Erst
kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs spürte ein Großteil der
deutschen Zivilbevölkerung erstmals am eigenen Leib, welches
epochale monströse Verhängnis sich da in Form des von ihm selbst
entfesselten Nationalsozialismus über einen Zeitraum von nur zwölf
Jahren über ganz Europa ausgebreitet hatte und schließlich nicht
weniger als fünfzig Millionen Todesopfer zu verantworten hatte,
darunter allein sechs Millionen Juden. Die von der Führung der
sowjetischen Armee vergeblich unter Strafe gestellte spontane
Brutalität der eigenen unaufhaltsam vorrückenden Truppen gegenüber
der deutschen Zivilbevölkerung ist heute allgemein bekannt und gut
dokumentiert. Ihre wichtigste und schrecklichste Vorbedingung jedoch
besteht in den vom deutschen Oberkommando zu Kriegsbeginn fest
angeordneten und von deutschen Soldaten, SS-Truppen und
Sonderkommandos widerspruchslos begangenen wahllosen und
konzertierten Mordaktionen gegenüber angeblichen sowjetischen und
jüdischen „Untermenschen“ jeden Alters und beiderlei Geschlechts
als wohlkalkulierte, bewusste Verstöße gegen die Genfer Konvention.
Dass
viele Deutsche besonders die Sowjetarmee fürchteten, ist zweifellos
zu einem guten Teil der NS-Propaganda geschuldet, die alle ohnehin in
der Bevölkerung vorhandenen Ressentiments systematisch zu forcieren
wusste und jeden konkreten Anlass gern für ihre Zwecke
instrumentalisierte. Der wesentliche Aspekt der berechtigten Furcht
ergibt sich jedoch aus einem selbst mit beschränkter psychologischer
Einsicht leicht erklärbaren Umstand: spätestens jetzt, im Angesicht
der Niederlage, war das Wissen um die jedem menschlichen Maßstab
enthobenen Untaten der eigenen Truppen in der deutschen Bevölkerung
nicht mehr zu verdrängen, Konsequenzen schienen nicht nur
unmittelbar absehbar, sondern geradezu unausweichlich. Die Kenntnis
der eigenen, jedem menschlichen Maßstab enthobenen Verbrechen ließen
Schlimmstes ahnen, gar eine von den Russen erfundene mechanische
„Menschenpresse“, wie sie sich die Bewohner des Dorfes Alt
Teterin bei Anklam laut Zeitzeugen zusammenphantasiert haben sollen.
Wenn
man von der begründeten Prämisse eines umfassenden unbewussten
Minderwertigkeitsgefühls des Nationalsozialismus ausgeht, war sogar
das selbstzerstörerische Element als unausweichlicher Ausweg dem
System von Anfang an immanent. Ohne den irrationalen, paranoid
gesteigerten Hass auf alles Jüdische wäre die destruktive
Nazi-Ideologie sogar vollkommen undenkbar. Der Nürnberger Historiker
Florian Huber hat vor kurzem ein erschütterndes, nachhaltig
deprimierendes Buch über eines der letzten aufzuarbeitenden
tabubehafteten Phänomene des Kriegsendes vorgelegt, das diese aus
jüdischer Sicht umso bitterere Analyse noch unterstreicht. Gegen
Ende des Krieges breitete sich in Deutschland eine regelrechte
Selbstmordepidemie aus, eine suizidale Massenpsychose nie dagewesenen
Ausmaßes, die alle Bevölkerungsschichten erfasste und nach
aktuellen Schätzungen mehrere zehntausend Opfer forderte.
Podelzig im Oderbruch, 1945/Foto: Bundesarchiv,Otto Donath |
Das
Buch mit dem bewusst emotionalen Titel „Kind, versprich mir, dass
du dich erschießt“ besitzt alle Zutaten eines
Hollywood-Horrorschockers: einen in den Tagebucheinträgen eines
dänischen Zeitungskorrespondenten zu mahnendem Beispiel erstarrten,
ernst dreinblickenden prophetischen Pfarrer in der zerbombten
Gedächtniskirche von Berlin, der die vom alliierten
Dauerbombardement zerrüttete Gemeinde eindringlich vor dem
unchristlichen Ausweg des Selbstmords warnt, Menschen, die sich wie
Lemminge gemeinsam in einen Fluss stürzen und sich in den seichten
Fluten gegenseitig unter Wasser drücken, Mütter, die erst ihre
Kinder und dann sich selbst erhängen, Familienväter, die ihre
gesamte Familie erschießen, alte Ehepaare die Giftkapseln schlucken
– Florian Hubers sorgfältig recherchiertes Buch ist voller
unerträglicher und angesichts des Schicksals der jüdischen Opfer
des Nationalsozialismus, deren einziges Bestreben das Überleben war,
geradezu zynisch wirkender Bilder.
