das eleganteste Lokal und die Zuflucht der Intellektuellen. Professor Ludwig Hirszfeld, Jerzy Jurandot und der junge Reich-Ranicki, Kritiker der Jüdischen Zeitung verkehrten dort. Für seine Feinde war es ein Tummelplatz hoher Tiere mit dicken Brieftaschen. [...] Irena Sendler, Mitglied der legendären Untergrundorganisation Żegota (Rat für die Unterstützung der Juden), die viele jüdische Kinder rettete, verbrachte zwei Abende im abgeriegelten Viertel. Man wollte ihr zeigen, dass das Leben hinter der Mauer nicht nur Hunger und Tod bedeutete, und lud sie ins Sztuka ein. Sie traute ihren Augen nicht. Elegant gekleidete Gäste, auf den Tischen Lachs, Gebäck, Champagner. Dem Publikum standen Tränen in den Augen, wenn Wiera Gran sang. Sendler schwört, dass alle weinten.

Hier besorgte die Diva dem Pianisten Władysław Szpilman, der sie schon vor dem Krieg gelegentlich am Klavier begleitet hatte, auf seine explizite Bitte hin ein festes Engagement als einer ihrer beiden festen musikalischen Begleiter. Als sich die Anzeichen mehrten, dass die Deutschen das Ghetto auflösen und bald mit Deporationen in den sicheren Tod beginnen würden, gelang es Wiera Gran abermals mit der Hilfe ihres Mannes, das Ghetto zu verlassen und ein vergleichsweise sicheres Versteck in einem kleinen Dorf in der unmittelbaren Nähe der polnischen Hauptstadt zu beziehen, wo sie den Krieg, anders als so viele Warschauer Juden, wohlbehalten überstand.

Als sie bald nach der Befreiung den ebenfalls unversehrten Władysław Szpilman aufsuchte, der mittlerweile eine verantwortungsvolle Position im neu organisierten Polnischen Rundfunk innehatte, um ihn um Vermittlung eines Engagements zu bitten, verweigerte er ihr dies wiederholt mit dem Verweis auf angeblich kursierende Gerüchte, sie habe während der Zeit der deutschen Besatzung aktiv mit der Gestapo zusammengearbeitet. Und so begann für Wiera Gran zu einem Zeitpunkt, an dem sie eigentlich hoffen durfte, die schlimmste Zeit ihres Lebens glücklich überstanden zu haben, eine neue unendlich scheinende Leidenszeit, die sich schließlich – von wenigen unbeschwert-erfolgreichen Phasen abgesehen – bis zu ihrem Tod erstrecken sollte.

Zwar wurde sie im Verlauf der Jahre von allen maßgeblichen juristischen Instanzen von diesem schrecklichen Verdacht freigesprochen, und selbst der berühmte „Nazijäger“ Simon Wiesenthal bescheinigte ihr 1972, dass ihr Name nicht „auf der Liste derjenigen stehe, die mit den Deutschen kollaboriert haben“, dennoch gab es während all ihrer Stationen rund um die Welt auf der rastlosen Suche nach Anerkennung immer wieder einflussreiche Weggefährten von früher, die diese Gerüchte aus heute kaum noch eindeutig zu klärenden Gründen bereitwillig aufwärmten, so etwa im Vorfeld einer geplanten umfangreichen Israel-Tournee im Frühjahr 1956:

Die Wahrheit kommt ans Licht.“
Flugblätter mit dieser versteckten Warnung, bei der auch der Wunsch nach Lynchjustiz mitschwang, wurden auf Polnisch, Hebräisch, Französisch und Russisch von Kindern verteilt, auf der Straße, in Cafés und am Eingang des Lokals, wo sie singen sollte. Ein Aufruf zum Boykott der „Nazihure“.

Agata Tuszyńska wartet in ihrer blitzgescheiten und auch politisch höchst scharfsinnigen Recherche über das unruhig-bewegte Leben einer mit großer Wahrscheinlichkeit lebenslang zu Unrecht beschuldigten, ebenso charismatischen wie begabten, aber leider moralisch kurzsichtigen Künstlerin aus gutem Grund nicht mit den hinlänglich bekannten grauenhaften Details der Schoah auf, welche sie mit einigem Recht als allgemein bekannt voraussetzen darf; ihr mit nachhaltig ernüchternder Faszination zu lesendes Buch über die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung einer autonomen künstlerischen Identität in Zeiten von Tyrannei, totalem Krieg und den üblichen Kategorien von Moral entzogenem Kampf des Einzelnen ums blanke Überleben ist ein umso erschreckenderes Beispiel dafür, wie nahezu unmöglich es für die mit diesen ihnen von den Besatzern mit Gewalt aufgezwungenen, vollkommen entgrenzten Kategorien in Berührung Gekommenen ist, sich in ihrem „Nachleben“ nicht nur vollkommen von ihren bitteren Erinnerungen zu befreien, sondern auch das unsichtbar in ihrer Psyche nachwirkende Krebsgeschwür der vollkommen amoralischen nationalsozialistischen „Ordnung“ gedanklich loszulassen.

Für die ewig gleichförmigen in ihrem Buch beschriebenen Ereignisse, die man als unabwendbaren Kreislauf aus verzweifeltem Streben nach erneuertem künstlerischen Ausdruck und den damit verbundenen an- und abschwellenden Wellen von Kollaborationsvorwürfen beschreiben könnte, findet die unermüdliche Autorin zahlreiche mögliche plausible Gründe, die größtenteils jedoch daran kranken, heute weder auf überzeugende Art und Weise bewiesen noch widerlegt werden zu können. Am Ende bleiben als überzeugendste Hintergründe nur zahlreiche irrationale persönliche Verletzungen, Eitelkeiten, Eifersucht sowie enttäuschte Liebe – so banal und so furchtbar kann das Leben sein.

