In der literarischen
Auseinandersetzung mit der europäischen Ur-Katastrophe des
Ersten Weltkriegs steht Erich Maria Remarques
Weltbestseller „Im Westen nichts Neues“ mit einer geschätzten
Gesamtauflage von zwanzig Millionen in fünfzig Sprachen seit über
achtzig Jahren als geradezu unerreichbarer Monolith nahezu für sich
allein innerhalb der deutschsprachigen Antikriegsliteratur. Der durch
seine eigenen Kriegserlebnisse an der Westfront nachhaltig
pazifistisch-antimilitaristisch geprägte Schriftsteller hatte wie
kaum ein anderer zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung im Jahr 1929
perfekt den Ton seiner Zeit getroffen. Die unverzügliche breite
Popularität seines Werkes war so überwältigend, dass etwa der
nahezu zeitgleich unter Pseudonym veröffentliche und zuletzt von der
Literaturkritik zu Unrecht gefeierte Schelmenroman „Schlump“ des
thüringischen Lehrers Hans Herbert Grimm kaum eine nennenswerte
Resonanz in Deutschland erzielen konnte.
Er hatte keine Ahnung,
wo er war und wie er hier hingekommen war. Er befand sich in einer
Art Schwebezustand, fühlte sich wie in Watte gepackt. Manchmal drang
ein Schmerz zu ihm durch, den er nicht lokalisieren konnte – sein
Körper fühlte sich an, als liege er auf einem Stein. Hin und wieder
drangen auch Worte zu ihm durch, meist fern und gedämpft, manchmal
auch näher. Worte wie „isolieren“ oder „Exitus“. Ständig
vernahm er Schritte, mal neben sich, mal weiter entfernt. Einmal
schien ein Gespräch ganz nah, kam ihm aber nicht weniger unwirklich
vor. „Amputieren“, sagte eine Männerstimme. „Direkt oberhalb
des Kniegelenks. Sehen Sie zu, dass die Kniescheibe erhalten bleibt,
und vernähen Sie die Gewebelappen sorgfältig, sonst können Sie
sich das Ganze gleich sparen.“
Der langjährige
israelische Botschafter in Deutschland und angesehene
Politikwissenschaftler Avi Primor (geboren 1935) hat sich für seinen
beeindruckenden ersten Roman über den Ersten Weltkrieg aus
naheliegenden pragmatischen Gründen für eine eher dokumentarische
als allein literarischen Maßstäben verpflichtete Form entschieden.
Die Grundidee seines bereits Ende letzten Jahres erschienenen Buches
„Süß und ehrenvoll“ ist dabei absolut bestechend: er erzählt
darin die Geschichte der Kampfhandlungen und ihrer Auswirkungen auf
das politische und soziale Gefüge Frankreichs und Deutschlands aus
der sich gegenseitig überlagernden, in vielerlei Hinsicht kongenial
ergänzenden und schließlich auch auf tragische Art und Weise direkt
berührenden Sicht zweier jüdischer Kriegsteilnehmer, des deutschen
Abiturienten Ludwig sowie seines gleichaltrigen und gleichnamigen
französischen Konterparts Louis.
Louis
hatte anfangs nur das Röcheln vernommen. Doch als er genau hinhörte,
konnte er die Worte verstehen. Seine Mutter hatte ihm eingeschärft,
er solle diese Worte sagen, wenn er Angst habe oder in Gefahr sei. Er
hatte das Schma Israel bei seiner Bar-Mizwa in der Synagoge
rezitieren müssen. Damals glaubte er, der Rabbiner habe ihn das
Gebet aufsagen lassen, weil er solche Angst vor der schrecklichen
Zeremonie in der Synagoge hatte. 'Aber was hat das mit dem
feindlichen Soldaten zu tun, der dort, ein paar Meter von mir
entfernt, auf dem Boden liegt? Ob er auch Jude ist? Ein deutscher
Jude? Hat seine Mutter ihm auch dieses Gebet beigebracht?' Doch Louis
fasste sich schnell. Wer immer der Deutsche war, den er getroffen
hatte, er lief gewiss nicht allein im Nebel herum. Er musste
schnellstens zu seinen Männern zurück.
