Jerusalem

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Donnerstag, 29. August 2013

„Strom“ von Hannah Dübgen

Man kann nicht sagen, dass der Debütroman der Theaterautorin und Opernlibrettistin Hannah Dübgen (geboren 1977) frei von menschlichem Mitleid und sozialem Einfühlungsvermögen sei. Tatsächlich bringt die Teilnehmerin der Tage der deutschsprachigen Literatur 2013 in Klagenfurt („Ingeborg-Bachmann-Preis“) sogar eine überdurchschnittlich hoch ausgebildete Fähigkeit zur empathischen individuellen Figurenzeichnung mit.



In ihrem eleganten, lesenswerten und unwillkürlich an so erfolgreiche Episodenfilme wie Jim Jarmuschs „Night on Earth“ oder „Short Cuts“ von Robert Altman erinnernden ersten Roman „Strom“ schlüpft sie erzählerisch meistenteils höchst überzeugend in so unterschiedlich angelegte Charaktere wie die in Paris lebende japanische Konzertpianistin Makiko, den unglücklich in Israel verheirateten brasilianischen Zoologen Luiz, die um ihre langjährige Partnerin trauernde deutsche Dokumentarfilmerin Ada oder den in Tokio die mögliche Übernahme eines japanischen Elektronikkonzern vorbereitenden amerikanischen Investmentbanker Jason.

Nah oder fern gibt es nicht mehr, nur noch nah oder fremd

So lautet das übergeordnete Motto von Hannah Dübgens die unserer Zeit immanente Relativierung geographischer Entfernungen (vermutlich durch Wohlstand und Technik) postulierendem Roman, dessen irreführend technokratisch klingenden Titel (verstärkt noch durch den Eindruck des postmodernen Covers) der im Sinne der Autorin letztlich folgerichtig an der sich für ihn als unüberwindlich erweisenden Fremdheit der japanischen Sitten scheiternde Jason im Verlauf der Handlung seiner einheimischen Sekretärin zu erläutern versucht:

Das Einzige, das wir mit absoluter Sicherheit sagen können, ist, dass wir jetzt und hier Teil jenes Stromes sind, den wir in uns spüren, wenn wir stillhalten, den wir sogar hören können, wenn wir darauf achten, dieses Rauschen hinter dem Ticken der Uhren, dieser Fluss an Energie, der immerzu nach vorne zieht und uns fühlen lässt, dass wir da sind, hier und jetzt, in unserer Zeit.“ - Mai öffnete die Augen und überraschte Jason mit ihrer prompten Antwort: „Dass wir sind, können wir so spüren, nicht aber, wer wir sind.“ Ihr Gesicht begann zu glühen: „Genau dafür brauchen wir doch die Welt! Brauchen Räume, in denen sich die Zeit staut, Orte, die Spuren tragen, die von Menschen erzählen, selbst dann, wenn diese schon fort oder nicht mehr sind, ein Ort“, flüsterte Mai, „der auch dann nicht vergisst, wenn wir uns nicht mehr erinnern können...“

Auf gänzlich andere Art und Weise – jedoch kaum weniger intensiv – spürt diesen Strom der Gegenwärtigkeit und des sinnlich erfahrbaren Lebens auch die gefeierte Pianistin Makiko, nicht nur in ihrem virtuosen Spiel, sondern auch in ihrer ungewöhnlichen langjährigen, geheimen Beziehung zu Gerald, ihrem in London anderweitig, jedoch nicht unglücklich gebundenem Manager:

Sie brauchten keine Worte, keinen Status, um zu wissen, was sie beide waren. Sie waren die einzigen Zeugen ihrer im Verborgenen lebenden Geschichte. Einer Geschichte ohne gemeinsames Zähneputzen, ohne Ringe, ohne Besitz. Einer Geschichte der reinen Lust, des kostbaren Augenblicks. Je purer das Begehren, desto vollkommener die Ruhe danach. Yin und Yang. Schön, solange sie sich nicht mischten, sondern ergänzten. [...] Ihre Beziehung war perfekt, genau so, wie sie war.

