Eine der ungewöhnlichsten
und interessantesten Buchneuerscheinungen dieses Frühjahrs,
Margo Lanagans wunderbarer, vielstimmiger Entwicklungsroman
„Seeherzen“, wird es in seiner deutschen Übersetzung gleich
doppelt schwer haben, neugierige und unvoreingenommene Leser für
sich zu gewinnen, weil er zum einen völlig unnötigerweise
als Jugendbuch für die fragwürdige, weil rein hypothetische
und tatsächlich nicht existente „letzte Altersstufe vor dem
Erwachsensein“ vermarktet wird und andererseits aufgrund seines
überaus originellen, mystisch-märchenhaften, in Wahrheit
aber dem magischen Realismus zuzuschreibenden Grundmotivs
fälschlicherweise ins Fantasy-Genre eingeordnet wird, wo er
aufgrund seines großen gedanklichen und erzählerischen
Reichtums sowie angesichts seines auch tiefenpsychologisch weit
ausdeutbaren Inhalts weder hingehört noch Leser finden wird.
Tatsächlich lässt
sich Margo Lanagans ebenso fantasievoller wie vielschichtiger Roman
inhaltlich am ehesten als ein kongenial in episches Format
übertragenes Grimmsches Märchen beschreiben, bei dem das
eigentliche Märchenmotiv in seiner unverwüstlich-vitalen
Aussagekraft immer wieder aufs Neue und dabei abwechselnd aus den
unterschiedlichsten Zeit- und Erzählperspektiven betrachtet
wird, woraus sich am Ende des Buches ein geradezu berückend
schönes, absolut stimmiges Gesamtbild von universeller Wahrheit
ergibt, in dem wir uns als Leser in unserer ureigenen, alles andere
als märchenhaften Realität perfekt gespiegelt wiederfinden
können.
Ich schloss die Augen
und verbarg mein Gesicht in ihren Haaren; ich spürte ihre
schmalen Arme um mich herum, hörte ihre tiefe Stimme, in der
keinerlei Zorn und Vorwurf lagen. Such in den Armen dieses Monsters
Trost, hatte Kitty gesagt. Doch ich suchte keinen Trost, sondern
Wahrheit – die Wahrheit über mich selbst, einen Mann, der
nichts vortäuschte, nicht nach einem protzigen Haus, seltenen
Gegenständen oder beeindruckenden Freunden strebte; ein Mann,
der vollständig war, der in sich ruhte und genau wusste, wer er
war, so beschämend oder bedauernswert das auch sein mochte.
Angesiedelt ist
„Seeherzen“ auf der fiktiven, mystisch-archetypische Züge
tragenden Insel Rollrock Island, die wir aufgrund der sich im Verlauf
der Lektüre nach und nach zusammensetzenden Beschreibung ihrer
Geographie irgendwo im Norden der Britischen Inseln am Ende des
Neunzehnten oder – trotz einiger von der Autorin offenbar bewusst
gesetzter Widersprüchlichkeiten bezüglich der technischen
Entwicklung – am Anfang oder sogar in der Mitte des Zwanzigsten
Jahrhunderts verorten dürfen: ein karges, weltabgeschiedenes
Eiland, dessen in ihrer äußeren Erscheinung als
bäuerlich-plump geschilderte, überwiegend rothaarige
Bevölkerung vor allem vom Fisch- und Robbenfang lebt.
Rollrock Island? |
Die geistig hellwache
heranwachsende Miskaella Prout, jüngste Tochter einer
kinderreichen Familie, fühlt sich seit frühester Kindheit
wie magisch angezogen vom uralten Lagerplatz der Robbenfamilien am
Strand von Crescent Cove. Als sie sich im Verlauf der Jahre zunehmend
ihres eigenen Körpers bewusst zu werden beginnt, stellt sie zu
ihrer großen Überraschung fest, dass diese Faszination
offenbar auf Gegenseitigkeit beruht und auch die Meeressäuger
auf wundersame Art und Weise ihre Nähe zu suchen scheinen. Als
eines frühen Morgens ganze Herden von Robben vor dem meerfernen
Haus der Familie lagern, ergreift ihre Familie äußerst
schmerzhafte „Schutzmaßnahmen“, die das arglose junge
Mädchen noch nachhaltiger brandmarken und isolieren als je
zuvor, und während ihre älteren Schwestern nach und nach
Männer zum Heiraten finden und das Elternhaus verlassen, bleibt
sie allein mit ihrem von einem Schlaganfall schwer gezeichneten Vater
und der hartherzigen, lieblosen Mutter zurück.