Yom-Kippur-Militärgottesdienst im Ersten Weltkrieg |
Der
israelische Dichter Jehuda Amichai hat es in seinem einzigen Roman
„Nicht von jetzt, nicht von hier“ bereits vorgemacht – sein in
Würzburg aufgewachsener, mit dem Autor weitgehend identischer
Protagonist durchlebt in einer Phase persönlicher Krise eine
poetische Aufspaltung seiner Persönlichkeit im Dienste der Handlung:
während sein erstes Ich im Jerusalem der 1950er Jahre verbleibt und
sich in eine intensive, aber vergebliche Liebesaffäre flüchtet,
reist seine zweite Verkörperung in einer parallelen Handlung in
seine noch vom Zweiten Weltkrieg gezeichnete Heimatstadt, um sich den
Geistern seiner von den Nationalsozialisten zerstörten Kindheit zu
stellen. Bei Avi Primor indessen vereinigen sich die Erfahrungen der
beiden Protagonisten in ihren jeweiligen Heimatländern sowie im
traumatischen Erlebnis des Krieges zu einer gewissermaßen
kollektiven Erfahrung der (zu überwindenden?) Diaspora, die
schließlich dann doch eine dezidiert israelische Sichtweise auf die
Ereignisse zu verkörpern scheint.
Mit
seiner versierten, schlaglichtartigen Weltkriegschronik aus stetig
wechselnder Perspektive seiner beiden begabten Protagonisten gelingen
Avi Primor zahlreiche fesselnd-realistische Momentaufnahmen
exemplarischer jüdischer Biographien im Kontext ihrer Zeit, aus
denen sich im vorgebildeten Leser ein teils erschütterndes, teils
beschämendes Gesamtbild zusammensetzt, dessen psychologische
Sprengkraft besonders aus dem vorausgesetzten Wissen um die direkten
historischen Nachwirkungen entsteht. Insbesondere der Antisemitismus
in den beiden sich gegenüberstehenden Heeren wird immer wieder
historisch korrekt thematisiert, insbesondere das fatale Instrument
der vorgeblich gut gemeinten sogenannte „Judenzählung“ auf
deutscher Seite, das besonders in der Zwischenkriegszeit die
wachsenden Ressentiments gegen Juden sowie die von nationalistischen
Kreisen systematisch instrumentalisierten Behauptungen von jüdischer
„Drückebergerei“ und der sogenannten „Dolchstoßlegende“
befeuerte und so einen gefährlichen Nährboden für die spätere
stillschweigend-billigende Akzeptanz jüdischer Diskriminierung in
der deutschen Bevölkerung legte.
Authentisches Plakat von 1920 |
Erschreckend
aus unserer heutigen, gleichsam „allwissenden“ Perspektive
schließlich auch die treffend dargestellte zeitgenössische
Überhöhung von vermeintlichen Kriegshelden wie Hindenburg und
Pétain, die später jeder
auf seine eigene Art und Weise ausgesprochen unrühmliche Rollen bei
der Machtergreifung der Nationalsozialisten bzw. bei deren
Machtausweitung im besetzten Frankreich spielen sollten. Das Buch
schließt mit einer patriotisch-begeisterten, in hohem Maße
authentisch wirkenden Beschreibung von Hindenburgs persönlicher
Teilnahme an einem Gedenkgottesdienst zugunsten der im Ersten
Weltkrieg auf deutscher Seite gefallenen jüdischen Soldaten in der
Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin.
Als
Friede und Karoline aus der Synagoge kamen, blieben sie stehen und
sahen sich an. „Ich weiß, was du denkst, Karoline“, sagte
Friede: „Wenn Ludwig das erlebt hätte...“
„...wäre
es für ihn der Einzug ins Gelobte Land gewesen“, ergänzte
Karoline. Wie bei der Feier traten ihr auch jetzt wieder Tränen in
die Augen. [...] Friede sah ihre Eltern und Willi an. Ihr Blick
streifte die prächtige, beleuchtete Fassade der Neuen Synagoge, aus
der die letzten hochgestimmten Ehrengäste heraustraten, und blieb an
den Zwillingen hängen. „Nach viereinhalb Jahren ägyptischer
Finsternis“, sagte sie mit einem leisen Seufzer, „sehen wir
endlich den Silberstreif am Horizont. Das Aufleuchten einer wahren
Hoffnung.“
Avi Primor in Frankfurt/2010 |
Avi
Primor hat uns mit seinem ersten Roman eine ungewohnte, aber umso
bestechendere neue Sichtweise auf einen bisher kaum erzählten
bedeutsamen Einzelaspekt der jüngeren deutsch-jüdischen Geschichte
erschlossen, der unseren Blick auf die Katastrophe des Ersten
Weltkriegs als Vorbedingung des größeren Verhängnisses des Zweiten
Weltkriegs und der Schoah um eine notwendige, wichtige Dimension
höchst wirksam zu erweitern vermag.
„Süß und ehrenvoll“, aus dem Hebräischen von Beate Esther von Schwarze,
erschienen bei Quadriga, 383 Seiten, € 19,99