Überhaupt gelingen Hannah Dübgen zahlreiche gerade in ihrer Unterschiedlichkeit überraschend glaubwürdige Schilderungen menschlicher Liebesbeziehungen sowie männlicher und weiblicher Sexualität. Fast alle ihrer Protagonisten, die auf nur für den Leser erkennbare Art und Weise in ihren Lebenswegen aufs Engste miteinander verbunden zu sein scheinen (was beim Lesen einen wesentlichen Reiz des höchst unterhaltsamen Romans ausmacht, denn zuweilen rätselt man, ob diese Verbindungen womöglich noch enger sein könnten als es zunächst scheint) – leben zumindest vorübergehend geheime oder aus verschiedensten Gründen zumindest schwierige Liebesbeziehungen.

So auch der Brasilianer Luiz, der mit seiner israelischen Frau in Tel Aviv eine Familie gegründet hat und der allgegenwärtigen Bedrohung sowie den ständigen, von ihm als ermüdend wahrgenommenen politischen Diskussionen aller Richtungen durch eine amazonisch-wilde Affäre mit seiner unkonventionellen Landsfrau Joana zu entfliehen versucht. Seiner persönlichen Innensicht verdanken wir einige der wahrhaftigsten Schilderungen des israelischen Alltags seit langem, die wir uns von vielen gemeinhin ins Deutsche übersetzten israelischen Autoren oft vergeblich erhoffen.

Barfuß wanderte er über den Rasen, der an einigen Stellen verbrannt war, Rachels halbherzige Bewässerung, ihr schlechtes Gewissen den Palästinensern gegenüber. Luiz lief an dem Olivenbaum vorbei, am Sandkasten und der Schaukel, bis zu den Zitronenbäumen, zwischen den Ästen tastete er sich weiter und erreichte schließlich den Zaun. [...] Weiter unten am Hang knatterte ein Moped, Luiz sah im Geiste, wie die Räder den trockenen Staub aufwirbelten, Jugendliche brachen auf zu den Clubs am Strand. Sein Blick glitt nach rechts, folgte den Motoren. Die Restaurants am Pier, die lauten Bars im Zentrum, in denen sich schwitzende Körper aneinanderdrängten, tanzten, im Nacken der Krieg, um die Angst, die bleiernen Gedanken rhythmisch aufzusprengen... All das schien weit weg. Diese Stadt ist gut, wenn du hungrig bist, hatte Mark, sein Vorgänger im Institut gesagt. Hungrig und allein.

Durch die junge Dokumentarfilmerin Ada erhalten wir außerdem einen intensiv-unverstellten Blick auf die desolaten Verhältnisse im Gazastreifen. Gegen Ende der Handlung gibt es diesbezüglich ein interessantes Gespräch zwischen Ada und Jason, das mit einer überraschenden Analyse die außerordentlichen Fähigkeiten und das herausragende Talent der Autorin offenbaren, sich in fremde Denkweisen und Emotionen einzuarbeiten:

Der Gazastreifen ist ein Gebiet mit blockierten Grenzen und daher von Treibstofflieferungen aus Israel abhängig. Wenn dort jemand den Hahn abdreht, kann das Ölkraftwerk in Gaza, das die Region mit Strom versorgt, nicht mehr produzieren.“ Ada strich sich eine Haarsträne aus der Stirn. „Zudem zerstören die Luftangriffe jedes Mal auch Teile der Infrastruktur, manches wird monatelang nicht repariert.“ - Ihr Nachbar nickte, sein Blick schweifte ab, als gliche er das, was Ada sagte, mit Bildern in seinem Inneren ab. „Das heißt“, begann er schließlich, „Sie meinen, um dort investieren zu können, großflächig, mit Perspektive, muss man zunächst das Land abtrennen, der israelischen Kontrolle entziehen?“ - Ada staunte: „Ja“, sagte sie. „Ganz genau.“

In der Schlussszene kommen, wie es sich für einen ambitionierten Episodenroman gehört, alle Protagonisten anlässlich eines Sinfoniekonzerts von Makiko in der ehrwürdigen Henry Crown Symphony Hall in Jerusalem zusammen, welches als Landeshauptstadt zeitgleich Schauplatz eines Staatsbesuchs des amerikanischen Präsidenten sowie einer großen konzertierten israelischen Friedensdemonstration ist. Die abschließende Diagnose, dass es angesichts dieses (freilich von der Autorin bewusst herbeigeführten) Zufalls in unserer Welt keine geographischen Entfernungen mehr gebe, ist für den Leser allerdings leider nur dann nachvollziehbar, wenn er bereit ist, sich eine Perspektive des Elitären zu eigen zu machen.

