Jerusalem

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Dienstag, 29. Juli 2014

„Süß und ehrenvoll“ von Avi Primor

In der literarischen Auseinandersetzung mit der europäischen Ur-Katastrophe des Ersten Weltkriegs steht Erich Maria Remarques Weltbestseller „Im Westen nichts Neues“ mit einer geschätzten Gesamtauflage von zwanzig Millionen in fünfzig Sprachen seit über achtzig Jahren als geradezu unerreichbarer Monolith nahezu für sich allein innerhalb der deutschsprachigen Antikriegsliteratur. Der durch seine eigenen Kriegserlebnisse an der Westfront nachhaltig pazifistisch-antimilitaristisch geprägte Schriftsteller hatte wie kaum ein anderer zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung im Jahr 1929 perfekt den Ton seiner Zeit getroffen. Die unverzügliche breite Popularität seines Werkes war so überwältigend, dass etwa der nahezu zeitgleich unter Pseudonym veröffentliche und zuletzt von der Literaturkritik zu Unrecht gefeierte Schelmenroman „Schlump“ des thüringischen Lehrers Hans Herbert Grimm kaum eine nennenswerte Resonanz in Deutschland erzielen konnte.



Er hatte keine Ahnung, wo er war und wie er hier hingekommen war. Er befand sich in einer Art Schwebezustand, fühlte sich wie in Watte gepackt. Manchmal drang ein Schmerz zu ihm durch, den er nicht lokalisieren konnte – sein Körper fühlte sich an, als liege er auf einem Stein. Hin und wieder drangen auch Worte zu ihm durch, meist fern und gedämpft, manchmal auch näher. Worte wie „isolieren“ oder „Exitus“. Ständig vernahm er Schritte, mal neben sich, mal weiter entfernt. Einmal schien ein Gespräch ganz nah, kam ihm aber nicht weniger unwirklich vor. „Amputieren“, sagte eine Männerstimme. „Direkt oberhalb des Kniegelenks. Sehen Sie zu, dass die Kniescheibe erhalten bleibt, und vernähen Sie die Gewebelappen sorgfältig, sonst können Sie sich das Ganze gleich sparen.“

Der langjährige israelische Botschafter in Deutschland und angesehene Politikwissenschaftler Avi Primor (geboren 1935) hat sich für seinen beeindruckenden ersten Roman über den Ersten Weltkrieg aus naheliegenden pragmatischen Gründen für eine eher dokumentarische als allein literarischen Maßstäben verpflichtete Form entschieden. Die Grundidee seines bereits Ende letzten Jahres erschienenen Buches „Süß und ehrenvoll“ ist dabei absolut bestechend: er erzählt darin die Geschichte der Kampfhandlungen und ihrer Auswirkungen auf das politische und soziale Gefüge Frankreichs und Deutschlands aus der sich gegenseitig überlagernden, in vielerlei Hinsicht kongenial ergänzenden und schließlich auch auf tragische Art und Weise direkt berührenden Sicht zweier jüdischer Kriegsteilnehmer, des deutschen Abiturienten Ludwig sowie seines gleichaltrigen und gleichnamigen französischen Konterparts Louis.

Louis hatte anfangs nur das Röcheln vernommen. Doch als er genau hinhörte, konnte er die Worte verstehen. Seine Mutter hatte ihm eingeschärft, er solle diese Worte sagen, wenn er Angst habe oder in Gefahr sei. Er hatte das Schma Israel bei seiner Bar-Mizwa in der Synagoge rezitieren müssen. Damals glaubte er, der Rabbiner habe ihn das Gebet aufsagen lassen, weil er solche Angst vor der schrecklichen Zeremonie in der Synagoge hatte. 'Aber was hat das mit dem feindlichen Soldaten zu tun, der dort, ein paar Meter von mir entfernt, auf dem Boden liegt? Ob er auch Jude ist? Ein deutscher Jude? Hat seine Mutter ihm auch dieses Gebet beigebracht?' Doch Louis fasste sich schnell. Wer immer der Deutsche war, den er getroffen hatte, er lief gewiss nicht allein im Nebel herum. Er musste schnellstens zu seinen Männern zurück.

Yom-Kippur-Militärgottesdienst im Ersten Weltkrieg

Der israelische Dichter Jehuda Amichai hat es in seinem einzigen Roman „Nicht von jetzt, nicht von hier“ bereits vorgemacht – sein in Würzburg aufgewachsener, mit dem Autor weitgehend identischer Protagonist durchlebt in einer Phase persönlicher Krise eine poetische Aufspaltung seiner Persönlichkeit im Dienste der Handlung: während sein erstes Ich im Jerusalem der 1950er Jahre verbleibt und sich in eine intensive, aber vergebliche Liebesaffäre flüchtet, reist seine zweite Verkörperung in einer parallelen Handlung in seine noch vom Zweiten Weltkrieg gezeichnete Heimatstadt, um sich den Geistern seiner von den Nationalsozialisten zerstörten Kindheit zu stellen. Bei Avi Primor indessen vereinigen sich die Erfahrungen der beiden Protagonisten in ihren jeweiligen Heimatländern sowie im traumatischen Erlebnis des Krieges zu einer gewissermaßen kollektiven Erfahrung der (zu überwindenden?) Diaspora, die schließlich dann doch eine dezidiert israelische Sichtweise auf die Ereignisse zu verkörpern scheint.

