Jerusalem

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Freitag, 26. Juni 2015

„Zurück auf Start“ von Petros Markaris

Jeder, der die letzten drei Krimis um den desillusionierten Athener Polizeikommissar Kostas Charitos aufmerksam gelesen und somit auf dankbar-erhellende und gleichzeitig höchst unterhaltsame Art und Weise die ebenso schmerzhafte wie schonungslose literarische Chronik der fortschreitenden katastrophalen Auswirkungen der Wirtschaftskrise sowie der von der Europäischen Gemeinschaft verordneten schmerzhaften Sparauflagen auf die griechische Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aus der pointiert-realistischen Perspektive des Schriftstellers Petros Markaris mitverfolgt hat, kann sich nur umso mehr wundern, mit welch arrogant-chauvinistischer Selbstverständlichkeit und unreflektierter Dickfelligkeit gerade deutsche Politiker heute mit rationalistisch verschleierten Argumenten die Etablierung eines lange Zeit gern gesehenen Familienmitgliedes als ganz allgemeinen, öffentlichen Sündenbock zu zementieren versuchen.
Das sich hierin äußernde Maß der psychologischen Übertragung wird besonders deutlich, wenn man sich angesichts der häufigsten erhobenen Vorwürfe von Vetternwirtschaft, Begünstigung und Misswirtschaft einmal selbstkritisch vor Augen führt, dass die wesentlichen Triebfedern auch deutscher Politik und Wirtschaft, wie sie nicht nur in den von staatlichen Institutionen, Unternehmen und Gewerkschaften sowie auch im ganz persönlichen Berufs- und Privatleben der meisten Bundesbürger deutlich werden, ebenfalls darauf ausgerichtet sind, bei möglichst geringem Arbeitsaufwand mittels geschickter Vernetzung den höchstmöglichen Nutzen für sich selbst oder seinen jeweiligen Interessenverband zu erzielen. Man muss gar nicht so weit gehen, die schlimmsten Auswüchse der daraus erwachsenden Korruption zu brandmarken: in jeder lebendigen menschlichen Solidaritätsgemeinschaft hilft und unterstützt man sich gegenseitig, was zunächst einmal ein ganz natürlicher, vollkommen legitimer Vorgang ist.

Du fragst Dich vielleicht, warum ich Griechenland nicht verlassen habe. Ich will versuchen, es Dir zu erklären, obwohl ich nicht sicher bin, ob Du mich verstehst. Mein Problem ist, dass ich nicht griechisch genug denke, um meine Landsleute mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Ich gehe in einem Land frontal zum Angriff über, das von Parteisöldnern beherrscht wird. Als Grieche hätte ich Vranas, den Dreckskerl angeheuert, und alles wäre gut gewesen. Es hätte mich zwar etwas mehr gekostet, aber ich wäre meine Sorgen losgewesen. Gleichzeitig denke ich aber auch zu wenig deutsch. Als Deutscher hätte ich alles hingeschmissen und wäre aus dem Schneider gewesen. Ich hätte Griechenland zwar endgültig den Rücken gekehrt, hätte dafür aber meinen Seelenfrieden gefunden.

Die pseudo-rationalistische öffentliche Brandmarkung eines in massive wirtschaftliche Not geratenen befreundeten Gemeinwesens jedoch ist nicht nur ein allzu leicht durchschaubarer, geradezu schändlicher Versuch, von unbestreitbaren eigenen Defiziten abzulenken und damit eine identifikationsstiftende „positive“ Abgrenzung herbeizuführen, sondern birgt dazu die massive Gefahr einer schleichenden Legitimierung von Ausländerhass aus scheinbar rationalen Gründen in sich, so als müsste man schon allein aus vollkommen objektiven moralischen Gründen jeden Menschen ablehnen, der mit seinen Ressourcen schlecht zu wirtschaften weiß.


