Man
kann nicht sagen, dass der Debütroman der Theaterautorin und
Opernlibrettistin Hannah Dübgen (geboren 1977) frei von menschlichem
Mitleid und sozialem Einfühlungsvermögen sei. Tatsächlich bringt
die Teilnehmerin der Tage der deutschsprachigen Literatur 2013 in
Klagenfurt („Ingeborg-Bachmann-Preis“) sogar eine
überdurchschnittlich hoch ausgebildete Fähigkeit zur empathischen
individuellen Figurenzeichnung mit.
In
ihrem eleganten, lesenswerten und unwillkürlich an so erfolgreiche
Episodenfilme wie Jim Jarmuschs „Night on Earth“ oder „Short
Cuts“ von Robert Altman erinnernden ersten Roman „Strom“
schlüpft sie erzählerisch meistenteils höchst überzeugend in so
unterschiedlich angelegte Charaktere wie die in Paris lebende
japanische Konzertpianistin Makiko, den unglücklich in Israel
verheirateten brasilianischen Zoologen Luiz, die um ihre langjährige
Partnerin trauernde deutsche Dokumentarfilmerin Ada oder den in Tokio
die mögliche Übernahme eines japanischen Elektronikkonzern
vorbereitenden amerikanischen Investmentbanker Jason.
Nah
oder fern gibt es nicht mehr, nur noch nah oder fremd
So
lautet das übergeordnete Motto von Hannah Dübgens die unserer Zeit
immanente Relativierung geographischer Entfernungen (vermutlich durch
Wohlstand und Technik) postulierendem Roman, dessen irreführend
technokratisch klingenden Titel (verstärkt noch durch den Eindruck
des postmodernen Covers) der im Sinne der Autorin letztlich
folgerichtig an der sich für ihn als unüberwindlich erweisenden
Fremdheit der japanischen Sitten scheiternde Jason im Verlauf der
Handlung seiner einheimischen Sekretärin zu erläutern versucht:
Das
Einzige, das wir mit absoluter Sicherheit sagen können, ist, dass
wir jetzt und hier Teil jenes Stromes sind, den wir in uns spüren,
wenn wir stillhalten, den wir sogar hören können, wenn wir darauf
achten, dieses Rauschen hinter dem Ticken der Uhren, dieser Fluss an
Energie, der immerzu nach vorne zieht und uns fühlen lässt, dass
wir da sind, hier und jetzt, in unserer Zeit.“ - Mai öffnete die
Augen und überraschte Jason mit ihrer prompten Antwort: „Dass wir
sind, können wir so spüren, nicht aber, wer wir sind.“ Ihr
Gesicht begann zu glühen: „Genau dafür brauchen wir doch die
Welt! Brauchen Räume, in denen sich die Zeit staut, Orte, die Spuren
tragen, die von Menschen erzählen, selbst dann, wenn diese schon
fort oder nicht mehr sind, ein Ort“, flüsterte Mai, „der auch
dann nicht vergisst, wenn wir uns nicht mehr erinnern können...“
Auf
gänzlich andere Art und Weise – jedoch kaum weniger intensiv –
spürt diesen Strom der Gegenwärtigkeit und des sinnlich erfahrbaren
Lebens auch die gefeierte Pianistin Makiko, nicht nur in ihrem
virtuosen Spiel, sondern auch in ihrer ungewöhnlichen langjährigen,
geheimen Beziehung zu Gerald, ihrem in London anderweitig, jedoch
nicht unglücklich gebundenem Manager:
Sie
brauchten keine Worte, keinen Status, um zu wissen, was sie beide
waren. Sie waren die einzigen Zeugen ihrer im Verborgenen lebenden
Geschichte. Einer Geschichte ohne gemeinsames Zähneputzen, ohne
Ringe, ohne Besitz. Einer Geschichte der reinen Lust, des kostbaren
Augenblicks. Je purer das Begehren, desto vollkommener die Ruhe
danach. Yin und Yang. Schön, solange sie sich nicht mischten,
sondern ergänzten. [...] Ihre Beziehung war perfekt, genau so, wie
sie war.
Überhaupt
gelingen Hannah Dübgen zahlreiche gerade in ihrer
Unterschiedlichkeit überraschend glaubwürdige Schilderungen
menschlicher Liebesbeziehungen sowie männlicher und weiblicher
Sexualität. Fast alle ihrer Protagonisten, die auf nur für den
Leser erkennbare Art und Weise in ihren Lebenswegen aufs Engste
miteinander verbunden zu sein scheinen (was beim Lesen einen
wesentlichen Reiz des höchst unterhaltsamen Romans ausmacht, denn
zuweilen rätselt man, ob diese Verbindungen womöglich noch enger
sein könnten als es zunächst scheint) – leben zumindest
vorübergehend geheime oder aus verschiedensten Gründen zumindest
schwierige Liebesbeziehungen.