Ich hatte gesehen, was
ich sehen wollte. Jede Robbe war von etwas durchzogen, das ich für
zufällig verteilte Lichter gehalten hatte, die alle dieselbe
Funktion besaßen und eins so hell wie das andere strahlten. In
Wahrheit stellten sie im Ansatz vorhandene Teile des menschlichen
Systems dar. [...] Bei noch genauerem Hinsehen – doch die
aufgeregten Bewegungen der Robbenherde hätten mich verraten,
wenn ich noch länger hingeschaut hätte – wäre zu
erkennen gewesen, wie und auf welchen Wegen sie alle zusammengeführt
werden mussten, um zu einer vollständigen menschlichen Form zu
verschmelzen. [...] Jede einzelne dieser Knospen oder Sterne, dieses
Flimmerns oder dieser Geister musste erfasst und zum Zentrum
dirigiert werden. Ich begriff das volle Ausmaß des vor mir
liegenden Unterfangens und wie kompliziert es werden würde.
In einer lauen
Frühsommernacht schleicht sich Miskaella aus dem Haus und steigt
den Berg hinunter zur Crescent Cove, wo sie zunächst ihr
Schutzamulett und dann ihre Kleider ablegt, um mit Hilfe ihrer
angeborenen Zaubergabe einen „Robbenmann“ aus dessen ledriger
Tierhaut zu befreien und sich wie selbstverständlich im
Mondlicht mit ihm zu paaren. Aus dieser vollkommen undenkbaren,
seltsam innigen Verbindung geht ein kleinwüchsiger Sohn hervor,
den die von intensiver Mutterliebe erfüllte Miskaella ein ganzes
Jahr lang erfolgreich vor der meist in den Haushalten ihrer anderen
Töchter aushelfenden Mutter zu verbergen vermag. Als der
liebevoll von ihr umsorgte kleine Ean nach all dieser Zeit immer noch
nicht weiter gewachsen ist, wird ihr jedoch mit brutaler Gewissheit
klar, dass seine eigentlich Heimat das Meer sein muss. Sie näht
ihm eine Haut aus Tierleder und Seetang und trägt ihn schweren
Herzens zurück an den Strand, wo sie ihn den Wellen übergibt.
Margo Lanagan |
Margo Lanagans
ausgesprochen fesselnd zu lesender, trefflich beobachteter und hoch
poetischer Roman, dessen einzige originär „jugendliche“
Eigenschaft sein unbestechlich-offener, kindlicher Blick ist, geht
auf eine frühere Kurzgeschichte der Autorin aus dem Jahr 2009
zurück, die ebenfalls noch deutlich erkennbar als einzelnes,
auffällig dicht erzähltes Einzelkapitel im Buch enthalten
ist. Die beeindruckende Geschichte von Miskaella, die auf kunstvolle
Art und Weise den Prozess einer psychischen Entwicklung als ebenso
anspruchsvolle wie inspirierende äußere Handlung abbildet,
liefert dabei allerdings nur den individuellen Hintergrund und die
unerlässliche Vorbedingung für die weiteren seltsam
schönen, tragischen und wundersamen Ereignisse auf Rollrock
Island.
Denn obwohl die
märchenhafte Rückverwandlung von Miskaellas unglücklichem
Sohn gelingt und dieser eine neue schwerelose Heimat im Meer findet,
verändert die schicksalsträchtige Nacht das Wesen der
jungen Frau nachhaltig, die von künftigen Generationen als
ebenso missgestaltete wie dauerhaft schlecht gelaunte, stigmatisierte
„alte Hexe“ stets gefürchtet und gemieden wird, obwohl sie
sich mit ihren unbestreitbaren, von allen Männern dankbar
genutzen und dennoch niemals laut ausgesprochenen Zauberkräften
längst zur mächtigsten und reichsten Frau der Insel
entwickelt hat. Denn die alte Miskaella versteht sich darauf, in
Vollmondnächten die schönsten, verführerischsten und
unwiderstehlichsten „Robbenfrauen“ aus ihren Meereshäuten zu
befreien und sie den Männern der Insel gegen Zahlung einer
großzügigen Rente auf Lebenszeit als willkommene Bräute
zuzuführen.