Jahre später revanchierte sich Wiera Gran an Władysław Szpilman, der in ihren Augen treibenden Kraft hinter der lebenslangen beispiellos-niederträchtigen Schmutzkampagne gegen ihre Person, indem sie wiederholt aussagte, zuletzt 1996 vor der amerikanischen Stiftung „Shoah Visual History“, sie habe ihren Klavierbegleiter während einer von ihr vom Fenster aus beobachteten Deportationsaktion der Nationalsozialisten zweifelsfrei als jüdischen Kapo mit Polizistenmütze identifiziert, wie er mit einem Holzknüppel auf eine abzutransportierende Frau einprügelte:

Es waren die Hände des – Pianisten, die diese schändliche Tat begingen! Ich habe ihn gesehen, mit meinen eigenen Augen. Er hat den Krieg überlebt. Er soll wissen, dass ich ihn gesehen habe.“

Ein weiterer über jeden Zweifel erhabene Zeitzeuge, der im Buch detailliert zu Wort kommt, weil er regelmäßig im Sztuka verkehrte, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, hält beide im Buch aufgestellten Verdächtigungen jedoch für vollkommen abwegig:

Man darf die Musiker, die im Ghetto spielten nicht als Kollaborateure bezeichnen. Keinen. Was Wiera Gran betrifft, kann ich Ihnen nichts garantieren. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass sie nicht kollaborierte, trotz gegenteiliger Gerüchte. Im Ghetto zählte vor allem die Musik. Was sich dort abspielte, ließ sich nicht in Worte fassen. Aber anders als die Musik enthielten die Worte Urteile, sie fabrizierten Legenden.

Es ist Agata Tuszyńskas großes, kaum hoch genug einzuschätzendes Verdienst, überzeugende Worte für den bitteren Lebensweg einer begabten Sängerin und Verführerin, ihrer zahlreichen Triumphe und noch zahlreicheren Irrtümer sowie für ihre fehlgeleitete Wirkung auf ihre Zeitgenossen in einer in jeder Hinsicht verrückten, aus dem Takt geratenen Geschichtsepoche gefunden zu haben. Im verdienstvollen Bemühen der Autorin, für sich und ihre Leser ein umfangreiches Begreifen zu schaffen, entsteht dabei das Bild einer trotz aller Schicksalsschläge mutigen, selbstbewussten und kämpferisch-unbeugsamen, beeindruckenden Frau, deren von Widersprüchen geprägte Geschichte die Autorin mit großer Sympathie erzählt, aber ohne sie oder ihre Gegner jemals zu verurteilen.

„Die Sängerin aus dem Ghetto – Das Leben der Wiera Gran“, aus dem Französischen von Xenia Osthelder, erschienen bei Insel, 373 Seiten, € 26,95

Dienstag, 19. März 2013

„Kleine Töne, meine Töne“ von Virgilio Giotti

Mit dem neuerlichen, von ihren Bewohnern lang ersehnten organischen Zusammenwachsen von über lange Zeit durch willkürliche Grenzziehung voneinander isolierten geschichtlich-homogenen Regionen im Herzen Europas hat seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa auch die von ihrer prächtigen habsburgischen Architektur nostalgisch geschmückte Stadt Triest an der norditalienischen Adriaküste im Dreiländereck mit Slowenien und Kroatien wieder einen wunderbaren wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung genommen, der ihrer historischen Bedeutung als wichtigste Hafenstadt Österreich-Ungarns sowie als Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens von so bedeutenden Literaten wie Italo Svevo, Umberto Saba, den Brüdern James und Stanislaus Joyce oder Claudio Magris vollkommen gerecht zu werden scheint.

Der ebenfalls in Triest lebende deutsche Schriftsteller, Verleger und Mitbegründer des Berlin-Verlags Veit Heinichen hat seine schwungvoll-florierende Wahlheimat zum Schauplatz einer populären Reihe von Kriminalromanen um den umsichtigen Commissario Proteo Laurenti gemacht, die auch in ihrer über Jahre fortgeführten Verfilmungen durch die ARD ein munter-vielschichtiges Porträt dieser faszinierenden multikulturellen Metropole zeichnet.

Die wunderbarste, möglicherweise bedeutendste, vor allem aber aufgrund ihrer universellen Aussagekraft mit Sicherheit nachhaltigste literarische Entdeckung, die im Zuge des kulturellen Aufschwungs von Triest für den deutschen Leser dringend noch zu machen war, darf sich der kleine Klagenfurter Drava-Verlag auf seine Fahnen schreiben, der für seine besondere Zielsetzung, vor allem Literatur der slowenischen Minderheit in Kärnten sowie der Nachbarregionen ein qualifiziertes Forum zu bieten, eine überaus passende Namenspatin mit dem diese Länder durchströmenden Fluss Drau/Drava gefunden hat.



Denn der nun erstmals in deutscher Sprache und für sein Werk repräsentativer Auswahl vorgestellte Triestiner Dichter und Lyriker Virgilio Giotti (1885-1957) war eine absolute Ausnahmeerscheinung in der zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts blühenden Literatur- und Kunstszene seiner Heimatstadt. Dort als Virgilio Schönbeck geboren, floh der Sohn eines Österreichers und einer Italienerin im Jahr 1907 nach Florenz, um dem österreichischen Militärdienst zu entgehen und kehrte erst zwölf Jahre später mit seiner russischen Frau und drei Kindern nach Triest zurück.

Dort nahm er als gern gesehener Gast aktiv teil an den literarischen Zirkeln um Italo Svevo, Scipio Slapater, Giorgio Voghera, Bobi Bazlen, Biagio Marin, Giani Stuparich und Umberto Saba, während er gleichzeitig seinen kargen Lebensunterhalt als Handelsvertreter für Spielzeug, Zeitungs- und Buchhändler sowie zuletzt als Krankenhausangestellter verdienen musste.

Ich bin hinaus auf den Balkon.
Nur dort bin ich jetzt nicht
mehr der, der ich da drinnen
war: der Papa, der Gatte,
der Angestellte und der Dichter.

Im Finstern singen Grillen,
und überall sind Sterne.
Ein Lüftchen aus dem Osten
in dieser Sommernacht
weht vorüber wie ein frischer Hauch.

Oh, wenn der Balkon jäh
niederbrechen würde! Ein Flug,
ein Aufprall. Dort mitten auf dem Gras
zu sterben, ich mit mir allein,
in dieser Sommernacht.

In den scheinbar engen Grenzen von bürgerlichem Beruf, Familie und literarischen Ambitionen schuf Giotti ein außerordentlich reiches lyrisches Werk, das nicht nur seine Zeitgenossen begeisterte, sondern auch etwa Pier Paolo Pasolini in einem Essay über dessen Werk zu einem überraschend eindeutigen und bestimmten Urteil bewog, dem man sich nach der Lektüre nur weniger seiner Verse ganz ohne Vorbehalt anschließen muss: er kenne nirgendwo in der italienischen Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts eine Dimension des Schmerzes, die der vergleichbar wäre, die aus den Appunti inutili des alten Giotti und aus so vielen seiner Gedichte spreche.