Denn während Jason, Makiko und Ada kurzfristig aus anderen Zeitzonen per Flugzeug angereist sind und Luiz und seine Frau Rachel, einer spontanen Laune folgend, aus Tel Aviv nach Jerusalem kommen, sind – nur wenige Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt – Palästinenser in den besetzten Gebieten Tag für Tag allein auf den guten Willen der israelischen Besatzungsmacht angewiesen, um ihre armseligen Dörfer verlassen zu können. Doch auch im Kernland Israel sowie an allen anderen Schauplätzen des Romans gibt es bekanntermaßen einen nicht geringen Anteil der Bevölkerung, der von einem Flugticket allenfalls zu träumen vermag.

Gerade diese fundamentale Trennung lässt sich leider auch nicht durch ein Gefühl solidarischer Nähe überwinden. Trotz dieser bitteren, im Leser nachhaltig wirkenden Einschränkung ist Hannah Dübgen ein überdurchschnittliches Romandebüt gelungen, das nicht nur aufhorchen lässt, sondern auch große Erwartungen weckt.

„Strom“, erschienen bei dtv, 267 Seiten, € 14,90

Freitag, 23. August 2013

Schwazer Stadtschreiberin 2013: Lisa-Maria Seydlitz

Es ist meist eine große, psychologisch kaum zu bewältigende Bürde für junge debütierende Autoren, einem großartigen, allerseits gefeierten ersten Roman ein zweites, neues Buch folgen lassen zu müssen, das die hohen Erwartungen der Öffentlichkeit am Ende nicht nur bestätigen könnte, sondern diese möglicherweise noch zu übertreffen vermag, ohne dass der jeweilige Autor Einschränkungen bezüglich seines persönlichen Stils sowie seiner ureigenen individuellen Vorstellungen von seinem nächsten Werk hinnehmen müsste.

Umso schöner, dass es so überaus hilfreiche Förderstipendien wie jenes der kleinen Tiroler Stadt Schwaz gibt, welches es – kuratiert vom dort seit 1995 angesiedelten, ausgesprochen rührigen Literaturforum – insbesondere jungen Autoren unter dem alljährlich vergebenen Titel „Schwazer Stadtschreiber“ erlaubt, sich für zwei Monate ganz allein dem literarischen Schreiben sowie der Arbeit an neuen Texten widmen zu dürfen: denn allein von der Literatur können auch heute noch die allerwenigsten ambitionierten Schriftsteller ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Die diesjährige verdiente Preisträgerin, Lisa-Maria Seydlitz, geboren 1985 in Mannheim, hat mit ihrem schwebend-leichten ersten Roman „Sommertöchter“ nicht nur eines der schönsten und berührendsten Bücher des Jahres 2012 veröffentlicht; die langjährige Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift BELLA triste konnte mit ihrem Buch über eine junge Frau auf der Suche nach sich selbst auch einen weithin als wunderbare literarische Neuentdeckung gepriesenen Überraschungsbestseller verbuchen. Nun also darf die sympathische junge Autorin zu Recht zwei Monate lang die Annehmlichkeiten des eindrucksvollen historischen Fuggerwohnhauses aus dem Jahr 1525 (heute Kloster der Tertiarschwestern) sowie ein mit dem Stipendium verbundenes ansehnliches persönliches Taschengeld genießen.

Mein Vater soll heute zurückkommen. Seit einer Stunde warten wir zwischen Sonnenblumen und Fingerhut im Garten. Meine Mutter läuft Schleifen im Gras und tritt mit den Sandalen auf herabgefallene Kirschen, rote, ungleichmäßige Schlieren zeichnen ihre Knöchel. Immer wieder geht sie die Treppe hinauf zum Haus, bleibt im Türrahmen stehen und horcht, ob das Telefon klingelt.

