Jerusalem

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Samstag, 29. März 2014

„Seeherzen“ von Margo Lanagan

Eine der ungewöhnlichsten und interessantesten Buchneuerscheinungen dieses Frühjahrs, Margo Lanagans wunderbarer, vielstimmiger Entwicklungsroman „Seeherzen“, wird es in seiner deutschen Übersetzung gleich doppelt schwer haben, neugierige und unvoreingenommene Leser für sich zu gewinnen, weil er zum einen völlig unnötigerweise als Jugendbuch für die fragwürdige, weil rein hypothetische und tatsächlich nicht existente „letzte Altersstufe vor dem Erwachsensein“ vermarktet wird und andererseits aufgrund seines überaus originellen, mystisch-märchenhaften, in Wahrheit aber dem magischen Realismus zuzuschreibenden Grundmotivs fälschlicherweise ins Fantasy-Genre eingeordnet wird, wo er aufgrund seines großen gedanklichen und erzählerischen Reichtums sowie angesichts seines auch tiefenpsychologisch weit ausdeutbaren Inhalts weder hingehört noch Leser finden wird.



Tatsächlich lässt sich Margo Lanagans ebenso fantasievoller wie vielschichtiger Roman inhaltlich am ehesten als ein kongenial in episches Format übertragenes Grimmsches Märchen beschreiben, bei dem das eigentliche Märchenmotiv in seiner unverwüstlich-vitalen Aussagekraft immer wieder aufs Neue und dabei abwechselnd aus den unterschiedlichsten Zeit- und Erzählperspektiven betrachtet wird, woraus sich am Ende des Buches ein geradezu berückend schönes, absolut stimmiges Gesamtbild von universeller Wahrheit ergibt, in dem wir uns als Leser in unserer ureigenen, alles andere als märchenhaften Realität perfekt gespiegelt wiederfinden können.

Ich schloss die Augen und verbarg mein Gesicht in ihren Haaren; ich spürte ihre schmalen Arme um mich herum, hörte ihre tiefe Stimme, in der keinerlei Zorn und Vorwurf lagen. Such in den Armen dieses Monsters Trost, hatte Kitty gesagt. Doch ich suchte keinen Trost, sondern Wahrheit – die Wahrheit über mich selbst, einen Mann, der nichts vortäuschte, nicht nach einem protzigen Haus, seltenen Gegenständen oder beeindruckenden Freunden strebte; ein Mann, der vollständig war, der in sich ruhte und genau wusste, wer er war, so beschämend oder bedauernswert das auch sein mochte.

Angesiedelt ist „Seeherzen“ auf der fiktiven, mystisch-archetypische Züge tragenden Insel Rollrock Island, die wir aufgrund der sich im Verlauf der Lektüre nach und nach zusammensetzenden Beschreibung ihrer Geographie irgendwo im Norden der Britischen Inseln am Ende des Neunzehnten oder – trotz einiger von der Autorin offenbar bewusst gesetzter Widersprüchlichkeiten bezüglich der technischen Entwicklung – am Anfang oder sogar in der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts verorten dürfen: ein karges, weltabgeschiedenes Eiland, dessen in ihrer äußeren Erscheinung als bäuerlich-plump geschilderte, überwiegend rothaarige Bevölkerung vor allem vom Fisch- und Robbenfang lebt.

Rollrock Island?

Die geistig hellwache heranwachsende Miskaella Prout, jüngste Tochter einer kinderreichen Familie, fühlt sich seit frühester Kindheit wie magisch angezogen vom uralten Lagerplatz der Robbenfamilien am Strand von Crescent Cove. Als sie sich im Verlauf der Jahre zunehmend ihres eigenen Körpers bewusst zu werden beginnt, stellt sie zu ihrer großen Überraschung fest, dass diese Faszination offenbar auf Gegenseitigkeit beruht und auch die Meeressäuger auf wundersame Art und Weise ihre Nähe zu suchen scheinen. Als eines frühen Morgens ganze Herden von Robben vor dem meerfernen Haus der Familie lagern, ergreift ihre Familie äußerst schmerzhafte „Schutzmaßnahmen“, die das arglose junge Mädchen noch nachhaltiger brandmarken und isolieren als je zuvor, und während ihre älteren Schwestern nach und nach Männer zum Heiraten finden und das Elternhaus verlassen, bleibt sie allein mit ihrem von einem Schlaganfall schwer gezeichneten Vater und der hartherzigen, lieblosen Mutter zurück.