Giotti hat wie kein anderer bedeutender Lyriker begriffen, dass Glück aus einzelnen Momenten besteht, die immer wieder unwiderruflich vorübergehen müssen:

So wie unsere Liebe,
die eigentlich ein Nichts nur ist,
ein blasses, doch ein leuchtend, brennend
blasses, und ein Wohlgeruch und eine Hoffnung,
die mein Herz erfüllt, wenn ich sie spüre:
ein Zuhause von dir und mir,
wir breiten miteinander, ich und du,
das Tischtuch auf dem Tisch auf,
und einer, der sich auf die Spitzen
seiner kleinen Füße stellt
und sich anstrengt zu erspähen, was wir vorbereiten.

Giottis unaufdringliche Sensibilität eines still-vertrauten intimen Beobachters sowie seine wahrhaftige Gefühlstiefe, die es ihm auf immer wieder neue Art und Weise erlauben, tief in den scheinbar alltäglichen Augenblick einzutauchen, das darin Verborgene ans Licht zu holen und in Poesie zu verwandeln, sind ebenso einzigartig wie unvergesslich. Es sind die wesentlichen „kleinen“ Dinge des Lebens, die er immer wieder energisch benennt, menschliche Beziehungen, Grundbedürfnisse, die Natur mit all ihren Erscheinungen, aber auch die städtische Landschaft seiner pittoresken Heimatstadt Triest sowie auf ganz unscheinbare Art auch wesentliche Theorien der bildenden Kunst.

Was bisher maßgeblich verhinderte, dass Giotti auch über die Grenzen Italiens hinaus bekannt werden konnte, war die für sein Werk höchst charakteristische Tatsache, dass der überwiegende Teil davon im Triestiner Dialekt verfasst ist. Dabei wagte der Dichter es erstmals, die heimische Mundart nicht zum Schauplatz des Komischen zu machen, sondern auf deren Grundlage eine ganz und gar individuelle und höchst originäre Art hochsprachlicher Variante zu erschaffen, mit der er auf noch unverwechselbarere Art und Weise seine Gedanken und Gefühle auszudrücken vermochte.

Zwar beklagt der kongeniale Übersetzer Hans Raimund in seinem kenntnisreichen Vorwort, dass er wegen des offensichtlichen Fehlens eines in seiner spezifischen Mentalität gleichwertigen deutschsprachigen Idioms Giottis Verse nicht in ihrer ganzen sprachlichen Vollkommenheit und charakteristischen Musikalität habe wiedergeben können, so bleibt dennoch zu bemerken, dass auch in der vorliegenden Übersetzung vorbildlich deutlich wird, wie sehr gute Lyrik jenseits ihrer sprachlichen Form immer auch eine gleichsam unsichtbare poetische Gestalt zu entwerfen vermag, die sich aus ihrer reinen Bedeutungsebene ergibt, wie sie vom Dichter gedanklich vorgebracht wird.

Die anhaltende Wehmut über die Flüchtigkeit des Glücks durchzieht alle seiner Verse mit einer durchaus heiteren Melancholie, einer umfassenden Annahme des Leids, das sich aus den Zeitumständen ebenso ergibt wie aus den zahlreichen persönlichen Verlusten, die Giotti im Laufe seines Lebens zu beklagen hatte, wie er nicht nur in seinen Gedichten, sondern auch in den ebenfalls im vorliegenden Band enthaltenen, erst posthum erschienenen Tagebuchaufzeichnungen seiner an Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ erinnernden „Unnötigen Notizen“ bekräftigt:

Wie viele Tote in meinem Leben! Es ist mir früher nie eingefallen, darüber nachzudenken. Als ich ein Bub war, war die Großmutter noch jung. Dann mein Vater, dann, eine nach der anderen, meine drei Schwestern, dann ein Freund, Bolaffio, dann eine liebe Freundin, dann meine Mutter, dann ein anderer Freund, Romannelis, dann meine Söhne.

Mit der um drei Jahre verspäteten Todesnachricht des ersten Sohnes, Paolo, der wie sein Bruder Franco im Rahmen von Hitlers unseligem Feldzug gegen die Humanität, ja das Leben selbst in der Heimat ihrer Mutter gefallen war, setzen am 1. Februar 1946 seine denkwürdigen hochliterarisch-privaten Notizen ein:

Diese [...] sollten mir helfen weiterzuleben. Sie sollten mir den Trost eines Gesprächs zwischen mir und mir geben, über Themen, die nicht Stoff von Gesprächen sein können zwischen mir und anderen.

Es gibt vermutlich keinen anderen bedeutenden Dichter des Zwanzigsten Jahrhunderts, der in all seinen Versen bereits in den Jahren seiner Jugend in einem so beträchtlichen Maße den unvermeidlichen eigenen Tod umarmt und willkommen geheißen hat wie Virgilio Giotti, ohne an dieser wesentlichen Erkenntnis zu verzweifeln und sich dem störrischen Zauber des Lebens zu entziehen.

Schatten meiner Söhne,
bevor auch ich verschwinde,
bleiben eine Weile wir
noch ein Mal zusammen,
plaudern wir und lachen wir.

Wenn ihr geweint habt, dann weint
jetzt nicht mehr. Wir trocknen
alle uns die Augen. Geht,
seid lieb zu eurer Mutter.
Weinen nützt nichts.

So viele, viele sind gestorben;
und Väter, Mütter, Kinder
haben geweint und weinen.
Das passiert auf dieser Welt:
es passiert, ist immer schon passiert.

Wenn ich euch nicht alles geben
konnte, was ich tief im Herzen
so sehr wünschte, vergebt mir!
Für das Gute, welches ich von euch
gehabt hab, dafür danke ich euch

jetzt, so kommt, damit wir
noch ein Mal eine Weile
beisammen sind, wie
in unsren schönen Jahren
miteinander plaudern, lachen.

Dieser äußerst verdienstvolle erste Auswahlband in deutscher Sprache der elementar-eigenständigen, urtümlichen, unvergesslichen Lyrik Virgilio Giottis gehört zu jenen überaus seltenen, kostbaren Generationen-Lieblingsbüchern, die man unbedingt immer bei sich tragen möchte, weil man sich seiner universeller Aussage und tief empfundenen Menschlichkeit immer und immer wieder versichern will.