Mit seiner versierten, schlaglichtartigen Weltkriegschronik aus stetig wechselnder Perspektive seiner beiden begabten Protagonisten gelingen Avi Primor zahlreiche fesselnd-realistische Momentaufnahmen exemplarischer jüdischer Biographien im Kontext ihrer Zeit, aus denen sich im vorgebildeten Leser ein teils erschütterndes, teils beschämendes Gesamtbild zusammensetzt, dessen psychologische Sprengkraft besonders aus dem vorausgesetzten Wissen um die direkten historischen Nachwirkungen entsteht. Insbesondere der Antisemitismus in den beiden sich gegenüberstehenden Heeren wird immer wieder historisch korrekt thematisiert, insbesondere das fatale Instrument der vorgeblich gut gemeinten sogenannte „Judenzählung“ auf deutscher Seite, das besonders in der Zwischenkriegszeit die wachsenden Ressentiments gegen Juden sowie die von nationalistischen Kreisen systematisch instrumentalisierten Behauptungen von jüdischer „Drückebergerei“ und der sogenannten „Dolchstoßlegende“ befeuerte und so einen gefährlichen Nährboden für die spätere stillschweigend-billigende Akzeptanz jüdischer Diskriminierung in der deutschen Bevölkerung legte.

Authentisches Plakat von 1920

Erschreckend aus unserer heutigen, gleichsam „allwissenden“ Perspektive schließlich auch die treffend dargestellte zeitgenössische Überhöhung von vermeintlichen Kriegshelden wie Hindenburg und Pétain, die später jeder auf seine eigene Art und Weise ausgesprochen unrühmliche Rollen bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten bzw. bei deren Machtausweitung im besetzten Frankreich spielen sollten. Das Buch schließt mit einer patriotisch-begeisterten, in hohem Maße authentisch wirkenden Beschreibung von Hindenburgs persönlicher Teilnahme an einem Gedenkgottesdienst zugunsten der im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite gefallenen jüdischen Soldaten in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin.

Als Friede und Karoline aus der Synagoge kamen, blieben sie stehen und sahen sich an. „Ich weiß, was du denkst, Karoline“, sagte Friede: „Wenn Ludwig das erlebt hätte...“
...wäre es für ihn der Einzug ins Gelobte Land gewesen“, ergänzte Karoline. Wie bei der Feier traten ihr auch jetzt wieder Tränen in die Augen. [...] Friede sah ihre Eltern und Willi an. Ihr Blick streifte die prächtige, beleuchtete Fassade der Neuen Synagoge, aus der die letzten hochgestimmten Ehrengäste heraustraten, und blieb an den Zwillingen hängen. „Nach viereinhalb Jahren ägyptischer Finsternis“, sagte sie mit einem leisen Seufzer, „sehen wir endlich den Silberstreif am Horizont. Das Aufleuchten einer wahren Hoffnung.“

Avi Primor in Frankfurt/2010

Avi Primor hat uns mit seinem ersten Roman eine ungewohnte, aber umso bestechendere neue Sichtweise auf einen bisher kaum erzählten bedeutsamen Einzelaspekt der jüngeren deutsch-jüdischen Geschichte erschlossen, der unseren Blick auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs als Vorbedingung des größeren Verhängnisses des Zweiten Weltkriegs und der Schoah um eine notwendige, wichtige Dimension höchst wirksam zu erweitern vermag.

„Süß und ehrenvoll“, aus dem Hebräischen von Beate Esther von Schwarze, erschienen bei Quadriga, 383 Seiten, € 19,99

Donnerstag, 24. Juli 2014

„Im Wald“ von Marcel Möring

Das allseits bekannte psychologische Konzept von der jiddischen Mamme, die ihre Kinder Zeit ihres Lebens mit zärtlicher, aber allzu eifersüchtig-fordernder und kämpferischer Liebe bis weit über die Schwelle des Erwachsenseins vor allen tatsächlichen und eingebildeten Widrigkeiten des Lebens beschützt und jene in der unbewussten Kenntnis vom Nutzen ihrer eigenen psychischen Gebundenheit niemals loszulassen vermag, ist ein unverwüstlicher Mythos, der längst festen Eingang in den sprichwörtlichen Sprachgebrauch zahlreicher Sprachen gefunden hat, obwohl die in ihm treffend beschriebene selbstgewählte emotionale Abhängigkeit der Mutter in ihrer ängstlichen Fürsorge sich selbstverständlich kaum auf wie auch immer zu definierende „jüdische“ Familienstrukturen beschränken lässt.




In Marcel Mörings neuem sprach- und bildmächtigen Roman „Im Wald“, dessen assoziationsreicher Titel dem Leser unwillkürlich noch einmal das furchtbare Waldversteck in einem Erdloch seines von den Nationalsozialisten verfolgten Protagonisten im vorherigen Buch „Der nächtige Ort“ (2006) vor Augen ruft, wagt der 1957 in Enschede geborene niederländisch-jüdische Schriftsteller, der in der öffentlichen Wahtrnehmung im deutschen Sprachraum leider immer noch im Schatten seines in vielerlei Hinsicht populäreren und zugänglicheren Landsmanns Leon de Winter steht, eine scheinbar ungewöhnliche Konstellation, indem er einen alleinerziehenden Intellektuellen par exellence, den einsamen jüdischen Schriftsteller Marcus Kolpa, zu einer Art jiddischer Mamme macht, dessen langwierigen Weg zurück in ein selbstbestimmtes, unabhängiges und erfülltes Leben er auf gewohnt weltläufige, philosophische und anspielungsreiche Art und Weise auf mehr als fünfhundert Seiten als packende biographische Detektivarbeit gestaltet.