Athen, Straßenszene/Foto: Mstyslav Chernov


In Petros Markaris' mittlerweile vierten Krisenroman, dem insgesamt neunten Band der gesamten Buchreihe, steht erneut der zerbrechliche Ist-Zustand der griechischen Gesellschaft im Mittelpunkt. Allerdings nimmt der scharfsinnig gewitzte Autor nun den verzweifelten Selbstmord eines Deutsch-Griechen zum willkommenen Anlass, um auf überaus pointierte und durchweg sehr erhellende Art und Weise kaum bekannte Unterschiede und unvermutete Gemeinsamkeiten im jeweiligen Nationalcharakter der beiden Länder herauszuarbeiten. Der in Deutschland aufgewachsene und hoch ausgebildete Jungunternehmer Andreas Makridis wird erhängt in seiner Athener Wohnung aufgefunden. Obwohl die polizeilich angeordnete Obduktion den naheliegenden Befund „Suizid“ eindeutig bestätigen kann, beginnt nur wenige Tage darauf eine spektakuläre Mordserie an höchst unterschiedlichen Privatpersonen, die sich in von einer bislang unbekannten Organisation der „Griechen der fünfziger Jahre“ verfassten, im Internet veröffentlichten elektronischen Bekennerschreiben als Vergeltung für den „Mord“ an Makridis verstanden wissen möchte.

Was, du bist schon da?“, meint sie. „Wir haben doch eben erst telefoniert.“
Ich habe den Seat genommen.“
Und ich erkläre ihr, dass ich unseren Wagen nach dem Überfall […] reaktiviert habe, um durch Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht unnötig Zeit zu verlieren.
Ich spüre, dass ihr eine Bemerkung auf der Zunge liegt.
Das kann ich nachvollziehen“, sagt sie schließlich. „Aber versteh mich bitte nichtfalsch, Kostas: Wir kommen gerade so über die Runden. Für Benzin ist einfach kein Geld da. Von mir aus nimm den Wagen, bis Katerina wieder auf dem Posten ist, aber danach solltest du wieder auf die öffentlichen Verkehrsmittel umsteigen.“
Ich könnte ihr jetzt all die schönen Redensarten aufzählen, die mir eingefallen sind, als ich unser Auto wieder in Betrieb nahm. Doch Adriani hat das Kommando über unsere Finanzen, und sie kann man ebenso wenig mit bloßen Sprüchen abspeisen wie die Troika.

Was Kommissar Charitos von Anfang an am meisten irritiert, ist die unbequeme Tatsache, dass die einzelnen Morde an dem Direktor einer privaten Nachhilfeschule, einem professionellen „Korruptionsdienstleisters“, der gegen hohe Provisionen amtliche Vorgänge und Genehmigungen höchst wirksam zu beschleunigen versteht, sowie an zwei Kleinbauern in der Provinz in keinerlei erkennbarem Zusammenhang miteinander zu stehen scheinen, noch einen direkten Bezug zu Makridis offenbar zu gleichen Teilen an bürokratischer Willkür sowie einem persönlichen Mangel an Verständnis für die griechische Mentalität gescheiterter Geschäftsidee aufweisen. Der als typischer Vertreter der zweiten Generation in Deutschland geborene Ingenieur hatte auf einer kleinen Insel in der griechischen Ägäis eine Anlage hochmoderner Windkraftanlagen bauen wollen, sich aber am jahrelang andauernden, augenscheinlich von Behördenvertretern bewusst verschleppten Genehmigungsverfahren finanziell und emotional aufgerieben.



Windkraftanlagen in Griechenland/Foto: Koliri@Wikimedia


Während sich die polizeilichen Ermittlungen aus Ermangelung an anderen vielversprechenden Ansatzpunkten zunächst darauf konzentrieren, mit Hilfe der Sondereinheit für Computerkriminalität die Identität der geheimnisvollen „Griechen der fünfziger Jahre“ als wahrscheinlicher Urheber der Bekennerschreiben und mutmaßlicher Mörder aufzudecken, wird Kostas' Tochter, die sich als niedergelassene Rechtsanwältin vor allem für die Belange illegaler afrikanischer Einwanderer einsetzt, von Mitgliedern der real existierenden rechtsradikalen Partei „Goldene Morgenröte“, die aktuell siebzehn Sitze im griechischen Parlament innehat, direkt in der Öffentlichkeit vor dem Gerichtsgebäude zusammengeschlagen und lebensgefährlich verletzt. Beinahe noch größer als der persönliche Schock über das Attentat auf seine Tochter ist für Kommissar Charitos die schmerzhafte Erkenntnis, dass Kollegen innerhalb der Polizeibehörde nicht nur zum großen Kreis der Mitwisser, sondern sogar zu den direkten Mittätern zählen und nicht davor zurückschrecken, auch ihn selbst mit Gewalt zu bedrohen.

