Wer die alte archetypische
Heldenreise auf der Suche nach dem ureigenen Sinn und Ziel des
eigenen Lebens für sich selbst willentlich annimmt, braucht dafür
eine wagemutige Mischung aus naiver Selbstüberschätzung,
Unbekümmertheit und Todesmut wie sie am anschaulichsten in der Figur
des heiligen Narren deutlich wird, die von der Gestalt des Parzival
bis hin zu Pinocchio am Beginn jeder individuellen Heldenreise stehen
muss: nur aus dem Blickwinkel der Unwissenheit, der Unkenntnis der
zahlreichen konkreten möglichen Gefahren auf dem beschwerlichen Weg
kann die sogenannte „große Tat“ überhaupt in Angriff genommen
werden.
Es hat selten ein
Bilderbuch gegeben, das dieses uralte Motiv auf so
selbstverständliche und gleichzeitig so unaufdringlich-dezente und
annehmbare Art und Weise für Kinder im Bilderbuchalter ab vier
Jahren intuitiv erfahrbar macht wie das soeben erschienene, im
konzentriert-zeitlosen Stil eines auf eine wesentlich-überschaubare
Bildsprache reduzierten Comics gehaltene, entwaffnend poetische Buch
„Vom Küken, das wissen wollte, wer seine Mama ist“ der jungen,
für ihr bisheriges Werk bereits vielfach ausgezeichneten
Illustratorin Julia Dürr (geboren 1981) nach einer Textvorlage der
Jugendbuch- und Hörfunkautorin Brigitte Endres, die die
Erfahrungswelt ihres Publikums aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit
als Grundschullehrerin nicht nur genauestens kennt, sondern dafür
auch eine kongeniale Sprache findet.
An
einem hellen Sommermorgen rollte etwas über
die
Wiese. Rollte und rollte und blieb
unter
einem Fliederbusch liegen. Es war nicht
sehr
groß und weiß und glatt.
Als das kleine gelbe Küken
sich aus dem Ei schält und neugierig, gut gelaunt und unbefangen ins
Leben tritt, fehlt zum ganz großen Glück nur eins: die eigene Mama.
Wie aber und woran soll das unglücklich dem heimatlichen Nest
entrollte Neugeborene seine Mutter erkennen, die es noch nie
leibhaftig gesehen hat? Es macht sich also auf den Weg durch die
sommerlich frisch-erblühte Natur und fragt jedes einzelne Lebewesen,
dem es begegnet, ob es vielleicht seine Mutter sei. Indem es eine
natürliche Kultur des naiven, unbefangenen, systematischen Fragens
etabliert, erfährt es viel über das Leben an sich, über den Lauf
der Natur und über das Brutverhalten anderer Tiere, wobei die Natur
– und darin besteht der besondere Reiz dieses Buches – von den
beiden Autorinnen in viel umfangreicheren Maße als belebt begriffen
und dargestellt wird als es der allgemeine Konsens sonst zulässt.
Im auf geradezu
menschliche Art und Weise solidarisch scheinenden, vielfältig und
organisch miteinander verbundenen natürlichen Lebensraum dieser
poetischen Bilderbuchwelt können nicht nur Tiere, Insekten und
Amphibien miteinander kommunizieren, sondern auch Gräser, Blumen und
Bäume:
„Wir
sind nicht vom selben Holz, mein
Nachwuchs
schlummert in den Kirschen. Wenn sie auf die Erde
fallen,
wachsen junge Bäumchen aus den Kernen. - Und du bist ja
wohl
kaum aus einem Kern gekrochen.“
„Ich
bin aus einem Ei geschlüpft“, piepste das Küken.
Und dank seiner
unwiderstehlich-liebreizenden Wirkung als schwaches, unschuldiges,
tapsig-unbeholfenes Jungtier, das deutlich erkennbar für kein
anderes Lebewesen, ob Tier, Insekt oder Pflanze, weder aus bösem
Vorsatz noch unabsichtlich eine mögliche Gefahr darzustellen vermag,
entkommt es sogar der verschlagenen Katze, die als einziger
Gesprächspartner des kleinen Kükens ein gefährliches Interesse für
den potentiellen Leckerbissen entwickelt: von dessen unfehlbarem
naiven Charme entwaffnet, lässt sie es trotz einer vom Leser
deutlich erkennbaren Drohung vollkommen unangetastet und letztlich
mit einem hilflos-verdrossenen Schulterzucken seiner ungewissen Wege
ziehen.
Am Ende zeigt sich jedoch,
dass es im Abenteuer des Lebens noch andere zielführende Kriterien
geben kann als das Sichtbar-Offensichtliche:
Doch
plötzlich... Plötzlich hörte es etwas. Etwas,
das
ihm bekannt vorkam. Etwas, das sein Herzchen
schneller
klopfen ließ.
Es ist eine wirklich
bravouröse Leistung, im streng begrenzten erzählerischen und
bildnerischen Rahmen eines gewöhnlichen Bilderbuchs eine unter der
offensichtlichen Oberfläche inhaltlich so reichhaltige Geschichte zu
erzählen, in der gleichzeitig auch so viel intuitives, poetisch
verdichtetes Wissen über das Große-Ganze des menschlichen Lebens
und der Natur mitschwingt, ohne das Resultat ins tückische
Fahrwasser des Simplen, Banalen oder Esoterischen abgleiten zu
lassen. Die jedem Kind durch eigene Anschauung bereits annähernd
vertraute lebendige Umwelt, die die beiden Autorinnen in ihrem
entzückenden kleinen Buch in kongenialer Zusammenarbeit miteinander
gestalten, erscheint so als ein natürlicher, allumfassender
Organismus, in dem jedes Lebewesen seinen festen, von allen
wertgeschätzten Platz besitzt und in dem sich jeder auch für das
Glück des anderen mitverantwortlich fühlt. Das ist möglicherweise
eine Utopie – aber ohne Zweifel eine schöne, ausgesprochen
wünschenswerte.
„Vom Küken, das wissen wollte, wer seine Mama ist“, erschienen bei Aracari, 28 Seiten, €
14,90
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