„Kleine Töne, meine Töne“ aus dem Triestiner Italienisch von Hans Raimund, erschienen bei Drava, 166 Seiten, € 19,80

Freitag, 15. März 2013

„Hannahs Briefe“ von Ronaldo Wrobel

Seit James Wormold, dem genial-unbeholfenen unfreiwilligen Helden aus Graham Greenes großartigem Roman „Unser Mann in Havanna“ hat es in der internationalen Literatur keinen Spion mehr gegeben, dem wir so ohne jeden Vorbehalt unsere ganze Sympathie und all unser Mitgefühl entgegengebracht haben, wie diesem von väterlichen Geldsorgen geplagten mediokren Staubsaugervertreter, der gegen seinen Willen vom britischen Nachrichtendienst angeworben wird und die Inhalte der ihm regelmäßig abgeforderten Dossiers kurzerhand selbst erfindet.

Auch der erzsympathische jüdische Schuhmachermeister Max Kutner, der Anfang der 1930er Jahre unter glücklichen Umständen mit den Papieren eines Toten aus seiner polnischen Heimat nach Rio de Janeiro gelangt ist und im jüdischen Mikrokosmos des heruntergekommenen, später planierten Viertels Praça Onze eine florierende Werkstatt betreibt, will nichts anderes, als in Frieden seinem krisensicheren Beruf nachgehen und hin und wieder nach Feierabend eine jener herrlich-verheissungsvollen Mulattinnen aufsuchen, die überall in der Stadt ihre begehrt-exotischen Liebesdienste anbieten.

Max Kutner ist ein echter Realist und lebenserfahrener Pragmatiker, der keine besonderen Erwartungen an seine Zukunft hegt, den keine existenziellen Sorgen oder Ängste drücken und der von keinerlei Träumen oder Hoffnungen angetrieben wird. Politik und Religion sind für ihn ebensolche Fremdworte wie Liebe oder gar Ehe.

Das ist für Keren Kajemet LeJisrael”, hatte das Mädchen am Tag zuvor lächelnd gesagt und ihm eine bläuliche Metallbüchse hingehalten. “Helfen Sie mit bei der Gründung des jüdischen Staates!”
Ein jüdischer Staat?” Max hämmerte auf einer Sohle herum. “Was für ein idiotischer Traum!”
Idiotischer Traum? So sprechen Sie von Israel? Ben Yehuda hat das Hebräische wiederbelebt, Tel Aviv wird immer größer, Jerusalem hat eine hebräische Universität, und Millionen von Brüdern kehren zurück ins Gelobte Land. Das nennen Sie einen idiotischen Traum?”
Max antwortete nicht.
Eher neugierig als verärgert fragte das Mädchen: “Kutner, haben Sie einen Traum im Leben?”
Und er, ohne sie anzusehen: “Schuhe reparieren.”



Als unter dem offen mit dem europäischen Faschismus sympathisierenden und unter dem Einfluss der USA stehenden Diktator Getúlio Vargas (1882-1954) nach einem gescheiterten linken Umsturzversuch eine organisierte Verfolgung vermeintlicher kommunistischer Kräfte beginnt, wird der ahnungslose Schuster jedoch mit sanfter Gewalt von der Geheimpolizei als Übersetzer requiriert und hat fortan Tag für Tag in einem zwielichtigen Büro der neu geschaffenen Zensurbehörde sämtliche ein- und ausgehende jiddischsprachige Post der Stadt am Zuckerhut ins Portugiesische zu übersetzen.

Es hat allerdings selten einen sympathischeren Spitzel wider Willen gegeben als Max Kutner, der zweifelhafte Stellen einfach unübersetzt lässt und auch andere Spezialaufträge immer wieder – von seinen Vorgesetzten – unbemerkt sabotiert, um Unschuldige zu schützen. Von seinem dennoch vorhandenen erdrückend-schlechten Gewissen reinigt er sich mit einem haarsträubend-fantasievollen kathartischen Schock kurzerhand selbst, dennoch verändert seine neue Nebentätigkeit sein Leben auf völlig unvorhergesehene Weise und lässt alle seine lebenslangen Gewissheiten brüchig werden.

Denn das Lesen fremder privater Briefe öffnet Max nicht nur eine ganz neue Welt, von der er bisher nichts geahnt hatte und die sein menschliches Mitgefühl erwachen lässt, er lernt in der Person der eifrigen Briefeschreiberin Hannah, die er anders als die meisten Adressaten oder Absender auf der Praça Onze noch nie gesehen hat, auch ein vollkommen widersprüchliches und in jeder Hinsicht entgrenzendes Gefühl kennen, das ihm bislang gänzlich unbekannt war:

Doch jetzt [...] verstieß Max gegen all seine Vorsätze. Wie alle anderen war auch er eine Geisel seiner Leidenschaft, war in die Falle getappt, aus der seit dem Hohelied Salomons niemand heil herausgekommen war. Wer hätte gedacht, dass sein Dienst am Vaterland so ausarten würde? Ach, die Liebe! Wie viele sogenannte irrationale Wesen erliegen dieser Illusion, die vorgibt, das menschliche Geschlecht zu erhalten und zu zivilisieren, und stattdessen Milliarden ahnungsloser Seelen versklavt?

Um die über alle Maßen begehrte junge Frau endlich persönlich kennenzulernen, die in ihren Briefen immer wieder von ihrer lebendigen Beziehung zum Judentum berichtet, lässt sich auch der vollkommen areligiöse Max immer häufiger in der Gemeinde sehen.

Er ließ sich in Clubs und Schulen blicken und las die Zeitung von der ersten bis zur letzten Seite. Von der Totenwache ging es zum Tanzen, aus den Kneipen in die Synagoge. Am Kabbalat Schabbat im Beth Israel betete er mit gespielter Hingabe und sah sich dabei unauffällig nach ihr um. Die Suche nach Hannah war nicht nur zu seinem Lebensinhalt geworden, sondern entsprang auch dem Wunsch, etwas zu sein, das er bisher nie gewesen war: glücklich.

Durch Max' verzweifelte Suche erhalten wir als Leser zahlreiche unverhofft-intensive, ebenso stimmungsvolle wie sachkundige Einblicke in das innerhalb der schöngeistigen Literatur bisher kaum thematisierte Milieu osteuropäischer jüdischer Einwanderer im Brasilien der 30er und 40er Jahre, einem willkommenen literarischen Gegengewicht zu den so zahlreich vorhandenen Beschreibungen der zionistischen Einwanderung nach Palästina oder der US-amerikanischen Diaspora.