Der unglückliche Makridis konnte als Deutscher die Tragweite der Inkompetenz nicht begreifen, weil er nicht nachvollziehen konnte, warum in Griechenland nicht die Fähigsten ausgewählt werden. Stattdessen haben wir die „Vorschriften“ erfunden, die Makridis als böse Geister erschienen sind. Aber es sind keine bösen Geister, sondern nur ein Mittel, um die Inkompetenz derer zu kaschieren, die sich durch Parteizugehörigkeit und Vetternwirtschaft einen Platz im öffentlichen Dienst erschlichen haben. Irgendwie tut er mir leid. Ich hätte ihm, wenn wir uns zu seinen Lebzeiten über den Weg gelaufen wären, alles erklären können., da ich doch aus denselben Gründen nicht befördert werde.

Auch in Kostas Charitos' viertem Fall seit Beginn der großen Krise zeigt uns Petros Markaris ein tief verletztes, gedemütigtes Land am Abgrund, dessen Bürger mit sehr viel Fantasie, Disziplin und Humor sowie einer guten Portion Fatalismus versuchen, einigermaßen menschenwürdig über die Runden zu kommen. Kostas' enger sozialer Rückhalt aus Familie, lebenslangen Freunden und neuen hilfreichen Bekannten liefert dabei im lebendigen zwischenmenschlichen Austausch erneut zahlreiche nützliche Hinweise, die dem unbestechlichen Polizisten schließlich der überraschenden Lösung dieses komplizierten Falles auf unverhoffte Art und Weise immer näher bringen. Zur klammheimlichen Freude des Lesers erweist sich am Ende jedoch wieder einmal sein natürliches Gerechtigkeitsempfinden in einem Fall außergewöhnlicher kollektiver Selbstjustiz als größer und nachhaltiger als sein per Diensteid offiziell bekundeter Wille zur Strafverfolgung.



Petros Markaris/Foto: Jost Hindersmann

Als dringend benötigten Beitrag zur kulturellen Vermittlung der verzweifelten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation Griechenlands im Ausland kann man Petros Markaris' wunderbare, unterhaltsame und leicht zugängliche Griechenland-Krimis derzeit kaum hoch genug preisen. Letztlich wird auch in „Zurück auf Start“ vorbildlich deutlich, dass es objektiv keine Alternative dazu geben kann, Griechenland mit aller Macht und allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen. Eine so massive politische Ausgrenzung, wie sie momentan von zahlreichen Mitgliedsstaaten der Europäische Union insbesondere von Deutschland betrieben wird, kann sich mittel- und langfristig nur auf kaum voraussehbare, äußerst schmerzvolle Art und Weise rächen.

„Zurück auf Start“, aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger, erschienen bei Diogenes, 356 Seiten, €

Montag, 22. Juni 2015

„Ligas Welt“ von Margo Lanagan

Es gibt derzeit kaum eine andere Schriftstellerin, die in ihren ebenso vielschichtigen wie schwer einzuordnenden, im positiven Sinne eigenartigen Büchern immer wieder eine so kongeniale Ur-Sprache für die fremdartig-vertrauten Landschaften der menschlichen Seele sowie des individuellen und kollektiven Unbewussten zu finden versteht, wie die auf dem englischsprachigen Buchmarkt zumeist zu Recht mit ehrfürchtigem Respekt als außergewöhnlicher literarischer Glücks- und Sonderfall betrachtete Australierin Margo Lanagan. In Deutschland erscheinen ihre auf märchenhafte Art und Weise abstrakten, dem magischen Realismus nahestehenden, jedoch oftmals allzu vordergründig und unzutreffend als Fantasy apostrophierten umfangreichen Romane unter dem Rotfuchs-Jugendbuchlabel des Rowohlt-Verlags, was dem universellen Anspruch und der allgemeingültigen Aussagekraft ihrer Bücher den größtmöglichen verdienten Leserkreis leider unnötigerweise vorenthält.