So
auch der Brasilianer Luiz, der mit seiner israelischen Frau in Tel
Aviv eine Familie gegründet hat und der allgegenwärtigen Bedrohung
sowie den ständigen, von ihm als ermüdend wahrgenommenen
politischen Diskussionen aller Richtungen durch eine amazonisch-wilde
Affäre mit seiner unkonventionellen Landsfrau Joana zu entfliehen
versucht. Seiner persönlichen Innensicht verdanken wir einige der
wahrhaftigsten Schilderungen des israelischen Alltags seit langem,
die wir uns von vielen gemeinhin ins Deutsche übersetzten
israelischen Autoren oft vergeblich erhoffen.
Barfuß
wanderte er über den Rasen, der an einigen Stellen verbrannt war,
Rachels halbherzige Bewässerung, ihr schlechtes Gewissen den
Palästinensern gegenüber. Luiz lief an dem Olivenbaum vorbei, am
Sandkasten und der Schaukel, bis zu den Zitronenbäumen, zwischen den
Ästen tastete er sich weiter und erreichte schließlich den Zaun.
[...] Weiter unten am Hang knatterte ein Moped, Luiz sah im Geiste,
wie die Räder den trockenen Staub aufwirbelten, Jugendliche brachen
auf zu den Clubs am Strand. Sein Blick glitt nach rechts, folgte den
Motoren. Die Restaurants am Pier, die lauten Bars im Zentrum, in
denen sich schwitzende Körper aneinanderdrängten, tanzten, im
Nacken der Krieg, um die Angst, die bleiernen Gedanken rhythmisch
aufzusprengen... All das schien weit weg. Diese Stadt ist gut, wenn
du hungrig bist, hatte Mark, sein Vorgänger im Institut gesagt.
Hungrig und allein.
Durch
die junge Dokumentarfilmerin Ada erhalten wir außerdem einen
intensiv-unverstellten Blick auf die desolaten Verhältnisse im
Gazastreifen. Gegen Ende der Handlung gibt es diesbezüglich ein
interessantes Gespräch zwischen Ada und Jason, das mit einer
überraschenden Analyse die außerordentlichen Fähigkeiten und das
herausragende Talent der Autorin offenbaren, sich in fremde
Denkweisen und Emotionen einzuarbeiten:
„Der
Gazastreifen ist ein Gebiet mit blockierten Grenzen und daher von
Treibstofflieferungen aus Israel abhängig. Wenn dort jemand den Hahn
abdreht, kann das Ölkraftwerk in Gaza, das die Region mit Strom
versorgt, nicht mehr produzieren.“ Ada strich sich eine Haarsträne
aus der Stirn. „Zudem zerstören die Luftangriffe jedes Mal auch
Teile der Infrastruktur, manches wird monatelang nicht repariert.“
- Ihr Nachbar nickte, sein Blick schweifte ab, als gliche er das, was
Ada sagte, mit Bildern in seinem Inneren ab. „Das heißt“, begann
er schließlich, „Sie meinen, um dort investieren zu können,
großflächig, mit Perspektive, muss man zunächst das Land
abtrennen, der israelischen Kontrolle entziehen?“ - Ada staunte:
„Ja“, sagte sie. „Ganz genau.“
In
der Schlussszene kommen, wie es sich für einen ambitionierten
Episodenroman gehört, alle Protagonisten anlässlich eines
Sinfoniekonzerts von Makiko in der ehrwürdigen Henry Crown Symphony
Hall in Jerusalem zusammen, welches als Landeshauptstadt zeitgleich
Schauplatz eines Staatsbesuchs des amerikanischen Präsidenten sowie
einer großen konzertierten israelischen Friedensdemonstration ist.
Die abschließende Diagnose, dass es angesichts dieses (freilich von
der Autorin bewusst herbeigeführten) Zufalls in unserer Welt keine
geographischen Entfernungen mehr gebe, ist für den Leser allerdings
leider nur dann nachvollziehbar, wenn er bereit ist, sich eine
Perspektive des Elitären zu eigen zu machen.
Denn
während Jason, Makiko und Ada kurzfristig aus anderen Zeitzonen per
Flugzeug angereist sind und Luiz und seine Frau Rachel, einer
spontanen Laune folgend, aus Tel Aviv nach Jerusalem kommen, sind –
nur wenige Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt –
Palästinenser in den besetzten Gebieten Tag für Tag allein auf den
guten Willen der israelischen Besatzungsmacht angewiesen, um ihre
armseligen Dörfer verlassen zu können. Doch auch im Kernland Israel
sowie an allen anderen Schauplätzen des Romans gibt es
bekanntermaßen einen nicht geringen Anteil der Bevölkerung, der von
einem Flugticket allenfalls zu träumen vermag.
Gerade
diese fundamentale Trennung lässt sich leider auch nicht durch ein
Gefühl solidarischer Nähe überwinden. Trotz dieser bitteren, im
Leser nachhaltig wirkenden Einschränkung ist Hannah Dübgen ein
überdurchschnittliches Romandebüt gelungen, das nicht nur
aufhorchen lässt, sondern auch große Erwartungen weckt.