Marcus. [...] Glaubst du an den Menschen?“
Ich zuckte fast zusammen.
Den Menschen? Ganz allgemein? Die Menschheit? Oder meinst du den Menschen als Individuum?“
Sie schüttelte ungeduldig den Kopf.
Den MENSCHEN. In Großbuchstaben. Als Phänomen. Als Gattung. Als... Mensch. Glaubst du an den Menschen?“
Sie musterte mich fast gespannt, als wartete sie auf den Ausgang einer Wette, bei der viel Geld auf dem Spiel stand.
Nein“, sagte ich. „Ich glaube nicht an den Menschen. Ich glaube an den Glauben an den Menschen.“
Sie dachte nach. Nach ein paar Sekunden begann sie zu nicken.


Die Einsamkeit des Protagonisten scheint dabei allumfassend: seine Mutter Rivka, eine Überlebende der Schoah, die Zeit seiner Kindheit und Jugend stets in bitteren Erinnerungen versunken war, entdeckt eines Tages plötzlich die unbeschwerte Lebensfreude, belegt Kochkurse und emigriert nach Israel, wo sie ihren Familiennamen amtlich von „Kolpa“ in „Polak“ ändern lässt und sich bei ihrem Sohn künftig kaum öfter als einmal im Jahr mit ein paar unverbindlichen Zeilen meldet. Kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Rebecca verschwindet zudem in Gestalt von Marcus' geliebter Frau Chaya die einzige Person spurlos, die in ihm jemals eine Art von weltoffener Lebendigkeit auszulösen vermocht hatte. Der angehende Schriftsteller sublimiert seinen Verlust in ein allseits hochgelobtes Buch, das für Jahrzehnte sein einziges bleiben wird, macht eine Erbschaft, die ihn für den Rest seines Lebens von allen finanziellen Sorgen befreit und zieht mit seiner kleinen Tochter in ein einsames Haus im Wald, das ihm unter höchst merkwürdigen Bedingungen angeboten wird.




Die Einsamkeit des Protagonisten scheint dabei allumfassend: seine Mutter Rivka, eine Überlebende der Schoah, die Zeit seiner Kindheit und Jugend stets in bitteren Erinnerungen versunken war, entdeckt eines Tages plötzlich die unbeschwerte Lebensfreude, belegt Kochkurse und emigriert nach Israel, wo sie ihren Familiennamen amtlich von „Kolpa“ in „Polak“ ändern lässt und sich bei ihrem Sohn künftig kaum öfter als einmal im Jahr mit ein paar unverbindlichen Zeilen meldet. Kurz nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Rebecca verschwindet zudem in Gestalt von Marcus' geliebter Frau Chaya die einzige Person spurlos, die in ihm jemals eine Art von weltoffener Lebendigkeit auszulösen vermocht hatte. Der angehende Schriftsteller sublimiert seinen Verlust in ein allseits hochgelobtes Buch, das für Jahrzehnte sein einziges bleiben wird, macht eine Erbschaft, die ihn für den Rest seines Lebens von allen finanziellen Sorgen befreit und zieht mit seiner kleinen Tochter in ein einsames Haus im Wald, das ihm unter höchst merkwürdigen Bedingungen angeboten wird.

In den letzten Jahren hatte ich lange und genau in den Spiegel geschaut und studiert, was ich da sah. Es hatte mir nicht gefallen. Ja, es waren schreckliche, tragische Dinge passiert. Es wäre seltsam, wenn ich davon nicht berührt worden wäre, sogar angeschlagen. Aber das erklärte meine Distanz zur Welt nicht, es war keine Erklärung für dieses schweigende Schmollen in einem riesigen Haus. Wenn ich eine Liste erstellen würde von dem, was ich richtig und was falsch gemacht hatte, dann konnte ich mit Zufriedenheit lediglich auf die Zeit, die Zuwendung und die Liebe zurückblicken, die ich Rebecca geschenkt hatte.

Hier im symbolträchtigen Halbdunkel des Waldes, abgeschirmt vom normalen, unvorhersehbaren Gang des Lebens, versinkt Marcus im Unbewußten seiner ereignisarmen, unproduktiven Existenz sowie der selbstgestellten mütterlichen Aufgabe, seine Tochter zu einem selbstbewussten, empathischen Menschen zu erziehen und sie nachhaltig vor möglichen Enttäuschungen zu bewahren. Rebecca jedoch ist von Anfang an ein unabhängiges Kind, das schon im Alter von acht Jahren allein den Wald durchstreift, sich über die Jahre eine ambitionierte Bastelwerkstatt auf dem geräumigen Dachboden einrichtet und schon mit zehn Jahren ernsthaft verkündet, dass sie bildende Künstlerin werden wolle. Als sie ihr Vorhaben nach dem Abitur unverzüglich und plangemäß umsetzt und ihren verunsicherten Vater in der geräumigen Villa allein zurücklässt, kommt plötzlich unverhofft Bewegung in dessen Leben: durch Zufall erfährt Marcus, dass seine Mutter bis zu seiner Geburt schon einmal Polak hieß – ist sie wirklich seine leibliche Mutter? Und wer ist sein Vater, von dem die Alleinerziehende nie gesprochen hat?

