In seinem faszinierenden
Bestseller „Der Tuareg“, einem der meistverkauften Romane der
achtziger Jahre, beschrieb der spanische Journalist und
Schriftsteller Alberto Vazquez Figueroa die fundamentale Tragik, die
sich für die Lebensentwürfe des Einzelnen aus dem Zusammenprall der
westlichen Weltanschauung mit traditionellen Lebensweisen
zwangsläufig ergeben muss. Sein enigmatischer Protagonist, ein
stolzer und mutiger Krieger aus dem rätselhaften Volk der Tuareg,
das der Saharahitze jahrhundertelang erfolgreich getrotzt und unter
den lebensfeindlichen Bedingungen der Wüste eine sehr
charakteristische, nomadisch geprägte Lebensweise sowie vollkommen
eigenständige Sitten und Moralvorstellungen entwickelt hat, wird
nach dem von ihm selbst in der Weite der Wüste gänzlich unbemerkt
vonstattengegangenen Rückzug der Franzosen unverhofft mit der
Realität eines neugegründeten arabischen Nationalstaats
konfrontiert, der wie selbstverständlich seine neugewonnene
Unabhängigkeit im besten Willen auch auf die innerhalb seines
Territoriums lebenden Mitglieder der Tuareg-Stämme ausdehnen will,
um ihnen, wie er meint, die Segnungen des Fortschritts zu bringen.
Tuareg in Libyen/Foto: David Stanley |
Der stolze Titelheld, ein
zeitgemäßes Idealbild des „edlen Wilden“, wie ihn Autoren des
neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts immer wieder mehr oder
weniger geglückt beschrieben haben, zeigt jedoch an der von den
neuen Herrschern propagierten Ordnung keinerlei Interesse und möchte
um jeden Preis an der von seinen Vorfahren überlieferten, den
Lebensbedingungen in der Sahara perfekt angepassten Lebensweise und
seiner umfassenden persönlichen und geistigen Freiheit, festhalten.
Zu den Dingen, die seiner Kultur absolut heilig sind, gehört die
bedingungslose Gastfreundschaft gegenüber Fremden, und so gewährt
er eines Tages zwei abgekämpften, dem Verdursten nahen Reisenden
Unterschlupf in seinem Zelt. Am nächsten Tag steht eine
Militärkolonne vor seinem Lager und fordert die Auslieferung seiner
beiden Gäste, zweier geflohener Gefangener, die sich als der vor
kurzem mit Hilfe eines Militärputschs gestürzte, ehemalige
Staatspräsident und einer seiner Vertrauten herausstellen.
„Wie kannst du dein
ganzes Leben davon abhängig machen, was dir andere befehlen?“,
fragte er. „Wie kannst du dich als ein freier Mann fühlen, wenn du
dich einem fremden Willen unterwirfst? Wenn sie zu dir sagen:
'Verfolge einen Unschuldigen!', dann verfolgst du ihn. Und wenn sie
dir befehlen: 'Lass diesen Hauptmann in Ruhe, auch wenn er ein Mörder
ist!', dann lässt du ihn in Ruhe. Ich verstehe dich nicht!“
„Das Leben ist nicht
so einfach, wie es hier in der Wüste aussieht.“
„Warum bleibt ihr
denn nicht weg mit eurer Lebensart? Hier wissen wir immer, was gut,
schlecht, gerecht oder ungerecht ist“, sagte Gacel.
Als der Tuareg sich gemäß
seiner Stammesethik weigert, seine beiden Gäste auszuliefern, werden
diese auf Befehl des kommandierenden Offiziers kurzerhand mit Gewalt
aus den Zelten gezerrt. Einer von ihnen, der jüngere, wird auf der
Stelle erschossen, während man den ehemaligen Präsidenten erneut
gefangen nimmt und in der Kolonne abtransportiert. Alberto Vazquez
Figueroas Buch beschreibt die abenteuerliche Rache des
Tuareg-Kriegers, die die willentliche, brutale Missachtung der
Tuareg-Moralvorstellungen durch die neuen Herrscher unaufhaltsam
heraufbeschworen hat und die mit Blutrache nur unzureichend
beschrieben wäre. Nach einem nervenzehrenden Versteckspiel im
unwirtlichen Territorium des Jägers, in dem der Tuareg seine schwer
bewaffneten und motorisierten Feinde ein ums andere Mal düpiert,
muss sich dieser zum Showdown schließlich in die Landeshauptstadt
wagen. Zu seiner vertrauten Ethik gehört es, niemals seinen
Gesichtsschleier abzulegen, denn sein Stolz verbietet es ihm, Fremden
sein Gesicht zu zeigen.