Ich hatte gesehen, was ich sehen wollte. Jede Robbe war von etwas durchzogen, das ich für zufällig verteilte Lichter gehalten hatte, die alle dieselbe Funktion besaßen und eins so hell wie das andere strahlten. In Wahrheit stellten sie im Ansatz vorhandene Teile des menschlichen Systems dar. [...] Bei noch genauerem Hinsehen – doch die aufgeregten Bewegungen der Robbenherde hätten mich verraten, wenn ich noch länger hingeschaut hätte – wäre zu erkennen gewesen, wie und auf welchen Wegen sie alle zusammengeführt werden mussten, um zu einer vollständigen menschlichen Form zu verschmelzen. [...] Jede einzelne dieser Knospen oder Sterne, dieses Flimmerns oder dieser Geister musste erfasst und zum Zentrum dirigiert werden. Ich begriff das volle Ausmaß des vor mir liegenden Unterfangens und wie kompliziert es werden würde.

In einer lauen Frühsommernacht schleicht sich Miskaella aus dem Haus und steigt den Berg hinunter zur Crescent Cove, wo sie zunächst ihr Schutzamulett und dann ihre Kleider ablegt, um mit Hilfe ihrer angeborenen Zaubergabe einen „Robbenmann“ aus dessen ledriger Tierhaut zu befreien und sich wie selbstverständlich im Mondlicht mit ihm zu paaren. Aus dieser vollkommen undenkbaren, seltsam innigen Verbindung geht ein kleinwüchsiger Sohn hervor, den die von intensiver Mutterliebe erfüllte Miskaella ein ganzes Jahr lang erfolgreich vor der meist in den Haushalten ihrer anderen Töchter aushelfenden Mutter zu verbergen vermag. Als der liebevoll von ihr umsorgte kleine Ean nach all dieser Zeit immer noch nicht weiter gewachsen ist, wird ihr jedoch mit brutaler Gewissheit klar, dass seine eigentlich Heimat das Meer sein muss. Sie näht ihm eine Haut aus Tierleder und Seetang und trägt ihn schweren Herzens zurück an den Strand, wo sie ihn den Wellen übergibt.

Margo Lanagan

Margo Lanagans ausgesprochen fesselnd zu lesender, trefflich beobachteter und hoch poetischer Roman, dessen einzige originär „jugendliche“ Eigenschaft sein unbestechlich-offener, kindlicher Blick ist, geht auf eine frühere Kurzgeschichte der Autorin aus dem Jahr 2009 zurück, die ebenfalls noch deutlich erkennbar als einzelnes, auffällig dicht erzähltes Einzelkapitel im Buch enthalten ist. Die beeindruckende Geschichte von Miskaella, die auf kunstvolle Art und Weise den Prozess einer psychischen Entwicklung als ebenso anspruchsvolle wie inspirierende äußere Handlung abbildet, liefert dabei allerdings nur den individuellen Hintergrund und die unerlässliche Vorbedingung für die weiteren seltsam schönen, tragischen und wundersamen Ereignisse auf Rollrock Island.

Denn obwohl die märchenhafte Rückverwandlung von Miskaellas unglücklichem Sohn gelingt und dieser eine neue schwerelose Heimat im Meer findet, verändert die schicksalsträchtige Nacht das Wesen der jungen Frau nachhaltig, die von künftigen Generationen als ebenso missgestaltete wie dauerhaft schlecht gelaunte, stigmatisierte „alte Hexe“ stets gefürchtet und gemieden wird, obwohl sie sich mit ihren unbestreitbaren, von allen Männern dankbar genutzen und dennoch niemals laut ausgesprochenen Zauberkräften längst zur mächtigsten und reichsten Frau der Insel entwickelt hat. Denn die alte Miskaella versteht sich darauf, in Vollmondnächten die schönsten, verführerischsten und unwiderstehlichsten „Robbenfrauen“ aus ihren Meereshäuten zu befreien und sie den Männern der Insel gegen Zahlung einer großzügigen Rente auf Lebenszeit als willkommene Bräute zuzuführen.

Also gut...“ Der freche Kerl war nicht einmal ansatzweise verlegen. „Es heißt, du besitzt die Gabe. Ich wollte fragen, ob du mir eine Robbe holen kannst.“ Als ich nicht antwortete, fügte er hinzu: „Eine Frau aus einer Robbe, meine ich. So wie die von gestern.“

Diese Art der Rache verändert Rollrock Island vollständig, denn selbst jene gestandenen Männer und scheinbar liebevollen Familienväter, die bereits mit rothaarigen Menschinnen verheiratet sind, vermögen sich dem Zauber der sanften Meereswesen mit ihrem grazilen Körperbau und ihren seidig-glänzenden, langen glatten Haaren und ihrem natürlichen Verständnis von Sexualität nicht dauerhaft zu entziehen, wispern nachts in verborgenen Höhlen ungläubig „Was machst du mit mir, meine Schöne!“ oder verbergen ihre heimliche Beute vor den Blicken ihrer Ehefrauen und Kinder tagsüber im neu zusammengezimmerten Schrank im Geräteschuppen hinter dem Haus. Und es entstehen zahlreiche weitere Kinder aus diesen unstatthaften Beziehungen: manche müssen dem Meer übergeben werden, aber viele leben an Land und wachsen zu fühlenden, denkenden Menschen heran...