Ich... Ich habe mein ganzes Leben lang einen Traum gehabt. Der immer wiederkam.“
Nimm deine Sachen. Wir gehen.
Ich erzählte. Als ich fertig war, nickte sie.
Glaubst Du, es war ein Traum, oder war es eine Erinnerung, die die Form eines Traums angenommen hat?“

Marcel Möring/Foto: Keke Keukelaar

Je intensiver der zunehmend ratlose Schriftsteller in Details seiner Kindheit einzudringen versucht, an die er kaum noch substanzielle Erinnerungen zu besitzen scheint, desto mehr drängende Fragen wirft er auf. Lebt seine Frau Chaya noch? Hat er sie wirklich persönlich in eine psychiatrische Klinik in Israel eingeliefert? Welche rätselhafte Verbindung besteht zum Vorbesitzer der Villa im Wald, einem reichen nach Amerika emigrierten Juden? Marcel Möring entrollt in seinem Roman eine erschütternde Geschichte von Juden- und Rauschgifttransporten, jüdischen Vätern und Müttern, über Identität und den Verlust derselben sowie über Last und Lohn der Verantwortung für das Leben eines anderen Menschen. Erst als sich Marcus schließlich den verdrängten Umständen seiner Herkunft voll und ganz bewußt geworden ist, kann er sich aus dem vom Waldhaus repräsentierten Zustand der Unbewußtheit befreien und sich endlich voll und ganz dem ihm versprochenen Leben öffnen. Anders als in Itzik Mangers berühmten Lied „Ojfn Weg“, das Mutter und Kind in falsch verstandener Liebe handlungsunfähig verharren lässt, dürfen am Ende des Buches alle Protagonisten ihre Flügel ausbreiten und fliegen.



„Im Wald“, aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen, erschienen bei Luchterhand, 511 Seiten, € 22,99

Dienstag, 22. Juli 2014

„Der Zentaur im Garten“ von Moacyr Scliar

Schon während der ersten großen Auswanderungswelle osteuropäischer Juden nach Palästina gegen Ende des 19. Jahrhunderts besaß das sogenannte „Heilige Land“ in den von Europa bereits weitgehend unabhängigen Staaten Südamerikas eine mehr als ernstzunehmende und für viele pragmatische Juden geradezu bestechend-attraktive Konkurrenz als realistisches Sehnsuchtsziel für ein besseres, freieres und vor allem weitgehend selbstbestimmtes Leben fern der allgegenwärtigen, kaum antizipierbaren absoluten Bedrohung in ihren Herkunftsländern, insbesondere dem von „spontanen“ Pogromen geprägten zaristischen Russland.


Länder wie Brasilien oder Argentinien trugen dabei schon früh zur organischen Entwicklung eines ebenso ausgeprägten wie vitalen jüdischen Selbstbewußtseins bei, das dem von der landwirtschaftlichen Aufbauarbeit erster zionistischer Pioniere geprägte aggressive Selbstverständnis Israels in nahezu paralleler Entwicklung von Anfang an weitgehend entsprechen konnte: der noch in Russland geborene und in der berühmten jüdischen Enklave Moisés Ville aufgewachsene Schriftsteller und Journalist Alberto Gerchunoff (1883-1950) prägte mit seinem berühmten Erzählungsband von 1910 den Begriff von den stolzen „jüdischen Gauchos“, sein Landsmann Ricardo Feierstein (geboren 1942) beschwor in seinem Roman „Mestizo“ über ein halbes Jahrhundert später sogar die direkte identifikative Verschmelzung mit der neuen südamerikanischen Heimat in der Titelgestalt des Mischlings.

Wie ein geflügeltes Pferd, das zum Flug bereit ist, zum Flug zu den Bergen des ewigen Lächelns, zu Abrahams Schoß. Wie ein Pferd, das auf den Hufspitzen steht und bereit ist, über die Pampa zu galoppieren. Wie ein Zentaur im Garten, bereit zum Sprung über die Mauer, auf der Suche nach der Freiheit.

Die Tendenz, nicht länger das biblische Israel oder den historischen Landstrich Palästina als Gelobtes Land zu bezeichnen, sondern jedes beliebige andere aufnahmebereite Land mit günstiger, identitätsstiftender Perspektive, kennen wir bereits aus den aufgeklärten Staaten Westeuropas während der für das europäische Judentum ausgesprochen fruchtbaren und hoffnungsvollen Epoche der Vorkriegsordnung, die von den Nationalsozialisten schon bald auf so grausame Art und Weise scheinbar endgültig widerlegt wurde. Mit dem historisch eindeutig definierten Begriff „Tempel“ war im Sprachgebrauch des liberalen deutschen Judentums längst nicht mehr ein in Trümmern liegender messianischer Sehnsuchtsort in Jerusalem gemeint, sondern immer und grundsätzlich die konkrete heimische Synagoge.

Kein Galopp jetzt mehr. Jetzt ist alles gut. Jetzt sind wir wie alle anderen. Niemand wundert sich mehr über uns. Vorbei die Zeit, wo man uns als sonderbar bezeichnete – weil wir niemals an den Strand gingen, weil Tita meine Frau, immer Hosen trug. Sonderbar, wir? Nein. Vergangene Woche kam der Geisterbeschwörer Peri zu Tita, der allerdings ist sonderbar – ein kleiner, schlanker Indiomischling mit spärlichem Bartwuchs, behängt mit Ketten und Ringen, einen Stab in der Hand und dazu kaum zu verstehen. Man mag sich ja wundern, dass ein so seltsamer Mensch zu uns kommt; aber schließlich kann jeder an der Tür klingeln. Und außerdem – sonderbar gekleidet war er, nicht wir. Wir? Wir sehen ganz normal aus.