Tuareg in Algerien/Foto: Akly |
Im städtischen Umfeld
erkennt er jedoch schnell, dass er hier auf seinen gewohnten
Gesichtsschleier verzichten muss, um in der Menge nicht aufzufallen –
nicht zuletzt ist sein Schleier das einzige Charakteristikum, das den
nach ihm fahndenden Behörden bislang bekannt ist. Ohne seinen
Schleier fühlt er sich jedoch vollkommen entblößt und angreifbar,
und auch seine vertraute, traditionelle Ethik hilft ihm hier nicht
weiter. Nachdem eine Polizeistreife ihn angeschossen hat, braucht er
Wochen, um wieder zu Kräften zu kommen. Er ist bereits nahe daran
aufzugeben und in seine Heimat zurückzukehren, da bietet sich ihm
eine unverhoffte, von ihm als schicksalhaft erkannte Chance, seine
als notwendig empfundene Vergeltung doch noch umsetzen. Sein
tragisches, fundamentales Scheitern ist jedoch so umfassend und
endgültig, dass es schließlich nur noch Verlierer gibt, nicht nur
in individueller, sondern auch in kollektiver Hinsicht, denn beide
Kulturen stehen am Ende ärmer da, weil sie nicht bereit waren,
einander zu verstehen zu lernen.
„Manchmal frage ich
mich, wie wir zusammen in demselben Land leben können, wo uns doch
so wenig verbindet.“ Als er fortfuhr klang es, als redete er mit
sich selbst: „Das ist wohl ein Teil der Erbschaft, die uns die
Franzosen hinterlassen haben. Sie haben willkürlich bestimmt, dass
wir ein einziges Volk zu sein hätten. Jetzt, zwanzig Jahre danach,
sitzen wir da und versuchen vergeblich, uns gegenseitig zu
verstehen.“
„Das wissen wir schon
lange“, meinte Hassan-ben-Koufra mit müder Stimme. „Wir alle
wissen seit langem Bescheid, aber niemand von uns kam auf den
Gedanken, auf etwas zu verzichten, das uns nicht zustand. Niemand gab
sich mit einem kleineren, stabileren Land zufrieden...“ Er öffnete
und schloss mehrmals beide Hände, verzog dabei vor Schmerz das
Gesicht. „Der Ehrgeiz machte uns blind. Wir wollten immer mehr
Land, obwohl wir wussten, dass wir es nicht regieren konnten. So
erklärt sich unsere Politik: Da wir es nicht schafften, die Beduinen
zur Anpassung an unsere Lebensweise zu zwingen, mussten wir sie
vernichten. Aber was hätten wir getan, wenn die Franzosen wenige
Jahre zuvor angefangen hätten, uns auszurotten, weil wir uns
weigerten, ihre Lebensform zu übernehmen?“
Die sogenannte
Burka-Debatte, ein klassisches Scheingefecht populistischer
kultureller Hegemonie, ist ein so dankbares Thema für unsere
Gesellschaft in ihrem aktuellen Stadium, zu dem offenbar jeder etwas
beizutragen weiß, ob AfDler, Feministin oder „normaler“ Bürger,
weil sie unser Selbstverständnis anzugreifen scheint, dass nur ein
Mensch, der möglichst alles von sich zeigt, ein vollständiger,
„guter“ Mensch sein kann. In unserer blinden Wut, sogar mittels
Tattoos oder Piercings selbst jenes als Schrammen unserer Seelen für
jedermann sichtbar nach außen zu kehren, was die natürliche
Oberfläche normalerweise verbirgt, scheint es vollkommen undenkbar,
dass es Menschen geben könnte, die aus freiem Willen in der
Öffentlichkeit eine Vollverschleierung anzulegen bereit sind und
sich auch sonst lieber ins Private zurückziehen, aus welchen Gründen
auch immer. Plötzlich gibt es Menschen in unserer Mitte, die dadurch
auffallen, dass sie nicht „alles“ zeigen, sondern es vor unseren
gelangweilten Blicken verbergen. Dies wird offensichtlich unbewusst
als Vorwurf empfunden. Könnte es gar bedeuten, dass wir nicht alle
gleich sind? Wollen sich die Burkaträgerinnen von „uns anderen“
abheben, möglicherweise sogar bewusst?