Es war für mich eben gerade das erste Mal, dass ich eine Mum gesehen habe, die gerade frisch aus dem Meer kommt“, hörte ich mich entschuldigend sagen.
Oh, noch ist sie keine Mum“, meinte Mum. „Zumindest nicht an Land. Es kann aber sein, dass sie schon mehrmals Junge bekommen hat und sie im Meer zurücklassen musste.“
Das stimmt“, sagte ich. „Heißt es nicht auch in den Geschichten, dass sie zwischen ihren beiden Arten von Kindern hin- und hergerissen sind?“

Dies jedoch ist immer noch erst der Anfang einer absolut faszinierenden Geschichte – mehr über den weiteren Verlauf der ereignisreichen Handlung zu verraten, würde der Lektüre einen großen Teil seines erheblichen Zaubers nehmen. Margo Lanagan ist ein wirklich außergewöhnlicher Roman von beeindruckender, tief verinnerlichter, ehrlicher Mitmenschlichkeit gelungen, der sich ebenso mutig wie erfolgreich jeglichem Versuch der Kategorisierung von außen entzieht: in dieser unvergesslichen Geschichte gibt es weder Täter noch Opfer. Die Autorin schildert den unverhofften Einbruch des unbestreitbar Schönen und Unbeschwerten in die rauhe Welt von Rollrock Island zu keinem Zeitpunkt ihrer virtuosen Erzählung als fragwürdiges Teufelswerk, nicht einmal aus der Perspektive der so bitter um ihr Lebensglück betrogenen Menschenfrauen, sondern stets aus dem verständnissinnigen, zärtlich-reifen Blickwinkel liebevoller Empathie. Auf diese Art und Weise werden die märchenhaften Ereignisse von Rollrock Island für den Leser nicht nur intuitiv als Ausdruck menschlicher Träume und Sehnsüchte unmittelbar erfahrbar, sondern auch zum möglichen Ausgangspunkt einer überaus reizvollen, umfassenden tiefenpsychologischen Deutungsvariante. Es bleibt zu hoffen, dass dieser außergwöhnliche Roman auch außerhalb seiner auf fragwürdige Art und Weise allzu eng umrissenen Zielgruppe viele begeisterte Leser finden wird.

„Seeherzen“, aus dem Englischen von Mayela Gerhardt, erschienen bei Rowohlt Rotfuchs, 333 Seiten, € 16,99


Dienstag, 11. März 2014

„Safari, innere Wildnis“ von Andrea Grill

Der deutsche Buchmarkt ist in seiner von der Verkaufserwartung diktierten grundsätzlichen Struktur schematisch genug, um innerhalb seiner beiden wesentlichen Veröffentlichungszeiträume, die interessanterweise zwei durchaus auch metaphorisch zu verstehenden natürlichen Jahreszeiten zugeordnet sind, zwischen sogenannten Herbsttiteln auf der einen Seite zu unterscheiden sowie Frühjahrstiteln auf der anderen. Während es also trotz der erklärten Autonomie guter Literatur nach dieser marktgerechten Definition Bücher zu geben scheint, die üblicherweise nicht in die eine oder andere Jahreszeit passen und deren Veröffentlichung deshalb im schlimmsten Fall auf den entsprechenden Zeitpunkt verschoben werden muss, gehört der soeben erschienene wunderbare zweite Gedichtband der österreichischen Lyrikerin Andrea Grill zu jenen Büchern, bei denen die Entscheidung für den Frühling zumindest deshalb nachvollziehbar ist, weil der Charakter der Jahreszeit dem in ihren Versen vermittelten Lebensgefühl auf nahezu perfekte Art und Weise zu entsprechen scheint:


birneessend kann die Welt

nicht untergehen


So lautet die möglicherweise schönste, mit Sicherheit aber bei weitem einprägsamste Zeile im lange erwarteten neuen Band der 1975 in Bad Ischl geborenen promovierten Biologin und bereits vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin und Übersetzerin, der wie kaum ein anderer in ihrem Buch geeignet ist, um auf Postkarten und T-Shirts gedruckt zu werden und auf diese Weise die Welt mit einer neuen poetischen Sichtweise zu bereichern. 