„Sommertöchter“ ist ein wunderbares, absolut berührendes, ebenso tieftrauriges wie herzensfröhliches, unbekümmertes und sommerlich leichtes Buch über die Suche einer jungen Frau nach dem verlorenen Glück ihrer unbeschwerten Kindheit und die Reise zu sich selbst. „Man erinnert sich nicht über Fotos oder Filmaufnahmen“, sagt eine Nebenfigur des Buches zu Juno, der zwanzigjährigen innerlich vereinsamten Protagonistin, die seit dem plötzlichen Tod ihres geliebten Vaters vor acht Jahren, der eigentlich ein sich seit langem andeutendes, langsames Verschwinden war, von einer tiefen Traurigkeit erfüllt ist und die nicht begreifen kann, warum die scheinbar unbeschwerte Idylle ihrer Kindheit im Grünen so plötzlich enden musste.



Auch ihre Mutter erinnert sich nicht über Fotos – alle Aufnahmen, auf denen Junos Vater zu sehen war, hat sie ohne Ausnahme entsorgt, das gemeinsame Haus vor den Toren der Stadt noch am Todestag ihres Mannes zugunsten einer funktionalen Stadtwohnung aufgegeben. Aus der neuen Liebesbeziehung ihrer Mutter fühlt Juno sich ausgeschlossen, besonders nach der Geburt ihrer Halbschwester. Eines Tages jedoch erhält sie einen anonymen Brief aus Frankreich mit einem Foto von einem Fischerhaus in der Bretagne und den Worten:

Liebe Juno, das Haus steht schon so lange leer. [...] Ob ich das Haus verkaufen wolle oder renovieren und an Touristen vermieten, lese ich, die Schrift sieht unsicher aus, als wüssten die Buchstaben und Wörter nicht, ob sie wirklich zusammengehören.“

Da ihre Mutter nicht bereit ist, mit ihr über den Inhalt des Briefes zu reden, obwohl sie offensichtlich maßgeblich zur Aufklärung beitragen könnte und sogar den Schlüssel des Hauses besitzt, macht sich Juno kurz entschlossen auf in die Bretagne, wo sie allerdings feststellen muss, dass bereits eine andere, etwa gleichaltrige junge Frau, die französische Kellnerin Julie, in dem Haus wohnt.

© severafrahm 

Während sie mit Julie, dem gemeinsamen Nachbarn auf Zeit, einem deutschen Architekten, sowie der Restaurantbesitzerin Camille einen unbeschwerten Sommer verlebt, erinnert sie sich immer wieder auch an intensive Episoden aus ihrer Kindheit, an Tage im Freibad oder im Wildgehege mit ihrem Vater, seine für sie und ihre Mutter zunehmend angstbesetzte Abwesenheit während der langen Klinikaufenthalte und schließlich die Leere nach seinem Tod, der durch den radikalen Bruch der Mutter mit ihrem bisherigen Leben für die Zwölfjährige noch unverständlicher bleibt.

Es ist bereits dunkel, als wir zu Hause ankommen. Ich nehme die Post mit hoch. Die Karte ist nachadressiert. Auf dem Adressfeld ein Aufkleber, darauf unsere Namen und unsere neue Anschrift. Meine Mutter und ich stehen im Wohnungsflur und lesen die Karte, Jahre nachdem sie abgeschickt wurde. [...] Meine Mutter küsst Anna auf die Schläfe, schnallt sich den Tragegurt ab. Sie legt Anna in ihr Bett. Sie nimmt mich an der Hand, wir gehen in mein Zimmer. Meine Mutter schließt die Tür hinter uns und nimmt mich in den Arm. Sie hält mich fest. Sie legt ihren Kopf auf meine Schulter und ich spüre, wie ihre Tränen durch meinen Pullover dringen.

In der Konfrontation mit der Vergangenheit und den Erlebnissen mit Julie findet Juno schließlich einen hoffnungsvollen Ansatz, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien, ohne sie loslassen zu müssen. „Sommertöchter“ ist ein ganz großes, innerlich erfrischendes Stück Literatur, das zuweilen an die traurig-schönen Romane von Olivier Adam erinnert.

„Sommertöchter“, erschienen bei DuMont, 208 Seiten, € 8,99

Samstag, 17. August 2013

Longlist-Nominierungen zum Deutschen Buchpreis 2013




Es macht Sinn, sich die Longlist der diesjährigen Nominierten für den im Jahre 2005 mit großen Ambitionen als mögliche deutsche Variante des renommierten Booker-Preises des Commonwealth ins Leben gerufenen, aber bisher weit hinter diesem ehrgeizigen Anspruch zurückgebliebenen Deutschen Buchpreis zumindest oberflächlich anzuschauen, weil sich an dieser in diesem Jahr durchaus gelungenen und nicht nur kommerziellen Gesichtspunkten Genüge tragenden Auswahl von zwanzig aktuellen deutschsprachigen Romanen exemplarisch die aktuelle Krise des deutschen Buchhandels und Verlagswesens ablesen lässt.

Mirko Bonné: Nie mehr Nacht (Schöffling & Co., August 2013)
Ralph Dutli: Soutines letzte Fahrt (Wallstein, März 2013)
Thomas Glavinic: Das größere Wunder (Hanser, August 2013)
Norbert Gstrein: Eine Ahnung vom Anfang (Hanser, Mai 2013)
Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden (Hanser, Februar 2013)

Die vergangenen zehn Jahre waren im Sortimentsbuchhandel wie im Verlagswesen gleichermaßen stark (und darüber hinaus: mehrdenn je zuvor) geprägt von großen expandierenden Konzernen, die mit nachlassendem Erfolg bis heute die populäre, weitgehend unwidersprochene Auffassung vertreten, dass wirtschaftliches Wachstum sich auch in einem vergleichbar unbedeutenden, wie kaum ein anderer von den zahlreichen Unwägbarkeiten des individuellen künstlerischen Outputs abhängigen Wirtschaftszweig auch bei einem „ökonomischeren“ das heißt geringeren kreativen und finanziellen Einsatz sicher und verlässlich planen und ausrechnen lässt.

Daniel Kehlmann: F (Rowohlt, September 2013)
Judith Kuckart: Wünsche (DuMont, März 2013)
Olaf Kühl: Der wahre Sohn (Rowohlt.Berlin, September 2013)
Dagmar Leupold: Unter der Hand (Jung und Jung, Juli 2013)
Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren (C. H. Beck, Januar 2013)

Große Verlage oder Verlagskonzerne, die besonders vor zehn Jahren noch die wirtschaftlichen Mittel dazu gehabt hätten, neue begabte und interessante Autoren mittels eines hochentwickelten Lektorats- und Scoutingsystems neu zu entdecken oder wenigstens in Übersetzung für den deutschen Markt zu erschließen, haben im krisenhaften Verlauf der letzten Jahre in viel zu starkem Maße auf bereits „erprobte“, vermeintlich ausrechenbare Bestseller aus dem amerikanischen oder britischen Buchmarkt gesetzt und können heute im wesentlichen nur noch – wenn auch auf hohem Niveau – als etablierte Hausverlage bereits allgemein anerkannter, durch Vertrag oder Neigung an sie gebundene Autoren reüssieren.

Clemens Meyer: Im Stein (S. Fischer, August 2013)
Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (Kiepenheuer & Witsch, Februar 2013)
Terézia Mora: Das Ungeheuer (Luchterhand, September 2013)
Marion Poschmann: Die Sonnenposition (Suhrkamp, August 2013)
Thomas Stangl: Regeln des Tanzes (Droschl, September 2013)

Die sich durch diese Nachlässigkeit bietende Chance haben die (sehr oft, aber nicht immer kleinen) unabhängigen Verlage genutzt, deren vorrangiger Anspruch es schon immer war, mit Mut und Überzeugung vor allem neue unbekannte deutschsprachige Autoren zu entdecken und zu fördern, was sich nicht nur an der erstmals von ihnen geradezu dominierten Longlist des Deutschen Buchpreises 2013 ablesen lässt. Auch wenn zu befürchten ist, dass die für September zu erwartende Shortlist-Nominierung der sechs endgültig um den Preis konkurrierenden Romane der bisherigen Tradition folgend weitaus weniger illuster und mutig ausfallen wird, ist die Wahl der diesjährigen Juroren ein alles andere als willkürliches Anzeichen einer wohltuenden Entwicklung auf dem deutschen Buchmarkt und eine Belohnung für gute verlegerische Arbeit.