Ihr vor einem guten Jahr erstes in deutscher Übersetzung erschienenes, dem Entstehungsprozess nach jüngstes Werk „Seeherzen“, eine Art Grimmsches Märchen in vielstimmigem, epischem Gewand, emotional fesselnd und intellektuell berührend erzählt aus den ständig wechselnden Perspektiven der verschiedenen, auf höchst unterschiedliche Art und Weise beteiligten Zeugen der darin mit erstaunlicher literarischer Experimentierfreude und bemerkenswerter Empathie erkundeten rätselhaften Vorgänge auf einer kleinen, abgeschiedenen nordischen Insel in rauer See, darf wohl ohne Abstriche als eine der wenigen außerordentlichen literarischen Entdeckung des letzten Jahres bezeichnet werden. In der archaischen Landschaft ihres mit schmerzhaftem Realismus geschilderten unwirtlich-schroffen Schauplatzes hat die Autorin eine beeindruckende Vielzahl berückend schöner, angemessener und hoch poetischer Metaphern für das menschliche Leben und Lieben gefunden, die jedem unvoreingenommenen Leser unvergesslich bleiben müssen.

Was war das vorhin?“, raunte ich Annie zu, während ich halb auf ihrem Schoß hockte, „was haste da mit mir gemacht?“
Na, wenn du das nicht weißt, stimmt was nicht mit Dir!“, lachte sie.
Nein, das danach. Auf meiner Stirn. Das, was mich weggeschickt hat.“
Weiß nich“, sagte sie. „Bin seit 'n paar Monaten voll von dem Zeug. Komisch, was? Hat's dir denn gefallen?“

Gleichzeitig aber verdeutlicht Margo Lanagan darin auch auf vorbildliche Art und Weise ihren vollkommen eigenständigen literarischen Standpunkt: Während die klassische Fantasy sich aus der im eigenen Narrativ vollkommen ausgeklammert bleibenden Realität des Lesers in eine formelhaft-standardisierte historistische Traumwelt flüchtet, um dort auf oft banale und meist unzulänglich-stereotype Art und Weise lediglich pseudo-realistische Konflikte zu reinszenieren, und somit nichts anderes tut, als Altbekanntes und Vertrautes für den Leser mit exotischen Schauplätzen und bizarren Protagonisten anzureichern, versucht der fantastische Realismus, das Unerklärliche, schwer zu Fassende und für den Einzelnen zuweilen kaum Annehmbare in unserer Lebensrealität mit Hilfe von gezielt eingesetzten märchenhaften oder wunderbaren Handlungselementen solchermaßen hervorzuheben, dass diese für den Leser als gelungene, tragfähige Metaphern einen erheblichen Erkenntnisgewinn und Akzeptanzpunkt für sein eigenes Leben ausmachen.

Waldweg/ F. Hunger


Der magische Realismus bleibt dabei trotz allem stets vollkommen im Diesseits verortet. Margo Lanagan jedoch gelingt es mit ihrem feinen Gespür für die subtilen Prozesse der menschlichen Seele und ihrer genauen, von ehrlichem Mitgefühl geprägten Kenntnis der Abgründe menschlichen Tuns, diese dankbare Perspektive noch um den tiefgründigeren, umfassenderen Blickwinkel des menschlichen Unbewussten zu ergänzen. Es spricht nicht wenig dafür zu behaupten, dass ihre ureigene Lesart des magischen Realismus sich erfolgreich darum bemühe, unsere oftmals bewusst vernachlässigte, jedoch kaum weniger ausgeprägte, gleichsam „andere“, „unsichtbare“ Seite der individuellen Weltdurchdringung ausdrücklich zu integrieren, nämlich die nicht weniger reale Parallelwelt unseres Unbewussten, wie sie sich auf kongeniale Art und Weise auch in vielen Märchen der Brüder Grimm äußert. Dabei gelingt es Margo Lanagan scheinbar ganz mühelos, sich eine vollkommen neue Perspektive anzueignen: nämlich als würde unser Unbewusstes versuchen zu begreifen, welche seltsamen, ihm unverständlichen Dinge wir bei vollem Bewusstsein tun. Und gerade mit dieser vollkommen neuen stringenten Sichtweise vermag die Autorin den magischen Realismus und unsere poetische Wahrnehmung ganz ungemein zu bereichern.