Moisés Ville, Argentinien

An die von Gerchunoff und Feierstein in ihren vielschichtigen Werken postulierte und auch persönlich vorgelebte Identifikation mit dem Kontinent Südamerika, insbesondere auch mit seiner überbordenden Natur, seinen indigenen und nationalen Traditionen sowie der unterschiedlichen, jedoch ganz besonders im Magischen Realismus Jorge Luis Borges' oder Gabriel Garcia Marquez' zu verortenden literarischen Fixpunkte, knüpfte auch der in seiner Heimat hoch geehrte und vielfach ausgezeichnete brasilianisch-jüdische Schriftsteller Moacyr Scliar (1937-2011) nahtlos an, dessen seit letztem Jahr endlich auch in deutscher Sprache wieder zugänglicher Roman „Der Zentaur im Garten“ (1980) vom amerikanischen National Yiddish Book Center unter die hundert wichtigsten und einflussreichsten Werke zeitgenössischer jüdischer Literatur gewählt wurde.

Der Zenaur ist eine Metapher für jene doppelte Identität, die für Juden in einem Land wie Brasilien charakteristisch ist. Zu Hause spricht man Jiddisch, isst Gefilte Fisch und hält den Sabbat. Aber draußen auf der Straße regieren Fußball, Samba und die portugiesische Sprache. Nach einer Weile fühlst du dich wie ein Zentaur.

Er erzählt darin auf unnachahmliche Art und Weise die höchst unterhaltsame und geistreiche, nahezu unglaubliche, aber auf metaphorischer Ebene umso wahrhaftigere Geschichte eines brasilianisch-jüdischen Mischwesens, eines leibhaftigen Zentauren. Der von seinen aus dem zaristischen Russland eingewanderten Eltern trotz seiner unmenschlichen Gestalt bedingungslos geliebte Guedali muss seine Kindheit vor fremden Blicken beschützt in den heimischen vier Wänden allein mit dem einsamen und unzureichenden Trost von Literatur und Musik verbringen. Als der begabte Junge schließlich zu ureigenem Bewußtsein heranwächst, bricht er endlich aus seinem bequemen Gefängnis aus in die sprichwörtliche große, weite Welt, mit all ihrer Schönheit, all ihrem Reichtum, aber auch ihren mannigfaltigen Täuschungen und Gefahren, um aus eigener Kraft sein erst durch eigene Erfahrung zu definierendes individuelles Lebensglück und eine passende Gefährtin zu finden.

In diesem Augenblick werde ich unsicher. Wem gehören diese nackten Füße, die ich mit meinen ebenfalls nackten Füßen unter dem Tisch liebkose?

Moacyr Scliar/Foto: J. Freitas

Moacyr Scliar hat in der Gestalt des Guedali einen unvergesslichen jüdischen Pinocchio geschaffen, der in seiner charakterlichen Entwicklung ähnliche Schauplätze und Stadien zu durchlaufen hat wie sein großes, hölzernes literarisches Vorbild, bis er auf gar nicht so wundersame Weise am Ende von seinen körperlichen Gebrechen geheilt wird. „Der Zentaur“ ist ein echtes Meisterwerk der internationalen jüdischen Literatur, das die Diaspora mit ebenso entschiedenem wie berechtigtem Selbstbewußtsein und unbändiger Lebenslust weniger als Fluch, sondern vielmehr als echte Errungenschaft und als kapitale zukunftsweisende Chance begreift, solange sie nicht mit einer Verleugnung jüdischer Identität einhergehen muss.

„Der Zentaur im Garten“, aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Steiner, erschienen bei Hoffmann und Campe, 287 Seiten, 19,99

Freitag, 11. Juli 2014

„Ich bin verboten“ von Anouk Markovits

In aufgeklärten Gesellschaften gilt jede Art des religiösen Fundamentalismus mit ihren zahlreichen restriktiven Vorschriften für eine tugendhafte Lebensführung zu Recht als unzulässiger Eingriff in die individuelle Freiheit des Einzelnen und wird vom Gesetzgeber folgerichtig streng sanktioniert; gleichzeitig erlaubt unser Pluralismus ausdrücklich die Existenz religiöser Gemeinschaften, deren Mitglieder sich aus freiem Willen diesen einschränkenden Regeln unterwerfen, solange sie nicht aktiv den Sturz der bestehenden Rechtsordnung betreiben. Wenn man sich als Außenstehender einmal die Mühe macht und einen Perspektivwechsel versucht, stellt man dabei oft fest, dass klare religiöse Gebote zur Lebensführung durch ihren allgemein verbindlichen und überpersönlichen Charakter von den Mitgliedern der jeweiligen Gemeinschaften oft als eine wirksame Befreiung von der Last der zahllosen Widersprüche und Versuchungen einer modernen weltlich orientierten Gesellschaft wahrgenommen werden.


In ihrem unvergesslich-berührenden Roman aus der abgeschlossenen Welt der ultraorthodoxen Satmar-Chassidim im New Yorker Stadtteil Williamsburg erzählt Anouk Markovits die unwahrscheinliche Geschichte einer großen, lebenslangen Liebe, die weder in der einen noch in der anderen Welt ganz heimisch zu werden vermag und deren Perspektive schließlich auf tragische Art und Weise an den Widersprüchen beider Welten zerbricht. Dabei spannt die in Frankreich selbst in das archaische Milieu des osteuropäischen Chassidismus hineingeborene Autorin einen großen pittoresken Bogen zärtlichster literarischer Welterkundung vom ländlichen Rumänien der Vorkriegszeit bis ins New York unserer Tage und berichtet dabei ganz nebenbei auch von einem der größten historischen Widersprüche der Bewegung: der gar nicht göttlichen Rettung des Satmarer Rebbe ausgerechnet mit Hilfe seines größten erklärten Feindes, dem politischen Zionismus.

Manche Leute sind böse auf den Rebbe. Sie sagen, er und die anderen Gemeindeführer, die mit diesem Zug geflohen sind, hätten sich schändlich verhalten. Es heißt, sie hätten von den Lagern gewusst, außerdem sei ihnen klar gewesen, dass Kasztners Zug nur durchgelassen werden würde, wenn die anderen Juden sich nicht mehr der Deportation widersetzten. Deshalb hat der Kasztnerkonvoi Kolozsvár auch erst verlassen, nachdem die anderen Juden deportiert worden waren. Sie wollten sichergehen, dass die Prominenten still hielten. „Es war ein guter Handel“, hat Eichmann während des Prozesses gesagt. [...] Kolozsvár war nur vier Kilometer von der Grenze entfernt, und im Frühjahr 1944 sind in Rumänien keine Juden mehr umgebracht worden. Hätten die Juden aus Kolozsvár von den Todeslagern gewusst, wären sie geflohen. Sie waren zwanzigtausend Juden, und es gab nur eine Handvoll bewaffneter Wachposten. Einige wären beim Fluchtversuch erschossen worden, doch die meisten hätten überlebt.

Der Satmarer Rebbe mit König Karl II. von Rumänien 1936

Das Buch beginnt mit einem ebenso eindringlichen wie zärtlichen Bild äußerster familiärer Idylle: im Haus des Thoragelehrten Jekutiel Lichtenstein im rumänischen Maramureş sucht der fünfjährige Josef unter dem Küchentisch nach einem soeben im Spiel heruntergefallenen hebräischen Holzbuchstaben, während seine Mutter die jüngere Tochter liebevoll mit Milchbrei füttert – nur einen Augenblick später hat die Schwester eine rostige Mistgabel im Kopf stecken, die Mutter wird auf dem Tisch brutal vergewaltigt und anschließend ermordet. Das christliche Kindermädchen findet den verstörten Josef am nächsten Tag unter dem Tisch und nimmt ihn unter falschem Namen mit auf den abgelegenen Bauernhof ihres Vaters, um ihn im ungarischen Teil Siebenbürgens als ihren eigenen Sohn in Sicherheit aufwachsen zu lassen: „Du sollst leben!“

Der Junge klopfte den Dreck von ihrem Mantel. Er band ihr die Haarschleife neu.
Mila“, sagte sie und deutete auf ihre Brust.
Anghel“, erwiderte er und deutete auf seine Brust.
Wo ist deine Mutter?“, fragte Mila.
Florina...“
Deine Mutter. Wo ist sie?“
Mama ist tot. Tatta ist tot. Pearela ist tot.“
Schefele.“ Mila streichelte Anghel über die Wange, und er erinnerte sich, dass das Wort Schäfchen bedeutete.

Als im Jahr 1944 schließlich auch in Ungarn die Deportationen in die Vernichtungslager beginnen, gelingt es Josef durch Zufall ein kleines jüdisches Mädchen vor dem sicheren Tod zu retten, dessen Eltern vor den Augen der beiden Kinder erschossen worden waren. Nach dem Krieg wächst Mila in der Familie des angesehenen Kantors Zalman Stern in Paris auf, während der aufgeweckte Josef an den Hof des Satmarer Rebbe geschickt wird, wo er ein traditionelles Thora-Studium beginnt und dort bald zu den geachtetsten jungen Rabbinern der Gemeinde zählt. Als er schließlich aus der Ferne formell um Milas Hand anhält und es zu einem ersten Treffen kommt, ist es wie ein lang ersehntes Wiederfinden, das jeden möglichen Zweifel am traditionellen System der arrangierten Ehen innerhalb der religiösen Gemeinschaft in Mila verwischt. Doch trotz aller ehrlich empfundener Zärtlichkeit und organisch gewachsener Vertrautheit legt sich über die Jahre ein heimlicher Schatten über die innige Beziehung der beiden: denn trotz genauester Befolgung der biblischen Gebote zur ehelichen Reinheit wird Mila nicht schwanger.

Hauptsynagoge der Satmarer Chassidim in Kiryas Joel, NY

Wenn er mit der Hand seinen Penis berührt, soll ihm die Hand auf dem Bauch abgeschnitten werden. Würde dann nicht sein Bauch aufgeschlitzt? Lieber ein aufgeschlitzter Bauch... Würde ein Dorn in seinem Bauch stecken, müsste er ihn nicht entfernen? Nein. Und warum das alles? Samen vergebens zu vergießen, ist gleichbedeutend mit Mord.