Orthodoxe Juden in Wien, 1915/Foto: Wikimedia |
Anfang des Zwanzigsten
Jahrhunderts gab es kaum etwas Schlimmeres für den aufgeklärten
Westeuropäer, als die osteuropäischen Chassidim mit ihren schwarzen
Gewändern, merkwürdigen Pelzhüten und langen Bärten, die ein
ärmliches, rückständig scheinendes, vermeintlich arbeitsscheues
Leben in den Vorstädten führten. Diese wurden zum großen Teil
selbst von den gut integrierten Juden als weltanschauliche Bedrohung
empfunden, denn sie sahen nicht nur „anders“ aus, sondern waren
auch in ihren Verhaltensweisen und ethischen Überzeugungen „anders“.
Sie lehnten die weltlichen Anschauungen ihrer Aufenthaltsländer ab,
sondern wollten lediglich von den stabilen politischen Verhältnissen
profitieren, hier in Frieden und ohne Verfolgung leben zu können.
Ein halbes Jahrhundert später, war diese Kultur von den
Nationalsozialisten und ihren Helfern europaweit nahezu vollkommen
vernichtet worden. Die rein gefühlsmäßige Ablehnung der Burka als
Ausdruck der Angst vor dem Fremden ist mit der historischen Ablehnung
der „Ostjuden“ durchaus vergleichbar.
Ich bin ein Targi, kein
Dummkopf! Der Unterschied zwischen uns und euch besteht darin, dass
wir Tuareg eure Welt zwar aus der Nähe betrachten, uns aber von ihr
abwenden, sobald wir sie verstanden haben. Ihr hingegen nähert euch
unserer Welt nicht und versteht sie darum auch nicht. Aus diesem
Grund werden wir euch immer überlegen sein!
Im Bestreben, ein
rationales Ventil für die instinktive Ablehnung der Burka zu finden,
wird naturgemäß philosophisch tief geschürft, denn eine rein
affektive Ablehnung wäre laut unserer Weltanschauung inakzeptabel.
Die Burka wird hierzulande vorwiegend als Instrument männlicher
Unterdrückung interpretiert, was sie in vielen Fällen zweifellos
auch ist. Sie wird als Symbol des politischen Islam, gar als
islamistische Provokation gedeutet. Das mag sie in manchen Fällen
auch sein, aber das heißt nicht, dass sie „weg“ muss. Es passt
nicht zu einer pluralistischen Gesellschaft, etwas abzulehnen oder
gar zur verbieten, nur weil es „anders aussieht“ als „wir“.
Die Herausforderung, der wir uns stellen müssen, ist den Anblick
einer vollverschleierten Frau in der Öffentlichkeit nicht nur
zuzulassen, sondern auch verstehen zu wollen, warum sie das tut.
Einer Gesellschaft, die gelernt hat, öffentlich zur Schau gestellten
Ganzkörpertattoos gegenüber indifferent zu sein, sollte das nicht
schwerfallen. Wer die Burka verbieten will, weil darunter Bomben
versteckt werden könnten, sollte auch Kinderwagen und Daunenjacken
verbieten – ein sachliches Argument dafür wird sich sicher finden
lassen. Sicher ist sicher.