Nun mach schon Kleines! Stirb! Das hier ist kein Ort für dich!“
Doch das Baby fiel nicht; um es herum breitete sich das Licht aus, und aus dem immer greller leuchtenden Mittelpunkt entrollten sich Schlaufen und Bögen aus gekräuseltem Licht wie lose Windelbahnen.

Ermutigt von der zwar wirtschaftlich noch bescheidenen, aber durchweg positiven inhaltlichen Resonanz auf ihren ersten in deutscher Sprache veröffentlichten Roman ist nun ihre überraschende, kaum weniger beeindruckende und mehr als 500 Seiten starke, höchst eigenständige Adaption des „Schneeweißchen-und-Rosenrot“-Stoffes der Gebrüder Grimm aus dem Jahr 2008 in deutscher Übersetzung erschienen, die den im besten Sinne überwältigten Leser in ihrer beeindruckenden Gefühls- und Gedankentiefe ebenso Staunen wie Träumen macht, aber ihn in ihrer dunklen, das Unbewusste aufwühlenden Metaphorik tief zu erschüttern, vielleicht sogar nachhaltig zu deprimieren vermag.

Aber mit einem Sohn“, sagte sie, „mit einem Sohn hättest du aber nicht - „, ein weiteres Funkeln seiner Augen brachte sie ins Stocken, „das machen können, was du mit mir gemacht hast. Was du mit mir machst.“
Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an, dann riss er sie plötzlich auf. „Nee“, sagte er, als wäre sie schwer von Begriff, „für so was hat man ja 'ne Frau.“
Er lachte, schnaubte, spuckte es ihr beinahe ins Gesicht, als wäre sie geradezu unfassbar dämlich. Dann wandte er sich wieder seinem Messer zu und wetzte weiter.

Liga, die unglückliche titelstiftende Protagonistin in Margo Lanagans ebenso klugem wie mitreißendem Märchenroman, lebt mit ihrem verwitweten Vater in einem einsam gelegenen Haus am Waldrand. Seit dem ersten Einsetzen ihrer Periode wird sie von ihrer einzigen erwachsenen Bezugsperson über Jahre hin sexuell missbraucht, so dass sie bereits im Alter von dreizehn eine Fehlgeburt und zwei schmerzhafte und mit den lebensgefährlich-brutalen Methoden des Mittelalters durchgeführte Abtreibungen leidvoll hinter sich gebracht hat. Als ihr grausamer Vater eines frühen Morgens unverhofft von einer Kutsche überfahren wird, beginnt für Liga eine kurze Zeit friedlicher, unbeschwerter Selbstbestimmung, und nur wenig später bringt sie zu ihrem seligen Entzücken eine gesunde Tochter zur Welt, der sie den Namen Branza gibt. Die unbekümmerte Zeit glücklicher Mutterschaft währt allerdings nicht lange, denn schon bald fällt eine Horde von im Wald herumstreifenden Dorfjungen über sie her, die sie nacheinander brutal vergewaltigen.

Alexander Zick: "Schneeweißchen und Rosenrot"

In der folgenden Nacht nimmt Liga ihr kleines Baby und flieht mit ihm in den Wald. Als sie im Zustand schmerzvollster Verzweiflung und Selbstaufgabe plötzlich vor einem tiefen Felsabgrund steht, der ihr auf breiter Linie den Weg und jede weitere Fluchtmöglichkeit abschneidet, lässt sie innerlich los. In der verzweifelten Absicht ihrem traurigen Leben ein selbstbestimmtes Ende zu setzen, wirft sie zunächst ihre Tochter in die Schlucht, um anschließend selbst zu springen, als im jäh aufgleißenden Licht des Vollmonds vollkommen Undenkbares geschieht: der kleine Körper bleibt in der Luft schweben, wundersam gehalten und aufgehoben, während die natürliche Schwerkraft gänzlich außer Kraft gesetzt scheint. Wie verzaubert bleibt Liga am Rande der Schlucht stehen, ehe sie es endlich wagt, auch selbst einen zaghaften Schritt über den tückischen Abgrund zu setzen: doch er trägt sie, und sie kann ihr Baby wohlbehalten in die Sicherheit der Felsklippe zurücktragen. Ermutigt von diesem mächtigen Zeichen, der Ablehnung ihres Opfers, kehrt sie zurück zum Haus ihres Vaters, das sie zu ihrem großen Erstaunen frisch renoviert vorfindet.