Nach zehn Jahren schmerzlicher Kinderlosigkeit, einer ebenso anstrengenden wie fruchtlosen Hormonbehandlung sowie endlosen talmudischen Diskussionen über die Frage, ob es Josef unter bestimmten Voraussetzungen gestattet sei, seinen kostbaren männlichen Samen für eine wissenschaftliche Untersuchung seiner Zeugungsfähigkeit unnütz zu vergeuden, dürfte ihr Mann sie mit dem offiziellen Segen der Gemeinde verstoßen. Obwohl dieser Gedanke dem besonnenen Josef vollkommen fern liegt, da er seine Frau immer noch mit bedingungsloser Zärtlichkeit liebt, ist Mila innerlich bereits in komplizierten kabbalistischen Rechnungen und Auslegungen der biblischen Überlieferung gefangen, die ihr in der Gestalt Thamars einen letzten möglichen Ausweg anzubieten scheint. Mit einer verzweifelten, allerletzten Entscheidung von unstatthafter weiblicher Selbstbestimmung im symbolträchtigen Jahr 1968 setzt Mila jedoch nicht nur das eigene Glück aufs Spiel, sondern auch das ihres Mannes sowie all ihrer möglichen Nachkommen „bis ins zehnte Glied“.

Half ihm etwa das Gesetz, das Gesetz zu umgehen? Selbst, wenn er die Wahrheit schon immer gewusst hatte? In einem anderen Eintrag ging es um einen Rabbiner, der sehr weit gegangen war, damit er das Stigma des Mamsers nicht verhängen musste, und im Fall eines Ehemanns, der neun Monate vor Geburt eines Kindes auf Reisen gewesen war, eine zehnmonatige Schwangerschaft in Erwägung gezogen hatte. Wenn aber die Richter ihm nicht mehr glauben durften, wäre Josef das Schicksal des Sünders beschieden, der niemals vor ein Menschengericht kam. Dann stand er auf einer Ebene mit heimlichen Schändern des Sabbats, mit Onanierern und Ehebrechern. Ihn träfe die Karethstrafe, und seine Seele würde für immer verbannt. Ewiges Exil. Ewiger Winter. Dasselbe würde MiIla geschehen.

Anouk Markovits/Foto: Beowulf Sheehan

Anouk Markovits stiller, strahlend schöner Roman ist der seltene Glücksfall eines absolut unvoreingenommenen, ebenso kenntnisreichen wie empathischen Buchs über die hermetische Welt des ultraorthodoxen Judentums, das sich jeden simplen Urteils enthält und beide getrennte Welten in all ihrer Schönheit, Fremdartigkeit und auch in all ihren Widersprüchen gleichberechtigt nebeneinander bestehen lässt: am melancholischen Ende bilden der letzte Buchstabe der Thora ל und der erste ב gemeinsam das allumschließende hebräische Wort ל ב („Herz“). Dabei gelingt es der im Alter von neunzehn Jahren selbst vor einer arrangierten Heirat geflohenen und damit endgültig aus dem Milieu ausgestiegenen Autorin auf bewundernswerte Art und Weise, die Beweggründe für ein bewusstes Verharren in dieser archaischen Welt aufzuzeigen und ehrliches, tief empfundenes Verständnis für eine geheimnisvolle Parallelwelt zu wecken, deren scheinbar unzeitgemäße Motive auch eine moderne laizistische Gesellschaft in einer ehrlichen Auseinandersetzung mit ihnen spirituell zu bereichern vermögen.

„Ich bin verboten“, aus dem Amerikanischen von Anne Rademacher, erschienen bei Knaus, 288 Seiten, € 19,99

Montag, 7. Juli 2014

„Drei tränenlose Geschichten“ von Erich Hackl

Die Natur familiären Zusammenlebens hat sich in unserer Gesellschaft innerhalb der letzten hundert Jahre so signifikant verändert, dass die konkrete, lebendige Erinnerung an den Einzelnen und seine ureigenen Lebensäußerungen selbst in der eigenen Familie oft schon im Verlauf der nächsten Generation unwiderruflich verloren zu gehen droht: „Wer bewahrt, was [der Mensch] an Hoffnung und Glücksversprechen verkörpert hat, und macht schmerzhafte Erinnerungsbilder erträglich?“

Diese große universelle Frage stellt der Klappentext zu Erich Hackls neuem Buch in dieser Deutlichkeit vollkommen zu Recht: was vom Menschen bleibt, besonders von den zahlreichen aufgrund ihrer jeweiligen Zeitumstände im Verlauf des furchtbaren Zwanzigsten Jahrhunderts Togeschwiegenen oder gar Ermordeten, war von Anfang an das große singuläre Thema des österreichischen Schriftstellers Erich Hackl (geboren 1954 in Steyr), dem es in seinen zahlreichen eindrücklichen biografischen Recherchen (die heute zum Teil in den merkwürdigen Kanon deutscher Schullektüre gehören) stets auf unnachahmliche Art und Weise gelungen ist, diesen armen Vergessenen eine deutlich eigenständige und unverkennbare Stimme zurückzugeben, die überall und von jedem vernommen werden kann, als wäre sie die eigene.