Huber,
der neben seinen Buchveröffentlichungen bereits zahlreiche auch
international preisgekrönte Dokumentarfilme zu zeitgeschichtlichen
Phänomenen erarbeitet hat, stützt sich in seinem eher
dokumentarischen als analytischen Buch vor allem auf unzählige teils
privat überlieferte Quellen wie authentische, zeitgenössische
Briefe und Tagebücher. Am Beispiel der mecklenburgischen Stadt
Demmin an der Peenemündung erarbeitet er mit rein erzählerischen
Mitteln eine minutiöse, nahezu vollständig erscheinende Chronik des
mit fast 1000 freiwilligen Todesopfern innerhalb weniger Tage im
April 1945 besonders stark betroffenen Städtchens, um dann ebenso
ausführlich auf die nicht wesentlich anders verlaufende Entwicklung
im restlichen Deutschland einzugehen. Ein für den mit der Endphase
des Nazi-Regimes einigermaßen vertrauten Leser unnötiges, aber
dennoch für die von ihm selbst zu leistende Analyse höchst
nützliches Stilmittel ist die fest in die Schilderung der Demminer
Ereignisse eingebundene kontrastierende Darstellung des dazu
auffällig synchron ablaufenden Hitler-Selbstmords im Führerbunker,
der so unwillkürlich als Erscheinungsform einer ähnlich
pathologischen psychischen Disposition gesehen werden muss.
Florian Huber/Foto: Carsten Schilke |
Huber
hält sich mit deutlich formulierten analytischen Urteilen auffällig
zurück. Als Haupterklärungsansatz für die Massenpsychose der
„kleinen Leute“ bietet er die umfassende Scham der (Mit-)Täter
angesichts der unabwendbaren militärischen Niederlage an. Diese
Deutung ist aber nicht tiefgreifend genug: die nationalsozialistische
Ideologie, ihre nahezu mühe- und widerstandslose Etablierung in der
deutschen Gesellschaft sowie die von ihr verantworteten Untaten waren
in jeder Hinsicht monströser Maßlosigkeit. Die zahlreichen
widersprüchlichen, vollkommen irrationalen Grundbedingungen und
Ziele des Nationalsozialismus mussten jedem verstandesmäßig nur
einigermaßen begabten und emotional reifen Deutschen als
schändliche, amoralische Irrwege klar sein; ihn als unzulänglichen
Ausweg aus der tief empfundenen Minderwertigkeit zu billigen, musste
eine weitere Entfernung vom eigenen Selbst bedeuten. Um aber das
umfassende Gefühl der tief empfundenen Minderwertigkeit wieder
herzustellen und auf perverse Art und Weise zu erfüllen, blieb
letztlich nur die Selbsttötung, nachdem der von Hitler angebotene
Weg zur Selbstüberhöhung durch den systematischen Mord an Europas
Juden folgerichtig (und im unbewussten psychischen Sinne
erwartungsgemäß) gescheitert war.
Es
ist absolut verständlich, dass aus diesem niederschmetternden
Blickwinkel die Selbstmordepidemie von 1945 zu den letzten Tabus in
der Aufarbeitung des Nationalsozialismus gehört. Florian Hubers
anschaulich erzähltes Buch ist zwar ein nützliches Instrument zur
allgemeinen Bewusstwerdung dieses Phänomens, es ist aber wichtig,
dass tiefere Analysen und eine breit angelegte Auseinandersetzung
folgen, um die Ereignisse endgültig von ihrem irrationalistischen
Ballast zu befreien, denn nur so können wir die Wirkungsweisen einer
Massenpsychose wirklich begreifen lernen.
„Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“, erschienen im Berlin Verlag, 303 Seiten, € 22,99
Dieser Artikel ist in leicht veränderter Fassung in der Septemberausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen