Jeder,
der die letzten drei Krimis um den desillusionierten Athener
Polizeikommissar Kostas Charitos aufmerksam gelesen und somit auf
dankbar-erhellende und gleichzeitig höchst unterhaltsame Art und
Weise die ebenso schmerzhafte wie schonungslose literarische Chronik
der fortschreitenden katastrophalen Auswirkungen der Wirtschaftskrise
sowie der von der Europäischen Gemeinschaft verordneten
schmerzhaften Sparauflagen auf die griechische Politik, Wirtschaft
und Gesellschaft aus der pointiert-realistischen Perspektive des
Schriftstellers Petros Markaris mitverfolgt hat, kann sich nur umso
mehr wundern, mit welch arrogant-chauvinistischer
Selbstverständlichkeit und unreflektierter Dickfelligkeit gerade
deutsche Politiker heute mit rationalistisch verschleierten
Argumenten die Etablierung eines lange Zeit gern gesehenen
Familienmitgliedes als ganz allgemeinen, öffentlichen Sündenbock zu
zementieren versuchen.
Das
sich hierin äußernde Maß der psychologischen Übertragung wird
besonders deutlich, wenn man sich angesichts der häufigsten
erhobenen Vorwürfe von Vetternwirtschaft, Begünstigung und
Misswirtschaft einmal selbstkritisch vor Augen führt, dass die
wesentlichen Triebfedern auch deutscher Politik und Wirtschaft, wie
sie nicht nur in den von staatlichen Institutionen, Unternehmen und
Gewerkschaften sowie auch im ganz persönlichen Berufs- und
Privatleben der meisten Bundesbürger deutlich werden, ebenfalls
darauf ausgerichtet sind, bei möglichst geringem Arbeitsaufwand
mittels geschickter Vernetzung den höchstmöglichen Nutzen für sich
selbst oder seinen jeweiligen Interessenverband zu erzielen. Man muss
gar nicht so weit gehen, die schlimmsten Auswüchse der daraus
erwachsenden Korruption zu brandmarken: in jeder lebendigen
menschlichen Solidaritätsgemeinschaft hilft und unterstützt man
sich gegenseitig, was zunächst einmal ein ganz natürlicher,
vollkommen legitimer Vorgang ist.
Du
fragst Dich vielleicht, warum ich Griechenland nicht verlassen habe.
Ich will versuchen, es Dir zu erklären, obwohl ich nicht sicher bin,
ob Du mich verstehst. Mein Problem ist, dass ich nicht griechisch
genug denke, um meine Landsleute mit ihren eigenen Waffen zu
schlagen. Ich gehe in einem Land frontal zum Angriff über, das von
Parteisöldnern beherrscht wird. Als Grieche hätte ich Vranas, den
Dreckskerl angeheuert, und alles wäre gut gewesen. Es hätte mich
zwar etwas mehr gekostet, aber ich wäre meine Sorgen losgewesen.
Gleichzeitig denke ich aber auch zu wenig deutsch. Als Deutscher
hätte ich alles hingeschmissen und wäre aus dem Schneider gewesen.
Ich hätte Griechenland zwar endgültig den Rücken gekehrt, hätte
dafür aber meinen Seelenfrieden gefunden.
Die
pseudo-rationalistische öffentliche Brandmarkung eines in massive
wirtschaftliche Not geratenen befreundeten Gemeinwesens jedoch ist
nicht nur ein allzu leicht durchschaubarer, geradezu schändlicher
Versuch, von unbestreitbaren eigenen Defiziten abzulenken und damit
eine identifikationsstiftende „positive“ Abgrenzung
herbeizuführen, sondern birgt dazu die massive Gefahr einer
schleichenden Legitimierung von Ausländerhass aus scheinbar
rationalen Gründen in sich, so als müsste man schon allein aus
vollkommen objektiven moralischen Gründen jeden Menschen ablehnen,
der mit seinen Ressourcen schlecht zu wirtschaften weiß.