 Denn auch wenn die natürlichen Jahreszeiten in der Lyrik Andrea Grills eine große Rolle spielen, wird gerade in diesen eindringlichen Versen exemplarisch deutlich, wie unabhängig von jeglichen äußeren Anlässen, universell und heilsam das darin vermittelte Bild ist und wie sehr wir einer präzise vermittelnden Lyrik bedürfen, die auf vollkommene Art und Weise in der vitalen Gegenwart des sinnlichen Erlebens angesiedelt sind.


Muss die Zeit in Stücke geschnitten

mit Butter bestrichen

essen


verlasse mich auf deinen Körper

wo ich nur den Stoff

kenne glatt sauber genäht



Andrea Grills Gedichte atmen auf geradezu magische, schwerelose Art und Weise Leichtigkeit, ohne dabei jemals als zu leicht oder belanglos befunden werden zu können – hier scheint die Verbindung zum Promotionsthema der Autorin unmittelbar spürbar, in welchem sie die Evolution endemischer Schmetterlingsarten in Sardinien untersucht hatte; sie vermögen mit wissenschaftlich exakter Sprache, rationalem Urteilsvermögen und akkurat abgewogenem, unverkennbar eigenständigem und überlegenem sprachlichen Ausdruck sowie einer erfrischend neuen poetischen Sichtweise auf kongeniale Art und Weise gerade das scheinbar im Gegensatz zu diesen, im übrigen auch auf den Prozess des Lesens auszuweitenden Attributen stehende Flüchtige in einem Gefühl, einer Wetterlage, einer Tageszeit oder einem kaum sichtbaren Entwicklungsschritt zu beschreiben, als wäre man im unmittelbaren Erleben oder in der erinnernden Selbsteflexion mit der Autorin gleichzeitig.


Daumen Zeige Mittel

den Ringfinger nimmt keiner,

achtzehn Jahre lang

Abdruck von jedem Besucher

auf dem Metall,

wie auf dem Fuß dieser Statue a Roma,

ungezählte weiche Hände

schleifen jeden Stein;


mir leben vorzustellen wie einen Fluss

gelingt nicht

das Leben ist eine Klingel

auf die ich heute nur 1x drücke


Andrea Grills Gedichte sind in vielfältiger Weise ebenso unmissverständlich wie nachhaltig belebt: da hätten runde kugelige Nachtgeister im Garten gern mehr von der menschlichen Liebe gesehen. Oder sind etwa auch Bäume am schönsten, bevor sie schlafen. Einstmals schmetterlingsgleiche, getrocknete Liebesversprecher im Herbarium halten länger als ein Menschenleben. Andrea Grills wunderbare sprachspielerische, fest in der Gegenwart des sinnlichen individuellen Erlebens verortete, hoch intelligente und lebenskluge Poesie ist besonders deshalb ein großes Geschenk für den Leser, weil sie uns geistesblitzartig immer wieder die Schönheit und den von zahlreichen Gegensätzen und Widersprüchlichkeiten beseelten Reichtum des Lebens offenbart.


Andrea Grill/Foto: L.E.L. Raijmann



Andrea Grill beherrscht die große Kunst der feinsinnigen, erotischen Anspielung – ihre eindringlichen Liebesgedichte an das Leben werden stets von einer sensibel-verhaltenen, empathisch-zärtlichen und dennoch direkten inneren Stimme genuiner Intimität getragen, die wirkliche Nähe (in jeglicher Hinsicht) überhaupt erst zulässt. Dabei verhandelt die originelle Autorin durchaus große Fragen, wenn auch meist mit dem geschulten Blick der Biologin für das kleine Detail als Indiz für größere Zusammenhänge. Ihre Verse wirken nie aufgesetzt oder effekthaschend, sondern bleiben selbst in Momenten humorvollen Augenzwinkerns stets von großer poetischer Wahrhaftigkeit.

In der Stadt

riecht's nach Linden,

morgen ist morgen

was will ich mehr;

höchstens dass

morgen doppelt wär.


Andrea Grills unnachahmliche, Leben atmende Verse passen zweifellos wunderbar in den Frühling – aber gerade deshalb bedürfen wir ihrer vielleicht umso dringender in Herbst und Winter, gleichsam als prächtige, literarische Schmetterlingssammlung, die uns beharrlich dazu ermutigt, das Leben ebenso mit wachen Sinnen auszuprobieren wie wir mit scharfem Verstand immer wieder auch darüber nachdenken müssen. Auf diese Weise gelingt es der Autorin höchst elegant, zwei wesentliche, von der Literaturkritik immer wieder als unvereinbar herausgestellte, scheinbare Gegensätze aufs Gelungenste miteinander zu versöhnen, was gerade für den ganz gewöhnlichen, unvoreingenommenen Leser besondere Bedeutung haben dürfte. Es ist schön, dass Andrea Grill das große, sich aus ihrem ersten Gedichtband „Happy Batards“ (2011) ergebende Versprechen nun so virtuos und eindringlich bestätigt hat.