Im weiteren Verlauf der an zahlreichen überraschenden Pointen und kaum antizipierbaren Wendungen überaus reichen, im höchsten Maße unterhaltsamen Handlung muss der verliebte Schuster vielen unangenehmen, gar schmerzhaft-erniedrigenden Wahrheiten ins Auge blicken und erlebt dabei ein vollkommen ungewolltes, lang anhaltendes glückselig-unerfülltes Wechselbad der Gefühle, als er herausfindet, dass die zuckersüß-anmutige, zum Sterben schöne, in höchstem Maße begehrenswerte Hannah eine der zahlreichen, von aller Welt verachteten Polackinnen ist, eine jüdische Prostituierte, die der organisierte Menschenhandel des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts in die Länder Südamerikas verschlagen hat – ein unfassbar scheinendes Phänomen, das den wenigsten Lesern in diesem Ausmaß bekannt gewesen sein dürfte.

Allerdings hat es in der Literaturgeschichte kaum je eine selbstbewusstere, klügere und selbstbestimmtere Prostituierte gegeben als Hannah, deren Geheimnisse scheinbar ohne Zahl sind und die mit Witz, Verstand und absolutem Willen zur perfekten Inszenierung nicht nur ihr eigenes Leben fest in der Hand hält, sondern auch das ihrer Kolleginnen mit Mut und Empathie aktiv gestaltet, ja sogar einen ausgeklügelten Sozialplan für diese umsetzt.

Glauben Sie, es interessiert mich, was irgendwelche Leute über mich reden? Mich interessiert nur, was sich in diesem Bett abspielt, sonst nichts, weil es hier nämlich mehr Respekt und Aufrichtigkeit gibt als draußen! Übrigens, zwei Dinge habe ich im Leben gelernt. Erstens, Respekt zu verdienen bedeutet nicht, ihn auch zu erlangen, und zweitens, Respekt zu erlangen bedeutet nicht, ihn auch zu verdienen.

Ronaldo Wrobels wunderbar vielschichtiger und von hintergründig-menschenfreundlichem Humor getragener Roman – sein erster ins Deutsche übersetzter – mit seinen zahlreichen unterschiedlichen, sich gegenseitig überlagernden Ebenen aus Liebesromanze, historisch-dokumentarischer Erzählung und Spionagegeschichte ist ein echtes Geschenk an alle geschichtlich oder am Judentum interessierten Leser und gleichzeitig ein einmaliges literarisches Denkmal für eine faszinierende untergangene Welt mit ihren einzigartig-unvergesslichen Protagonisten, die der langjährige Kolumnist des brasilianisch-jüdischen Magazins Menorah damit auf unnachahmliche Art wieder zum Leben erweckt.

Die unglaubliche Geschichte von Hannah und Max musste unbedingt geschrieben werden, wie der Autor selbst am Ende in einem überraschenden, geschickt mit der Handlung verknüpften Einblick in seine aufwendige Recherche mit seiner eigenen Erzählerstimme bekennt:

Ob gestern heute oder morgen, es wird immer Sündenböcke geben, es wird Säuberungen geben und Leute, die Hass predigen, weil sie, aus Mangel an etwas Gutem und Wahrhaftigem, das sie mit anderen teilen könnten, sich damit trösten, die Menschen und Dinge zu verachten, die sie nicht verstanden haben oder gar nicht verstehen wollen. Ich begriff endlich, wie sehr Tier und Mensch sich ähneln, wenn es darum geht, ihr Revier zu verteidigen. Bei den Menschen ist es in erster Linie ideelles Gelände, auf dem sie ihre Gewissheiten kultivieren, von wo aus sie über jeden schimpfen, der sie das Unbekannte erahnen lässt und sie auf die Idee bringt, der Gipfel ihres Wissens, der Höhepunkt ihrer Erkenntnisse könnte nicht mehr sein als eine kleine Erhebung in einem tiefen Tal, umgeben von den wirklich hohen Bergen.

Ein ebensolcher Bergriese ist ohne Zweifel auch dieser Roman.

„Hannahs Briefe“ aus dem Brasilianischen von Nicolai von Schweder-Schreiner, erschienen bei Aufbau, 328 Seiten, € 19,99

Donnerstag, 7. März 2013

„Tag der Vergeltung“ von Liad Shoham

Obwohl die düster-realistische Atmosphäre aus allgegenwärtiger öffentlicher Korruption und rücksichtslosem Machtstreben des organisierten Verbrechens auf den Straßen der israelischen Metropole Tel-Aviv in Liad Shohams erstem nun in Deutsche übersetzten Roman „Tag der Vergeltung“ deutliche Anklänge an so unbestrittene Ausnahmeerscheinungen des Thrillergenres wie Graham Greene, John le Carré oder Robert Littel liefert, in deren auch literarisch hochstehenden Kriminalromanen sich für gewöhnlich am Ende keiner der Beteiligten noch als moralischer Gewinner fühlen darf, gibt es trotz einer angesichts des vom Autor gewählten Sujets ähnlich begründet-pessimistischen Diagnose doch einen wesentlichen Unterschied:

Der Dauergast auf den israelischen Bestsellerlisten verwöhnt seine Leser in Anbetracht des bitteren Verlaufs der spannend-nervenzehrenden Handlung auf der Zielgeraden gänzlich unerwartet doch noch mit einem relativ umfassenden „Happy End“, dessen sich allerdings lediglich die Protagonisten als Individuen erfreuen dürfen, während die gesamtgesellschaftliche Perspektive angesichts der von Shoham herausgearbeiteten Problemstellungen im israelischen Justiz- und Polizeiapparat erwartungsgemäß finster bleiben muss.



Äußerst geschickt spielt der praktizierende Rechtsanwalt Shoham dabei mit der konventionellen Erwartungshaltung des Lesers – so etwa, als der durchaus schuldbewusste Verdächtige, dem die brutale Vergewaltigung in einem noblen Wohnviertel im Norden der Stadt zu Last gelegt wird, mit dem der Roman so spektakulär beginnt, unter dem Druck des mit allen psychologischen Kniffen, jedoch nicht ohne Missverständnisse geführten polizeilichen Verhörs kurz davor steht, innerlich zusammenzubrechen und die Tat zu gestehen:

Nevos Augen füllten sich mit Tränen. [...]
Schreiben Sie es auf, schreiben Sie auf, wie Sie Adi Regev vergewaltigt haben...“, sagte Eli Nachum und schob ihm das Papier zu.
Für einen Moment meinte Ziv, er habe nicht richtig gehört, vielleicht war die Müdigkeit daran schuld, dass er fantasierte. [...]
Nachum hatte die ganze Zeit über von einem Mädchen gesprochen, das vergewaltigt worden war. Er war einem Irrtum aufgesessen. Sie suchten einen Vergewaltiger. Einen Vergewaltiger!