Athen, Straßenszene/Foto: |
In
Petros Markaris' mittlerweile vierten Krisenroman, dem insgesamt
neunten Band der gesamten Buchreihe, steht erneut der zerbrechliche
Ist-Zustand der griechischen Gesellschaft im Mittelpunkt. Allerdings
nimmt der scharfsinnig gewitzte Autor nun den verzweifelten
Selbstmord eines Deutsch-Griechen zum willkommenen Anlass, um auf
überaus pointierte und durchweg sehr erhellende Art und Weise kaum
bekannte Unterschiede und unvermutete Gemeinsamkeiten im jeweiligen
Nationalcharakter der beiden Länder herauszuarbeiten. Der in
Deutschland aufgewachsene und hoch ausgebildete Jungunternehmer
Andreas Makridis wird erhängt in seiner Athener Wohnung aufgefunden.
Obwohl die polizeilich angeordnete Obduktion den naheliegenden Befund
„Suizid“ eindeutig bestätigen kann, beginnt nur wenige Tage
darauf eine spektakuläre Mordserie an höchst unterschiedlichen
Privatpersonen, die sich in von einer bislang unbekannten
Organisation der „Griechen der fünfziger Jahre“ verfassten, im
Internet veröffentlichten elektronischen Bekennerschreiben als
Vergeltung für den „Mord“ an Makridis verstanden wissen möchte.
„Was,
du bist schon da?“, meint sie. „Wir haben doch eben erst
telefoniert.“
„Ich
habe den Seat genommen.“
Und
ich erkläre ihr, dass ich unseren Wagen nach dem Überfall […]
reaktiviert habe, um durch Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln
nicht unnötig Zeit zu verlieren.
Ich
spüre, dass ihr eine Bemerkung auf der Zunge liegt.
„Das
kann ich nachvollziehen“, sagt sie schließlich. „Aber versteh
mich bitte nichtfalsch, Kostas: Wir kommen gerade so über die
Runden. Für Benzin ist einfach kein Geld da. Von mir aus nimm den
Wagen, bis Katerina wieder auf dem Posten ist, aber danach solltest
du wieder auf die öffentlichen Verkehrsmittel umsteigen.“
Ich
könnte ihr jetzt all die schönen Redensarten aufzählen, die mir
eingefallen sind, als ich unser Auto wieder in Betrieb nahm. Doch
Adriani hat das Kommando über unsere Finanzen, und sie kann man
ebenso wenig mit bloßen Sprüchen abspeisen wie die Troika.
Was
Kommissar Charitos von Anfang an am meisten irritiert, ist die
unbequeme Tatsache, dass die einzelnen Morde an dem Direktor einer
privaten Nachhilfeschule, einem professionellen
„Korruptionsdienstleisters“, der gegen hohe Provisionen amtliche
Vorgänge und Genehmigungen höchst wirksam zu beschleunigen
versteht, sowie an zwei Kleinbauern in der Provinz in keinerlei
erkennbarem Zusammenhang miteinander zu stehen scheinen, noch einen
direkten Bezug zu Makridis offenbar zu gleichen Teilen an
bürokratischer Willkür sowie einem persönlichen Mangel an
Verständnis für die griechische Mentalität gescheiterter
Geschäftsidee aufweisen. Der als typischer Vertreter der zweiten
Generation in Deutschland geborene Ingenieur hatte auf einer kleinen
Insel in der griechischen Ägäis eine Anlage hochmoderner
Windkraftanlagen bauen wollen, sich aber am jahrelang andauernden,
augenscheinlich von Behördenvertretern bewusst verschleppten
Genehmigungsverfahren finanziell und emotional aufgerieben.