„Safari, innere Wildnis“, erschienen im Otto Müller Verlag, 78 Seiten, € 18,-


Sonntag, 9. März 2014

„Die Hände des Pianisten“ von Yali Sobol

Wie leicht und nahezu unmerklich der Übergang vom Rechtsstaat zum Totalitarismus in Zeiten von Krieg oder vorgeblicher allgemeiner Krise von einem skrupellos berechnenden Regime bewerkstelligt werden kann, das unter der Prämisse des Allgemeinwohls und kurzfristig konsensfähiger sogenannter „notwendiger“ Maßnahmen seine Option auf die totale Macht wahrnimmt, zeigt der israelische Schriftsteller und Musiker Yali Sobol (Sohn des Dramatikers Jehoschua Sobol) auf meisterhafte Art und Weise in seinem soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Die Hände des Pianisten“, einer mit unaufdringlicher Doppelbödigkeit und großem inneren Verständnis für die subtilen Funktionsweisen des Terrors ausgestatteten, großartigen literarischen Parabel, die überaus geschickt mit unserer optimistischen Erwartungshaltung sowie unserem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden spielt.




Dabei lässt der in Israel vor allem durch seine Band Monica Sex zu Kultstatus gelangte Schriftsteller seine beunruhigende Dystopie schon mit einem gängigen zionistischen Denkverbot beginnen, um Schauplatz und zeitlichem Rahmen seines Romans in fragmentarischer Kürze treffend zu beschreiben: „Tel Aviv, nach dem nächsten Krieg“. Die Metropole am Mittelmeer ist während des nicht näher umschriebenen Kriegsverlaufs durch zahlreiche feindliche Raketentreffer erheblich zerstört worden, ihre Bewohner sind noch vollauf damit beschäftigt, sich wieder halbwegs in ihrem altvertrauten Leben einzurichten. Maßgeblich verantwortlich für das schnelle Ende eines für Israel eigentlich schon verloren geglaubten Krieges ist offenbar ein erfolgreicher Putsch einer kleinen Gruppe von Generälen, dem unter anderem der Generalstabschef und der rechtmäßig gewählte Ministerpräsident zum Opfer gefallen sind:

Das einzige, was der Öffentlichkeit offiziell bekannt gemacht wurde, war das über die Medien am Abend der Explosion verbreitete Bulletin des stellvertretenden Oberbefehlshabers, Generalmajor Menachem „Meni“ Schamai. Er gab einen kurzen Bericht über die Katastrophe ab und teilte dann mit, in Absprache mit dem Staatspräsidenten, dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofs und dem Rechtsberater der Regierung sei ein Übergangsoberkommando unter seiner Leitung eingerichtet worden, in dem hochrangige Vertreter aller Regierungsstellen vertreten seien. Das ÜOK, so Schamai, werde die Führung der Staatsgeschäfte bis zum Ende des Krieges übernehmen und „Das Schiff an sichere Gestade steuern“.

Sehr gekonnt demaskiert Yali Sobol bereits hier die plumpe, selbstgefällige, sich volksnah-solidarisch gebende, schnarrige Vertraulichkeit der israelischen Militärs, wie sie auch heute wie selbstverständlich an der Tagesordnung ist, als allgegenwärtige, ganz reale potenzielle Gefahr für die israelische Demokratie sowie für eine perspektivisch sinnvollerweise zu schaffende Zivilgesellschaft, die diese Bezeichnung in vollem Maße verdient. In Sobols Roman ist freilich auch nach Ende des fiktiven Krieges keine Rede mehr von einer möglichen Rückkehr zu den demokratischen Strukturen des Status quo ante: eine Reihe von Notstandsverordnungen zementiert die Macht des Generalstabschefs und seines ÜOK und ermächtigt insbesondere die Polizeiorgane bei Bedarf zum Einsatz aller „notwendigen Mittel“.

Sie hatten keinen Haftbefehl, aber Vizekommandant Levi wusste, das würde nicht sein Problem werden. In den letzten Monaten, seit die Notstandsverordnungen in Kraft getreten waren, hatte sich das Verhältnis der Bürger zur Polizei spürbar verändert. Levi hatte diese Veränderung immer wieder in seinem Verhörraum beobachten können. Das war schon nicht mehr die alte generelle, mit Aversion einhergehende Furchtsamkeit, die sich in Ergebenheit ausdrückte, vermischt mit nur mühsam unterdrückter Aufsässigkeit. Jetzt war es echte Angst. Die Polizei hatte Mittel und Unabhängigkeit bekommen, wie sie sie noch nie gehabt hatte, und machte naturgemäß begeistert davon Gebrauch. Für korrupte Polizisten oder einfach nur Sadisten war die neue Situation das Paradies. Manche Leute machten unliebsame Erfahrungen. Schlimme Dinge, über die man sich bei niemandem beschweren konnte. Die Botschaft kam überraschend schnell in der Öffentlichkeit an: Mit der Polizei legte man sich besser nicht mehr an.