Doch Ziv Nevos Freude über die offensichtlich unbegründete Beschuldigung währt nur kurz; ohnehin ist uns aus der literarischen Schilderung seiner Innensicht während der Vernehmung klar, dass der seit seiner Scheidung in massiven wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindliche arbeitslose Großhandelskaufmann ohne Zweifel stattdessen ein anderes Verbrechen begangen haben muss.

Was ihm zum unerwarteten Verhängnis wird, ist zum einen die von der Polizeidirektion ausgegebene Erfolgsvorgabe, der sich der alternde, wegen seiner traditionellen Ermittlungsmethoden von seinen Vorgesetzten und Untergebenen gleichermaßen misstrauisch beäugte erzsympathische intuitive Schnüffler Eli Nachum ganz entgegen seiner Gewohnheit trotz der wenig überzeugenden Beweislage mit aller Macht zu beugen versucht und deshalb ein entscheidendendes Detail vorsätzlich manipuliert, um den vermeintlichen Gewalttäter dennoch hinter Gitter zu bringen.

Zum anderen hat sich Ziv, wie wir im weiteren Verlauf der Handlung erfahren müssen, aus massiven Geldsorgen mit dem organisierten Verbrechen eingelassen; da man befürchtet, der psychisch labile Ex-Offizier könne statt des ihm zur Last gelegten Verbrechens die tatsächlich von ihm im Auftrag der Mafia begangene minder schwere Straftat gestehen und bei der Gelegenheit zusätzliche Interna auspacken, wird er im Untersuchungsgefängnis brutal verprügelt, um ihm somit unmissverständlich nahezulegen, die Vergewaltigung zu gestehen, andernfalls werde man sich „um seinen fünfjährigen Sohn kümmern“.

Doch auch die überforderte Justiz ist nur allzu gerne bereit, mit dem gewieften Pflichtverteidiger einen faulen Kompromiss auszuhandeln, der eine baldige Freilassung des nun plötzlich geständigen Täters in Aussicht stellt. Als bald darauf eine weitere junge Frau nach dem selben Muster vergewaltigt wird und Nevo diesmal ganz offensichtlich nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann, müssen die Staatsorgane den Fall erneut aufrollen.

Doch außer dem unterdessen vom Dienst suspendierten Eli Nachhum scheint niemand in der Lage zu sein, einen erfolgversprechenden Ansatz zur Lösung des Falles zu finden. Bei seiner fieberhaften Suche nach dem wahren Täter muss er sich ausgerechnet auf die Hilfe des ehemaligen Hauptverdächtigen Ziv Nevo sowie eines undurchsichtig-übermotivierten Lokalreporters verlassen.

Liad Shoham ist ein überraschend versierter, höchst einfallsreicher und origineller Thrillerautor, der durch seine psychologisch überzeugenden, im wechselnden Tonfall der einzelnen Protagonisten höchst glaubwürdigen Perspektivwechsel von einem Kapitel zum anderen eine geradezu atemberaubende Spannung aufbaut, der man sich als Leser zu keinem Zeitpunkt entziehen kann. Für den deutschsprachigen Markt muss Liad Shoham nicht zuletzt aufgrund des exotisch-reizvollen Schauplatzes als außergewöhnlich profilierte Neuentdeckung gelten, von der man in Zukunft unbedingt mehr lesen möchte.

Nahezu alle seiner handelnden Personen sind mit verständnisinniger Empathie gezeichnet, begehen jedoch ohne Ausnahme wenigstens einen vermeintlich geringfügigen Fehler, der für jeden von ihnen im Zusammenspiel der verschiedenen Kräfte völlig unkalkulierbare Auswirkungen zeitigt. Hier wird auch die Anklage gegen ein Justizsystem besonders deutlich, für das der Autor aufgrund des von ihm ausgeübten Berufs als Rechtsanwalt als ausgewiesener Kenner gelten muss und gegen dessen seelenlos-korrupte Technokratie das brutal-autoritäre System des organisierten Verbrechens beinahe familiär und transparent wirkt. Gleichzeitig gelingt es Liad Shoham aber auch auf wunderbare Art und Weise, einfach nur Leben abzubilden.

„Tag der Vergeltung“, aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch, erschienen bei DuMont, 351 Seiten, € 18,99

Dienstag, 5. März 2013

„Verschwundene Schätze“ von Miklós Bánffy

Das schöne an unverhofften Wiederentdeckungen aus längst vergangenen Literaturepochen ist die höchst angenehme und bequeme Tatsache, dass man sich als klassisch geschulter Leser über ein als gänzlich „neu” (im Sinne von „unentdeckt”) empfundenes Meisterwerk freuen darf, ohne bei der Lektüre möglicherweise störende formale Experimente oder andere unerwartete Extravaganzen hinnehmen zu müssen, wie sie bei einem tatsächlich „neuen” (im Sinne von „modernen”) literarischen Werk nicht nur zu erwarten, sondern auch durchaus wünschenswert wären.

Der Politiker, Diplomat, Theaterdirektor, Maler und Schriftsteller Graf Miklós Bánffy (1873-1950) entstammte einer der angesehensten und traditionsreichsten Adelsfamilien Österreich-Ungarns, deren hochherrschaftlicher Stammsitz, das von deutschen Truppen auf dem Rückzug verwüstete und vom kommunistischen Regime Rumäniens dem Verfall preisgegebene prächtige Barockschloß Bontida-Bánffy bei Klausenburg bzw. Cluj-Napoca bzw. Kolozsvár, derzeit mit finanzieller Unterstützung der EU aufwendig wiederhergestellt und zu einem repräsentativen kulturellen Zentrum ausgebaut wird.