Jetzt waren sie wieder vollzählig. Nur Gisela fehlte. Ein Schatten über der Familie, den Hermann nicht gleich wahrnahm. Und das ist seine sechste Erinnerung: wie er aus dem Schlaf gerissen wird, nachts, von einem wildfremden Mann, und gegen seinen Willen aus dem Bett gehoben und gedrückt, so fest, daß ihm die Luft wegbleibt. Der rauhe Jackenstoff, die kratzenden Bartstoppeln des Fremden, der sein Vater ist, schrecken ihn. Was die Erwachsenen bereden, versteht er nicht.

Gerade in seinem neuen Buch, das zwei ältere, bisher nur verstreut erschienene Texte sowie einen ganz neu verfassten erstmals gemeinsam in Buchform zugänglich macht, wird seine besondere Arbeitsweise vorbildlich deutlich: an kleinen, nebensächlich erscheinenden Details, die unsere Aufmerksamkeit im Alltag vermutlich nicht zu fesseln vermögen oder gar zum Wegsehen verleiten würden, nimmt Hackl mit geschultem Blick zum konkret-willkommenen Anlass, eben doch genauer hinzuschauen und mit ehrlich empfundener Empathie und archäologisch korrekter Präzision von den Umständen verschüttete Lebensläufe nachhaltig freilzulegen, die uns in mitmenschlicher, brüderlicher Würde gleichzeitig als Inividuen und als soziale Wesen begreifen lassen.

Über die Geschichte seiner Vorfahren konnte mir Victor nur sehr wenig sagen, denn der frühe Tod des Vaters und die eigenen Lebensumstände hatten verhindert, daß er sich mit ihnen vertraut machen konnte. Dafür legte er mir einen Stapel Dokumente vor. Die meisten stammen aus dem Nachlaß seines Onkels Kurt, andere hat er sich im Österreichischen Staatsarchiv ausheben lassen. Und er erzählte mir seine Geschichte, und Marta die ihre, die gemeinsame. Eine Verfolgungsgeschichte, schlimmer als die seiner Eltern und Großeltern.

Der stärkste Text des Buches ist ohne Zweifel „Der Fotograf von Auschwitz“ über den – nach Nazi-Diktion – „reichsdeutschen Arier“ Wilhelm Brasse (1917-2012), der nach dem Einmarsch der Deutschen in seine Heimat Polen lieber die angestammte Staatsbürgerschaft behalten wollte und aufgrund seiner erklärten Opposition schließlich nach Auschwitz deportiert wurde, wo er als Mitglied eines speziellen Kommandos Fotos der Häftlinge und der verbrecherischen medizinischen Experimente sowie – illegalerweise – auch Porträt- und Gebrauchsfotos von Offizieren und Wachmannschaften anzufertigen hatte. Dank seines hohen persönlichen Einsatzes sind mehr als zwei Drittel dieser Fotos erhalten geblieben; aufgrund der durch den Sucher seiner Kamera gesehenen Dinge konnte Brasse seinen Beruf nach dem Krieg nicht mehr ausüben, war jedoch bis zu seinem Tod als viel befragter, stets auskunftfreudiger hilfreicher Zeitzeuge aktiv und wurde am Ende seines Lebens sogar noch zum charismatischen Helden eines bewegenden Dokumentarfilms.

Das Leid der Kinder, der Mädchen, der jungen Frauen im Lagerbordell, die er ebenfalls fotografieren mußte. Eine von ihnen sah er eines Tages zufällig in Warschau wieder, in der Straßenbahn, wollte auf sie zugehen, sie begrüßen, da machte sie ihm ein Zeichen, bleib mir vom Hals, sprich mich nicht an. Als ihm klar wurde, daß es mit dem Fotografieren für immer vorbei war, sah er sich nach einem anderen Beruf um, einem Broterwerb, der ihn unter keinen Umständen mehr in Gewissensnot treiben würde. Eine Tätigkeit, so banal, daß sie die Frage nach dem verhältnis von Unschuld und Beteiligung ausschloß. Zusammen mit seiner Frau begann er, Kunstdärme für Wurstwaren zu produzieren. Sie haben davon, wie er sagt, ziemlich gut leben können.

Die in Auschwitz ermordete Czesława Kwoka/Foto: Wilhelm Brasse

Doch auch in den beiden anderen Texten über eine jüdische Familie in Wien und ihre scheinbare Rettung ins brasilianische Exil, wo einzelne Familienmitglieder in die mörderischen Fänge der Militärdikatur gerieten, oder über eine kaum mehr als vermeintliche österreichische Widerstandskämpferin und junge Mutter, die von den Nationalsozialisten noch in den letzten Kriegstagen vollkommen sinnloserweise hingerichtet wurde, entzündet sich zum Teil an ganz gewöhnlichen Familienfotos ein absolut bewegendes und alles andere als tränenloses, von tiefem Verständnis und Mitgefühl geprägtes literarisches Eindringen in die Lebenswege seiner Protagonisten, die gerade durch den sorgsamen, verantwortungsvollen Umgang des Autors ihren verdienten Platz im menschlichen Gedächtnis zurückerhalten – und das um ein vielfaches wirksamer als es in rein familiärer Erinnerung jemals möglich wäre. Somit muss die Antwort auf die Frage im Klappentext auch nach der Lektüre des neuen Buches eindeutig ausfallen: Erich Hackl bewahrt es, und er macht es erträglich – es gibt kaum ein höher zu bewertende schriftstellerische Leistung.

„Drei tränenlose Geschichten“, erschienen bei Diogenes, 154 Seiten, € 18,90

(Dieser Text ist bereits in einer gekürzten Fassung in der Printausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen.)