Der Autor zeigt mit heimtückischer Bravour und aus stetig wechselnder Perspektive seiner auf unterschiedlichen Seiten stehenden Protagonisten, wie leicht man unter den Bedingungen einer sich frisch entspinnenden Diktatur selbst als vollkommen harmloser, unpolitischer und weitestgehend gesetzestreuer Staatsbürger in die gleichgültigen Klauen eines sich in zunehmendem Maße selbst legitimierenden Polizeiapparats geraten kann. In Sobols Roman trifft es den hochbegabten klassischen Pianisten Joav Kirsch, dessen einst hoffnungsvolle Karriere stagniert, seitdem er die magische Altersgrenze von dreißig Jahren überschritten hat, was ihn nicht weiterhin zur lukrativen Teilnahme an hochdotierten Wettbewerben in Europa und den USA qualifiziert. Seit Ende des Krieges besteht seine einzige kümmerliche Einnahmequelle aus wenigen armseligen Auftritten unter vollkommen unprofessionellen, improvisieten Umständen im Staatsdienst, mit denen die Moral der Bevölkerung gestärkt werden soll.

Ayalon-Highway, Tel Aviv

So ist es zunächst seine Ehefrau Chagit, die als vielbeschäftigte Cutterin bei den Fernsehnachrichten für den Lebensunterhalt des kinderlosen Paares aufkommen muss. Als sich aufgrund der neuen restriktiven Ausreisebestimmungen auch eine seit langem geplante Europatournee zerschlägt und die zunehmend angespannte häusliche Situation die in langjähriger, aufrichtiger zärtlicher Liebe Verbundenen zu entzweien droht, gibt Joav schließlich dem Drängen eines ebenso wohlhabenden wie einflussreichen mysteriösen Bewunderers nach, regelmäßig in dessen Haus musikalische Soireen abzuhalten – ein Entschluss, der nicht nur seine finanzielle Situation deutlich verbessert, sondern den weltfremden Träumer auch wieder Anteil am gesellschaftlichen Leben nehmen lässt.

Ich kann nicht glauben, dass wir uns wegen ein paar Tomaten und einer Packung Hüttenkäse angebrüllt haben“, sagte er. Sie drehte sich zu ihm um. Die schrecklichen Gedanken, die ihr in der Nacht durch den Kopf gegangen waren, trafen sie für einen Moment wie ein Schlag, ließen ihren Magen verkrampfen und verflogen sogleich beim Anblick seines kindlichen Morgengesichtes auf dem Kopfkissen, das sie erwartungsvoll ansah.“Ich auch nicht.“Sie setzte sich im Schneidersitz vor ihn. Seine Hand tastete sich auf dem Laken voran und ergriff die ihre. „Das ist genau, was die wollen“, murmelte sie. Sie hatte keine Ahnung, wen sie mit „die“ meinte, aner diese „die“ gab es, und Joav und sie waren wie zwei Mäuschen in ihrem Versuchslabor.

Währenddessen muss sich der resignierte Polizeioberinspektor Itzak Levi, ein ehemaliger Philosophiestudent und einstmals leidenschaftlicher Schauspielschüler, gleichsam als letzte persönliche Bewährungsprobe, die ihm von seinen neuen Vorgesetzten gewährt wird, im Rahmen einer neuen, zunächst nur aus seiner eigenen Person bestehenden Spezialeinheit zur Sichtung, Erfassung, Überwachung und ideologischen Einordnung der israelischen Künstlerschaft bewähren. Nach monatelanger pedantischer Arbeit und ersten, von der Soldateska mit eitlem Beifall quittierten Erfolgen, zu denen nebenbei auch eine unverhoffte Hauptrolle für seine älteste Tochter an einem der renommiertesten Theater des Landes gezählt werden muss, wird seine Abteilung vom ÜOK großzügig zu einer schlagkräftigen Truppe ausgebaut, und er selbst ernennt mit diabolischem Kalkül ausgerechnet den ehrgeizigen, gestapohaften Verhörspezialisten Inspektor Wilner zu seinem Stellvertreter.