Doch als sie auf die Lichtung trat, war alles verändert: Das Haus, das sich immer stark zur Seite geneigt hatte, als hätte nur die gewaltige Wut ihres Vaters es am Umkippen gehindert, stand rechtwinklig und solide vor Liga auf dem Rasen. Der herausgerissene Fensterrahmen war wieder in die Wand verankert, die zertrampelten Fensterläden aus Flechtwerk neu verwebt; verschwunden waren die Stiefelspuren und zersplitterten Stellen an der Tür, die Liga am Abend zuvor im Licht der Mondlampe bemerkt hatte; die Tür stand auch nicht mehr sperrangelweit offen, wurde nur von einem abgerundeten Stück Holz einen Spaltbreit offen gehalten. Auf der Südseite der Eingangsstufe wuchs ein rotblättriger Busch, der Liga bis zum Knie reichte. Auf der Nordseite stand ein grüner Busch, der ebenso groß und rund war. Das Strohdach wies keine Löcher oder fadenscheinige Stellen auf, und der Schornstein neigte sich nicht länger gen Westen.

Kaum neun Monate später bringt Liga zu ihrer großen Freude ein zweites gesundes Mädchen zur Welt: Urdda. Von nun an lebt sie mit ihren beiden Töchtern in ungetrübter familiärer Eintracht, vollkommen unbehelligt von anderen Menschen und in äußerster Harmonie mit der Natur in einer märchenhaften, geradezu überirdischen Idylle, die allzu schön scheint, als dass sie lange halten könnte: eine unwahrscheinliche Parallelwelt des Guten, vollkommen befreit von den antagonistischen Kräften des Bösen. Doch Ligas Welt hält, hält zum wachsenden Misstrauen des Lesers und bleibt über Jahrzehnte in gleichförmiger Heiterkeit bestehen – und gerade darin besteht, wie sich im weiteren Verlaufe des handlungsreich-fantasievollen und bildmächtigen Romans zeigt, die eigentliche Bürde für die drei Frauen. Denn für ihre beiden Töchter wird Ligas bequeme Zauberwelt ohne Eros, Sex und Gewalt, die sich aus der Seelenqual ihre Mutter zu deren Schutz materialisiert hat, mehr und mehr zum elysischen Gefängnis, das sie ungewollt in ihrer eigenen individuellem Entwicklung und Menschwerdung blockiert.



Parallel zu den Ereignissen in Ligas Welt erzählt Margo Lanagan, angeregt vom pittoresken Bärenfest „Journée de l'ours“, das alljährlich zum Frühlingsanfang in der französischen Gemeinde Prats-de-Mollo-la-Preste in den Pyrenäen gefeiert wird, wie vier vom Magistrat der fiktiven Kleinstadt St. Olafred ausgewählte und in Bärenkostüme gewandete junge Männer im Rahmen ihres eigenen Frühlings- und Fruchtbarkeitsfests im turbulenten Verlauf eines Tages möglichst viele Frauen und Mädchen küssen und mit schwarzem Ruß markieren müssen. Durch eine Art flexible Zeitspalte geraten verschiedene dieser Männer im Abstand mehrerer Jahre in leibhaftiger Bärengestalt in Ligas Parallelwelt, verlieben sich in eine oder mehrere der drei Frauen und gehen, entsprechend ihres jeweiligen Charakters vollkommen unterschiedlich mit ihren Gefühlen und mit ihrer sexuellen Lust um. Doch auch Liga, Branza und Urdda müssen sich ihren durchaus widersprüchlichen, sie selbst nicht wenig irritierenden und auf ungeahnte Art aufwühlenden Gefühlen stellen. Wie Margo Lanagan all das schildert, vollkommen natürlich und unbefangen, ganz ohne aufdringliche Zweideutigkeiten oder Peinlichkeiten, ist absolut beeindruckend und unterstreicht eindrucksvoll ihre literarische Meisterschaft.