„Also gut...“ Der
freche Kerl war nicht einmal ansatzweise verlegen. „Es heißt,
du besitzt die Gabe. Ich wollte fragen, ob du mir eine Robbe holen
kannst.“ Als ich nicht antwortete, fügte er hinzu: „Eine
Frau aus einer Robbe, meine ich. So wie die von gestern.“
Diese Art der Rache
verändert Rollrock Island vollständig, denn selbst jene
gestandenen Männer und scheinbar liebevollen Familienväter,
die bereits mit rothaarigen Menschinnen verheiratet sind, vermögen
sich dem Zauber der sanften Meereswesen mit ihrem grazilen Körperbau
und ihren seidig-glänzenden, langen glatten Haaren und ihrem
natürlichen Verständnis von Sexualität nicht dauerhaft
zu entziehen, wispern nachts in verborgenen Höhlen ungläubig
„Was machst du mit mir, meine Schöne!“ oder verbergen ihre
heimliche Beute vor den Blicken ihrer Ehefrauen und Kinder tagsüber
im neu zusammengezimmerten Schrank im Geräteschuppen hinter dem
Haus. Und es entstehen zahlreiche weitere Kinder aus diesen
unstatthaften Beziehungen: manche müssen dem Meer übergeben
werden, aber viele leben an Land und wachsen zu fühlenden,
denkenden Menschen heran...
„Es war für mich
eben gerade das erste Mal, dass ich eine Mum gesehen habe, die gerade
frisch aus dem Meer kommt“, hörte ich mich entschuldigend
sagen.
„Oh, noch ist sie
keine Mum“, meinte Mum. „Zumindest nicht an Land. Es kann aber
sein, dass sie schon mehrmals Junge bekommen hat und sie im Meer
zurücklassen musste.“
„Das stimmt“, sagte
ich. „Heißt es nicht auch in den Geschichten, dass sie
zwischen ihren beiden Arten von Kindern hin- und hergerissen sind?“
Dies jedoch ist immer noch
erst der Anfang einer absolut faszinierenden Geschichte – mehr über
den weiteren Verlauf der ereignisreichen Handlung zu verraten, würde
der Lektüre einen großen Teil seines erheblichen Zaubers
nehmen. Margo Lanagan ist ein wirklich außergewöhnlicher
Roman von beeindruckender, tief verinnerlichter, ehrlicher
Mitmenschlichkeit gelungen, der sich ebenso mutig wie erfolgreich
jeglichem Versuch der Kategorisierung von außen entzieht: in
dieser unvergesslichen Geschichte gibt es weder Täter noch
Opfer. Die Autorin schildert den unverhofften Einbruch des
unbestreitbar Schönen und Unbeschwerten in die rauhe Welt von
Rollrock Island zu keinem Zeitpunkt ihrer virtuosen Erzählung
als fragwürdiges Teufelswerk, nicht einmal aus der Perspektive
der so bitter um ihr Lebensglück betrogenen Menschenfrauen,
sondern stets aus dem verständnissinnigen, zärtlich-reifen
Blickwinkel liebevoller Empathie. Auf diese Art und Weise werden die
märchenhaften Ereignisse von Rollrock Island für den Leser
nicht nur intuitiv als Ausdruck menschlicher Träume und
Sehnsüchte unmittelbar erfahrbar, sondern auch zum möglichen
Ausgangspunkt einer überaus reizvollen, umfassenden
tiefenpsychologischen Deutungsvariante. Es bleibt zu hoffen, dass
dieser außergwöhnliche Roman auch außerhalb seiner
auf fragwürdige Art und Weise allzu eng umrissenen Zielgruppe
viele begeisterte Leser finden wird.
„Seeherzen“, aus dem
Englischen von Mayela Gerhardt, erschienen bei Rowohlt Rotfuchs, 333
Seiten, € 16,99