Oberinspektor Levi unterdrückte den alten Impuls einzuschreiten, ehe sein Ermittler die Grenzen des Erlaubten überschritte. Bis vor Kurzem noch hatte solche Gewaltanwendung als grenzwertig oder sogar unzulässig gegolten, aber die noch frischen Notstandsbestimmungen erlaubten größere Flexibilität und Eigenermessen beim Einsatz physischer Druckmittel, insbesondere in Fällen, in denen die Zeit eine Rolle spielte. Levi war nicht wirklich besorgt. Sein junger Inspektor war einer, der sich im Griff hatte. Außerdem hatten sie im Vorfeld die Spielregeln abgesteckt. Die beiden Ohrfeigen, die er dem jungen Punksänger verpasst hatte, waren absolut im Rahmen des Vereinbarten.

Yali Sobol/Foto: Ornit Pnini

Als der ahnungslosen Chagit eines Tages von einem Kollegen der Nachrichtenredaktion unter geheimnisvollen Umständen ein USB-Stick in die Hand gedrückt wird, den jener sie mit verzweifeltem Nachdruck sicher für ihn zu verwahren bittet und die Polizei kurz darauf eine allumfassende Razzia im TV-Sender durchführt, gerät sie trotz äußerster Vorsicht und absoluter Verschwiegenheit unweigerlich ins Visier von Oberinspektor Levis fieberhaft ermittelnder Geheimbehörde, deren oberste Priorität die Vertuschung eines ungeheuerlichen Skandals zu sein scheint, der bis in die höchsten Kreise der Macht führt. Während sich die Lebenswege der einzelnen Protagonisten im Verlauf der Ermittlungen auf schicksalhafte Art und Weise unerbittlich kreuzen, wird beispielhaft deutlich, wie unausweichlich und nachhaltig die absolute, gänzlich unsanktionierte Macht Menschen zu korrumpieren vermag; gleichzeitig wird der Leser mittels zahlreicher unerwarteter Wendungen immer wieder erfolgreich getäuscht und schließlich in seiner Hoffnung auf ein versöhnliches Ende auch nachhaltig enttäuscht.

Er schleifte den Pianisten, der kaum noch bei Bewusstsein war, zu einem Tisch in der Ecke des Raumes, hob seinen schlaffen Arm und spreizte die Finger der rechten Hand auf der Tischplatte. Dann zog er aus seinem Gürtel einen kurzen Schlagstock aus massivem Holz. Mit der einen Hand drückte er Joavs Hand auf den Tisch und schwang die andere, die den Schlagstock hielt, hoch über den Kopf. „Jetzt“, brüllte er. „Überleg schnell, ob es noch etwas gibt, was du mir sagen willst. Ich zähle bis drei. Eins... zwei... “

Die Hände des Pianisten werden somit zum äußerst zerbrechlichen Symbol des kostbarsten immateriellen Gutes, das wir in einem Rechtsstaat besitzen und mit Nachdruck unter allen Umständen zu vertreten haben. Yali Sobols unkonventioneller, hellsichtiger Roman ist zwar für die jüdische Bevölkerung Israels nur eine düstere, wenn auch denkbar-naheliegende Zukunftsvision, für die unterprivilegierte arabische Minderheit (die interessanterweise im Buch nicht einmal erwähnt wird) sowie insbesondere für die Palästinenser in den besetzten Gebieten jedoch seit vielen Jahrzehnten traurige Realität. Gerade aufgrund seiner moderaten, den Leser eher mit empathischem Wiedererkennen und unmissverständlichen Andeutungen überzeugenden, als durch brutale Gewaltszenen überrumpelnden humanistischen Sichtweise ist „Die Hände des Pianisten“ ohne Zweifel einer der erstaunlichsten und überzeugendsten politischen Romane, die innerhalb der letzten Jahre aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt worden sind. Gleichzeitig ist dem Autor mit seinem spannend zu lesenden Buch eine universell lesbare, unmissverständliche Warnung vor dem Weg in totalitäre Verhältnissen gelungen.

„Die Hände desPianisten“, aus dem Hebäischen von Markus Lemke, erschienen bei Antje Kunstmann, 288 Seiten, € 19,95

Samstag, 1. März 2014

„Überraschung“ von Mies van Hout


Die regenbogenfarben-neonleuchtenden intensiven Farbwelten, die die niederländische Künstlerin und Illustratorin Mies van Hout (geboren 1962) in ihrer unnachahmlichen charakteristischen Bildsprache immer wieder aufs Neue wie aus dem sprichwörtlichen Nichts ihres bevorzugten Bildhintergrunds aus gewöhnlichem schwarzem Tonkarton im Bewusstsein des faszinierten Betrachters explodieren lässt, wirken wie in seltener künstlerischer Hellsichtigkeit manifestierte Verkörperungen archetypischer Seelenbilder, die für einen kurzen, greifbar-gegenwärtigen Moment intuitiven Verstehens aus dem Dunkel des kollektiven Unbewussten zu uns heraufgestiegen sind, um sich schon bald wieder – spätestens jedoch beim nächsten Umblättern – wieder an diesen verstandesmäßig nur schwer zugänglichen Ort zurückzuziehen. Mit nicht wenig Berechtigung ließe sich sogar behaupten, dass die Künstlerin auf diese Art und Weise sogar ein so komplexes Gefühl wie „Glück“ im Betrachter zu spiegeln vermag.