In ihren Pranken. Ich erschauderte. Er ist verrückt, weil er in ihren Pranken war und jetzt nicht mehr da sein darf. Er ist verrückt, weil man ihn „gerettet“ hat. Er ist verrückt vor Trauer und Wut und weil er die Stadt- und Hausluft einatmen muss, die Menschenfurze, den muffigen Bettgeruch und den der erkalteten Asche. Gestern noch war er im Wald, über ihm der Himmel und die Blätter, um ihn herum nichts als Grün; Baumstümpfe stützten das Himmelszelt, damit Vögel und Luft ungehindert hindurchfliegen konnten. Gestern noch war er in ihren Pranken, von ihren Bernsteinaugen verzaubert, und heute ist sie tot und hat seinen Verstand mitgenommen.
Ich geh ihn besuchen“, sagte ich.
Meinst du, das ist eine gute Idee?“, fragte Mutter.

Außerdem gibt es einen habgierigen, ebenso einfühlsam wie überzeugend charakterisierten, von seinem harten Leben desillusionierten Kleinwüchsigen, der durch die vollkommen unzulängliche Hilfe einer mit vagen Zauberkräften weitläufig begabten ehemaligen Liebhaberin immer wieder in die trügerische Frauen-Idylle eindringt, um Tannenzapfen und Froschlaich in Gold und Juwelen zu verwandeln und sie zur Mehrung seines armseligen Reichtums in die reale Welt zu überführen. Schließlich kommt es durch die unbeabsichtigte Pfuscherei seiner dilettierenden Freundin zu einem ernsthaften Zwischenfall im Zeitgefüge, der die beiden unterschiedlichen Ebenen unumkehrbar ineinander verschränkt und endgültig bewirkt, dass sämtliche Protagonisten des Buches sich in der Realität wiederfinden und sich plötzlich auf ungeahnte Art den zahlreichen Herausforderungen und Widersprüchlichkeiten des wirklichen Lebens stellen müssen, das viele ungeahnte positive Überraschungen bereithält, aber auch manche schmerzvolle Erfahrung.

Margo Lanagan/Foto: Steven Dunbar

Margo Lanagan hat einen ganz und gar überwältigenden Roman geschrieben, ein großes, beeindruckendes Werk, dessen einzige mögliche Schwäche vielleicht in der verschmerzbaren Tatsache besteht, dass die begabte Autorin – anders noch als in ihrem späteren, meisterhaft durchdachten und perfekt konstruierten „Seeherzen“ – im späteren Verlauf der umfangreichen Handlung gleichzeitig eine dezente psychologisierende Interpretation der beschriebenen Vorgänge mitliefert. Das ist für den aufmerksamen Leser vollkommen unnötig, da es ihn von der ebenso wichtigen wie wertvollen Arbeit des innerlich-auf-der-Höhe-der-Handlung Bleibens befreit, die er zu leisten nicht nur gerne imstande ist, sondern die der Erzählung gewöhnlich auch einen großen Teil ihres zusätzlichen Zaubers verleiht: gerade eben durch das Sehen der inneren Bilder, die Margo Lanagan in großer Anzahl sorgfältig und gekonnt erarbeitet. Eine allzu enge psychologische Einordnung innerhalb der Fiktion muss aber zwangsläufig für den Leser immer ein bisschen enttäuschend sein, da sie das intuitiv Erkennbare vollkommen überflüssigerweise rationalisiert und versachlicht. Wenn es überhaupt eine ureigene Aufgabe der Literaturwissenschaft gibt, sollte sie ihr von der Literatur großzügig überlassen werden. Margo Lanagan gehört ohne Zweifel zu den begabtesten Schriftstellerinnen ihrer Generation, ihre Bücher sind auch für den deutschen Buchmarkt eine echte Bereicherung von hohem poetischem Wert.

„LigasWelt“, aus dem Englischen von Mayela Gerhardt, erschienen bei Rowohlt, 524 Seiten, € 16,99