Graf Bánffy, der 1926 für die rumänische Staatsbürgerschaft optiert hatte, um den Familienbesitz halten zu können, verharrte aus Sorge um das selbst als Ruine noch prächtige Schloss Bontida-Bánffy so lange in seiner zwischen Rumänien und Ungarn von jeher umstrittenen Heimat, bis eine Ausreise zu seiner bereits nach Budapest geflüchteten Familie nicht mehr möglich war. Erst ein Jahr vor seinem Tod durfte der schwer kranke ehemalige liberale ungarische Außenminister (1921-22) nach Ungarn ausreisen, wo er völlig verarmt starb.

Sein in Ungarn erst 1982 im Zuge des sich langsam abzeichnenden politischen Tauwetters wiederentdecktes literarisches Hauptwerk, die „Siebenbürger Geschichte”, das er in den Jahren 1934 bis 1940 schuf, ist eine formal wie inhaltlich gleichermaßen bestechende, epochale Romantrilogie als breit angelegte Chronik der im Verfall befindlichen Gesellschaftsverhältnisse Ungarns in der Zeit zwischen 1904 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs.



Der erste, knapp 800 Seiten umfassende Band seiner virtuosen Trilogie, "Die Schrift in Flammen", erschien im vergangenen Jahr unter großer Beachtung der Literaturkritik erstmals in deutscher Sprache. Aber auch der soeben veröffentlichte und mit 576 Seiten nur unwesentlich weniger umfangreiche zweite Band „Verschwundene Schätze“ darf ohne jegliche Abstriche als großartige literarische Wiederentdeckung allerersten Ranges und ebenbürtige Fortsetzung gewertet werden: Bánffy erweist sich darin erneut als melancholischer Meister der poetischen Weltdurchdringung.

Die Geduld, die der Leser angesichts der zahlreichen handelnden Personen mit unaussprechlich scheinenden Namen braucht, wird im Verlauf der Lektüre allerdings reich belohnt. Ohnehin haben lediglich sechs Personen für den Verlauf der Handlung entscheidende Bedeutung; die beiden wesentlichen Protagonisten aber sind der liberale Großgrundbesitzer Graf Bálint Abády mit einem großen Herz für die arme Landbevölkerung (in dem sich der Autor unverhohlen und deutlich erkennbar selbst porträtiert), ein sympathisch-nachdenklicher Idealist, der eine ebenso unvernünftige wie tiefe Liebesbeziehung zu der betörenden, jedoch leider bereits verheirateten Adrienne unterhält, sowie sein antagonistisch angelegter Cousin und Rivale László Gyeröffy, ein begnadeter Musiker, charismatischer Unterhalter und charmanter Blender mit einer fatalen Leidenschaft für das Glücksspiel.

Am Ende des zweiten Bandes, der vom Zerbrechen der fragilen nationalistischen Koalition gegen Ende des Jahres 1909 markiert wird, lässt sich in Bánffys schonungsloser politischer Analyse bereits im scheinbar unverbrüchlichen Frieden des Habsburgerreiches die heraufziehende europäische Urkatastrophe in ihrer spezifisch ungarischen Ausprägung erahnen:

Eine Ära ging hier zu Ende. Ihre Bilanz kannte nur Negatives. Sie bestand aus lauter Versäumnissen. Was man auf dem Gebiet der Landesverteidigung vernachlässigt hatte, wog am schwersten. Das Land hatte auf solche Art vier Jahre verloren. Vier unwiederbringliche Jahre. Sowohl Italien als auch Serbien waren zu der Zeit auf einen Krieg schon besser vorbereitet als die Doppelmonarchie. [...] Noch eine halbe Stunde. Dann wird er aussteigen, sich in die wartende Kalesche setzen. Eine weitere halbe Stunde, und er ist am Ziel, im Schloss Szent-Györgyi. Er wird dort erwartet. Es wird sich erfüllen, was er am Morgen als einzige Antwort auf Adriennes Brief ihr in einem Telegramm geschrieben hat: „Heute Mittag reise ich nach Jablanka, wie von Ihnen befohlen.“

So ist die glänzend erzählte und kurzweilig zu lesende Trilogie der „Siebenbürger Geschichte“ vor allem ein bitter-einmaliges literarisches Dokument der politischen Sorg- und Ahnungslosigkeit sowie eines umfassenden gesamtgesellschaftlichen Scheiterns. Nicht umsonst klingen die ungarischen Originaltitel der einzelnen Bbände an das berühmte alttestamentarische, in den abendländischen Sprichwortschatz eingegangene „Menetekel“ an: „gezählt, gewogen, für zu leicht befunden und zerteilt“, wie der kongeniale Übersetzer Andreas Oplatka in seinem kenntnisreichen Nachwort anmerkt.

Vor dem farbenprächtig ausgemalten Hintergrund zahlreicher exklusiver gesellschaftlicher Anlässe und politischer Intrigen breitet der sprachmächtig-empathische Autor alle erdenklichen Facetten menschlicher Lebensäußerungen auf so meisterhafte, einfühlsam-nachsichtige und psychologisch ausgereifte Art vor uns aus, dass man der Handlung bis zum Schluss atemlos folgen muss und kaum anders kann, als selbst noch den miesesten Schuften mit größtem Verständnis und Mitgefühl zu begegnen. Miklós Bánffy ist von einem englischen Literaturkritiker zu Recht der „Tolstoi Transsylvaniens“ genannt worden.

„Verschwundene Schätze“, aus dem Ungarischen von Andreas Oplatka, erschienen bei Zsolnay, 576 Seiten, € 27,90

Samstag, 2. März 2013

„Brief in die Auberginenrepublik“ von Abbas Khider

Einer der sieben verschiedenen Icherzähler in Abbas Khiders neuem, atemlos die Länder des Arabischen Frühlings an dessen noch kaum vorauszuahnendem Vorabend durchquerenden Roman „Brief in die Auberginenrepublik“, der einundvierzigjährige Kairoer Majed, setzt sich in melancholischer Stimmung ins Kaffeehaus seines nach viertägigem Verhör durch die ägyptische Geheimpolizei unter ungeklärten Umständen verstorbenen Freundes, um Zeit bis zu seinem nächsten Geschäftstermin zu überbrücken. Während er sich, wehmütig seinen Tee schlürfend und Wasserpfeife rauchend, an seinen lebenslangen engen Freund erinnert, fällt sein Blick auf die alte Wanduhr:

Ich muss lächeln, weil sie wie üblich die falsche Uhrzeit anzeigt. Sie zeigt immer 17 Uhr. Ich schaue auf meine Armbanduhr: 13.20 Uhr

Doch die zeitentrückte, immer wieder nur sieben Uhr schlagende Kuckucksuhr im Cafe Phönix ist lediglich ein Symbol von vielen für die außer Takt geratene Welt von der Abbas Khider in seinem Buch so kenntnisreich und virtuos erzählt. Sein mittlerweile dritter Roman ist ein furioser literarischer Kettenbrief: alle seine Protagonisten sind auf irgendeine Art und Weise in den Transport illegaler Briefe verwickelt, den ein findiger irakischer Geschäftsmann als einträgliches Zusatzgeschäft für sich und seine zahlreichen Geschäftspartner in den arabischen Ländern entdeckt hat. 