Windkraftanlagen in Griechenland/Foto: Koliri@Wikimedia |
Während
sich die polizeilichen Ermittlungen aus Ermangelung an anderen
vielversprechenden Ansatzpunkten zunächst darauf konzentrieren, mit
Hilfe der Sondereinheit für Computerkriminalität die Identität der
geheimnisvollen „Griechen der fünfziger Jahre“ als
wahrscheinlicher Urheber der Bekennerschreiben und mutmaßlicher
Mörder aufzudecken, wird Kostas' Tochter, die sich als
niedergelassene Rechtsanwältin vor allem für die Belange illegaler
afrikanischer Einwanderer einsetzt, von Mitgliedern der real
existierenden rechtsradikalen Partei „Goldene Morgenröte“, die
aktuell siebzehn Sitze im griechischen Parlament innehat, direkt in
der Öffentlichkeit vor dem Gerichtsgebäude zusammengeschlagen und
lebensgefährlich verletzt. Beinahe noch größer als der persönliche
Schock über das Attentat auf seine Tochter ist für Kommissar
Charitos die schmerzhafte Erkenntnis, dass Kollegen innerhalb der
Polizeibehörde nicht nur zum großen Kreis der Mitwisser, sondern
sogar zu den direkten Mittätern zählen und nicht davor
zurückschrecken, auch ihn selbst mit Gewalt zu bedrohen.
Der
unglückliche Makridis konnte als Deutscher die Tragweite der
Inkompetenz nicht begreifen, weil er nicht nachvollziehen konnte,
warum in Griechenland nicht die Fähigsten ausgewählt werden.
Stattdessen haben wir die „Vorschriften“ erfunden, die Makridis
als böse Geister erschienen sind. Aber es sind keine bösen Geister,
sondern nur ein Mittel, um die Inkompetenz derer zu kaschieren, die
sich durch Parteizugehörigkeit und Vetternwirtschaft einen Platz im
öffentlichen Dienst erschlichen haben. Irgendwie tut er mir leid.
Ich hätte ihm, wenn wir uns zu seinen Lebzeiten über den Weg
gelaufen wären, alles erklären können., da ich doch aus denselben
Gründen nicht befördert werde.
Auch
in Kostas Charitos' viertem Fall seit Beginn der großen Krise zeigt
uns Petros Markaris ein tief verletztes, gedemütigtes Land am
Abgrund, dessen Bürger mit sehr viel Fantasie, Disziplin und Humor
sowie einer guten Portion Fatalismus versuchen, einigermaßen
menschenwürdig über die Runden zu kommen. Kostas' enger sozialer
Rückhalt aus Familie, lebenslangen Freunden und neuen hilfreichen
Bekannten liefert dabei im lebendigen zwischenmenschlichen Austausch
erneut zahlreiche nützliche Hinweise, die dem unbestechlichen
Polizisten schließlich der überraschenden Lösung dieses
komplizierten Falles auf unverhoffte Art und Weise immer näher
bringen. Zur klammheimlichen Freude des Lesers erweist sich am Ende
jedoch wieder einmal sein natürliches Gerechtigkeitsempfinden in
einem Fall außergewöhnlicher kollektiver Selbstjustiz als größer
und nachhaltiger als sein per Diensteid offiziell bekundeter Wille
zur Strafverfolgung.
Petros Markaris/Foto: Jost Hindersmann |
Als
dringend benötigten Beitrag zur kulturellen Vermittlung der
verzweifelten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation
Griechenlands im Ausland kann man Petros Markaris' wunderbare,
unterhaltsame und leicht zugängliche Griechenland-Krimis derzeit
kaum hoch genug preisen. Letztlich wird auch in „Zurück auf Start“
vorbildlich deutlich, dass es objektiv keine Alternative dazu geben
kann, Griechenland mit aller Macht und allen zur Verfügung stehenden
Mitteln zu unterstützen. Eine so massive politische Ausgrenzung, wie
sie momentan von zahlreichen Mitgliedsstaaten der Europäische Union
insbesondere von Deutschland betrieben wird, kann sich mittel- und
langfristig nur auf kaum voraussehbare, äußerst schmerzvolle Art
und Weise rächen.
„Zurück
auf Start“, aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger,
erschienen bei Diogenes, 356 Seiten, €