Dieser von der ausgebildeten Kunstpädagogin unter Umständen in diesem Maße weder intendierte noch vorausgesehene, jedoch ohne Zweifel weit über das Genre des Bilderbuchs hinausweisende erfreuliche Nebeneffekt macht ihre unscheinbaren Kunstwerke auch für den erwachsenen Leser so überaus kostbar – auf die zahlreichen naheliegenden Möglichkeiten, Mies van Houts Bilder etwa auch zu therapeutischen oder meditativ-selbstreflexiven Zwecken einzusetzen, ist bereits angesichts ihrer ersten in ihrem charakteristischen Stil gestalteten Buchveröffentlichung „Heute bin ich“ (2012) ausführlich hingewiesen worden: einem mit über 80.000 verkauften Exemplaren, mittlerweile in sechster Auflage lieferbarem veritablen Überraschungsbestseller, der im vergangenen Jahr vollkommen zu Recht für den renommierten Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie „Sachbuch“ nominiert war.

Ihr allerneuestes soeben in deutscher Übersetzung erschienenes Buch „Überraschung“ ist sogar in noch viel stärkerem Maße als visuelle Entdeckungsreise für erwachsene Leser angelegt als das ganz der reichen Vielfalt zum Teil unbewusst von der Gesellschaft reglementierter menschlicher Emotionen und Affekte gewidmete „Heute bin ich“ – denn im neuesten Werk der genuinen Künstlerin geht es um die möglicherweise „erwachsenste“ und respektabelste, gleichzeitig jedoch auch natürlichste, vielleicht beglückendste und lohnendste, jedoch dabei gleichermaßen schwer in Worte zu fassende wie zu gestaltende Themenstellung, die es auf der Welt gibt: das Abenteuer der Elternschaft im Allgemeinen sowie der Mutterschaft im Besonderen.


Mies van Hout


Während sich Mies van Hout für ihr wunderbares Buch über die menschlichen Emotionen ausgerechnet die in der breiteren Öffentlichkeit nicht gerade als extrovertierte Stimmungskanonen bekannte Spezies der Fische als unerwartete genialische Protagonisten ausgesucht hatte, ist es im nicht weniger faszinierenden zweiten Folgeband passenderweise die für ihr ausgeprägtes Brutverhalten zu Recht berühmte Wirbeltierklasse der Vögel, die dank der unnachahmlichen Kunst der Illustratorin in allen Regenbogenfarben und wie in universeller, nach außen gestülpter strahlender Innerlichkeit ihr Federkleid für uns herausputzen darf. Auf der ersten Doppelseite ist es zunächst noch das „Wünschen“, das dem zeichnerisch auf seine unspezifische Urform reduzierten Vögelchen als bunte Kinderschar im leuchtenden Gefieder hängt.




Im wunderbaren visuellen Reigen charakteristischer Wegmarken menschlicher Elternschaft darf der Leser in zauberhaft-intuitivem Wiedererkennen so wesentliche Stationen rekapitulieren wie die anfängliche ambivalente Erwartung zwischen Ungewissheit und Hoffnung, das freudig-entgrenzte Staunen über das Wunder der Entstehung neuen Lebens bis hin zum Prozess des von zahlreichen alltäglichen Einzelaspekten wie Zuhören, Trösten oder Ermuntern geprägten Aufziehens der Neugeborenen, das schließlich, ganz am Ende des Buches im unvermeidlich-unwiderruflichen elterlichen Loslassen münden muss, das die Illustratorin in einem bereits über mehrere Doppelseiten hinweg kunstvoll vorbereiteten vielflügeligen Aufbruch der Jungvögel vor blauem Hintergrund im Kontrast zum liebevoll-melancholischen Verharren der Mutter auf schwarzem Grund hoffnungsvoll ausklingen lässt. Die unaufdringliche Sensibilität und unmittelbar zu Herzen gehende poetische Wahrhaftigkeit der unnachahmlichen Pastellzeichnungen Mies van Houts werden ihr bezauberndes kleines Buch mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu einem absoluten Dauerbrenner als ideales Geschenk für junge oder werdende Mütter machen.

„Überraschung!“, erschienen bei Aracari, 32 Seiten, € 13,90