Auch Majed, Besitzer eines kleinen Reisebüros, verdient an jedem erfolgreich weitergeleiteten Brief ein Viertel des hoffnungslos überteuerten Portos in Gesamthöhe von 200 Dollar und garantiert seinen Kunden, allesamt Exil-Irakern, dafür, dass deren Briefe nicht durch die Hände der irakischen Militärzensur laufen werden. Während Majed die lukrativen Geschäftsbedingungen erläutert und in seinem Inneren die Beziehung zu seinem verstorbenen Freund Revue passieren lässt, erfahren wir nicht nur gleichsam aus erster Hand und in exemplarischer Kürze von den elenden Lebensbedingungen im Ägypten der mittlerweile überwundenen Mubarak-Ära, sondern insbesondere auch auf besonders unmittelbare und glaubwürdige Art und Weise, wie sich die politischen Verhältnisse auf die eigentlichen „unbekannten“ Protagonisten der Weltgeschichte und späteren Helden der arabischen Revolution auswirken.

Abbas Khider lässt uns den Weg des Briefes über tausende von Kilometern von seinem Absender, dem im libyschen Bengasi lebenden Bauarbeiter und ehemaligen Studenten der Literaturwissenschaften Salim, über die weiteren Stationen Ägypten und Jordanien bis an seinen finalen Bestimmungsort Saddam City, Baghdad, Irak, mitverfolgen, wobei ihm das absolut bewundernswerte Kunststück gelingt, uns dabei auf unterhaltsamste Art und Weise tiefe Einblicke in die unterschiedlichen Lebenswelten seiner Überbringer, Adressaten – und letztlich auch seiner Zensuratoren zu gewähren: denn natürlich weiß der irakische Geheimndienst längst vom großen internationalen Geschäft mit den illegalen Briefen und hat zu deren lückenloser Kontrolle bereits eine eigene Behörde eingerichtet.

Es ist absolut bemerkenswert, wenn ein Schriftsteller, der in einer anderen Sprache als seiner Muttersprache schreibt, diese so virtuos zu verwenden in der Lage ist, dass jeder seiner Protagonisten für den Leser deutlich erkennbar mit einem ganz eigenen, individuellen Ton ausgestattet ist, der die unterschiedlichsten ihrer Affekte scheinbar mühelos auszudrücken und zu tragen vermag. Genau dies gelingt Abbas Khider auch in seinem neuen Buch wieder mit geradezu traumwandlerisch-schwerelos scheinender Sicherheit; dabei erweist er sich nach seinem großen Erfolg mit seinem zeitgleich nun auch als Taschenbuch vorliegenden, von der Kritik gefeierten Roman „Die Orangen des Präsidenten“ als Meister des feinen poetischen Mitgefühls und des stillen menschenfreundlichen Humors, der all seine Figuren stets mit bedingungsloser, tröstlicher Sympathie betrachtet.

Die größte Herausforderung für den im Jahr 1996 selbst aus „politischen Gründen“ im Irak zeitweise inhaftierten Schriftsteller, geboren 1973 in Baghdad, war dabei zweifelsohne die literarische Ausgestaltung der beiden mephistophelischen Täterfiguren aus der SS-haften irakischen Militärmaschinerie, die die unterschiedlichen Notsituationen ihrer zahlreichen Opfer skrupellos zur persönlichen Bereicherung ausnutzen und dabei auch willentlich über Leichen gehen, während auch sie privat dem Traum von einem beschaulich-spießigen Familienleben huldigen.

Dass Abbas Khider als ein dem arabischen Kulturraum zugehöriger Schriftsteller in seinem dem Roman vorangestellten Motto ein Gedicht von Rose Ausländer zitiert, sagt ebenso viel über das ungewöhnlich ausgeprägte Sprachvermögen des Autors aus wie über seine weltumarmende Philosophie, die absolut im modernen westlichen Pluralismus des Internetzeitalters verankert ist, welcher stets mit Verve die „guten Dinge“ aufzuspüren und herauszufiltern vermag und sich mit aller Macht zu ihnen bekennt.

So markiert der Autor mit seinem großartig-tiefgründig-unterhaltsamen Roman gleichzeitig auch das bevorstehende Ende der maroden totalitären arabischen Gesellschaften des Zwanzigsten Jahrhunderts durch die Auswirkungen der technischen Revolution der Internet-Kommunikation, welche nicht nur den herkömmlichen Briefverkehr endlich obsolet machte, sondern schließlich auch als unerlässliche Vorbedingung für die tatsächlichen menschengemachten Revolutionen in Ägypten und Libyen dienen sollte: denn nur in einem virtuellen Raum wie dem Internet konnten geheime Nachrichten politischer wie amouröser Natur ihre Adressaten finden und ihr Geheimnis bewahren.

Der philosophierende Kaffehausbesucher Majed wird schließlich von einem seiner Mitarbeiter unsanft aus seinen trüben Tagträumereien gerissen:

Herr, Majed, du bist ja noch immer hier! Der Busfahrer wartet auf dich!“
Wie spät ist es?“
17 Uhr.“
Ich schaue auf die Kuckucksuhr und auf meine Armbanduhr. Beide zeigen 17 Uhr. „Was, bin ich seit Stunden hier? Machst du Witze? Ich habe nur eine Tasse Tee getrunken!“ [...]
Ich rufe den Kellner und verlange die Rechnung.
Drei Mal Wasserpfeife und sieben Gläser Tee. Das macht...“
Moment, sieben?“ Für jeden Kuckucksruf ein Glas? Ich wundere mich.

Ähnlich ergeht es uns Lesern: die Zeit des Lesens verstreicht voller Wunder...

„Brief in die Auberginenrepublik“, erschienen bei Edition Nautilus, 155 Seiten, € 18,-