Die Jury 2013/Foto: Harald Schröder

Jens Steiner: Carambole (Dörlemann, August 2013)
Uwe Timm: Vogelweide (Kiepenheuer & Witsch, August 2013)
Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten (Jung und Jung, Februar 2013)
Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums (Diogenes, August 2013)
Monika Zeiner: Die Ordnung der Sterne über Como (Blumenbar, März 2013)

Samstag, 10. August 2013

„Das Streichholzschachtel-Tagebuch“ von Paul Fleischman und Bagram Ibatoulline

Die ultrarealistischen, in ihrer künstlerischen Essenz geradezu altmeisterlich anmutenden Illustrationen, die der in Russland geborene und mittlerweile seit vielen Jahren in New Jersey lebende, für seine bisherigen Werke zu Recht gefeierte Illustrator Bagram Ibatoulline für Paul Fleischmans neues Kinderbuch „Das Streichholzschachtel-Tagebuch“ entworfen hat, bewegen sich in einer ebenso sorgfältig wie gründlich recherchierten eklektizistischen Künstlichkeit am Abgrund des Kitsches, die möglicherweise allein noch glaubwürdiger Ort einer fiktiven Begegnung der darin porträtierten gegensätzlichen Lebenswelten sowie des heilsamen familiären Geschichtenerzählens sein kann.




In einem großen, durch zahlreiche dunkle antike Möbel und weitere edle Sammlerstücke großzügig strukturierten Raum, der gleichermaßen privates Wohnzimmer wie Antiquitätenladen sein könnte, begegnet ein fünfjähriges Mädchen, das – wie wir im weiteren Lauf der Geschichte erfahren werden – vier Flugstunden entfernt bei seinen Eltern aufwächst, zum ersten Mal im Leben seinem greisen Urgroßvater. Mit spielerischer Neugier durchstöbert das kleine Mädchen dessen an geheimnisvollen Gegenständen reiches Zimmer und darf ausdrücklich alles berühren und erforschen, was sein Interesse findet.

Such dir aus, was dir am besten gefällt. Dann erzähle ich dir die Geschichte dazu.

Ihre kindlich-sichere Wahl fällt auf den unscheinbarsten, möglicherweise aber auch größten Schatz, den die eindrucksvolle Antiquitätensammlung ihres Urgroßbvaters beherbergt, nämlich eine mit dem zeitgenössischen Werbebild einer verführerisch in die spitze Mondsichel gelehnten exotischen Frau und dem authentischen Markennamen „La Luna“ bedruckte historische Zigarrenkiste mit deutlichen, jahrzehntelangen Gebrauchsspuren, welche – in unzählige unterschiedliche kleine bunte Streichholzschachteln verteilt – das außergewöhnliche gegenständliche Tagebuch ihres Urgroßvaters enthält.

Was ist das?“
Ein Olivenkern. Wenn ich ihn in die Hand nehme, bin ich auf der Stelle wieder in Italien. Da bin ich aufgewachsen. Es gibt viele Olivenbäume dort. Und das Leben war hart – das ist der andere Grund, warum ich ihn aufgehoben habe. Es gab keine Dielen als Fußboden in unserem Haus, nur festgestampften Lehm. Keine Schuhe. Und manchmal nicht einmal genug zu essen. Wenn ich meiner Mutter sagte, dass ich hungrig war, gab sie mir einen Olivenkern, damit ich daran lutschte. Das hat geholfen.“

Der greise Erzähler war als kleiner Junge mit seiner gesamten Familie, bestehend aus Vater, Mutter und drei älteren Schwestern nach einer fatalen Missernte in seiner süditalienischen Heimat, vermutlich während der Hochzeit der italienischen Auswanderung in die Neue Welt, zwischen 1876 und 1915 in die USA gekommen, wo er unter ärmlichsten Bedingungen als schwer mitarbeitender Sohn eines jahrelang von Stadt zu Stadt ziehenden Wanderarbeiters aufwuchs.



Schon immer hatte er den Sohn des Dorfpfarrers beneidet, der lesen und schreiben konnte und dessen Aufgabe es immer gewesen war, der Familie die regelmäßig eintreffenden Briefe des bereits nach Amerika vorausgereisten Vaters vorzulesen. Und dessen wunderschönes, in rotes Leder eingebundenes Tagebuch hatte auch in ihm den sehnlichen Wunsch entstehen lassen, ebenfalls einmal ein Tagebuch zu führen.

Was ist ein Tagebuch?“
Es ist etwas, das einem dabei hilft, sich an das zu erinnern, was man erlebt hat. Meistens ist es ein Büchlein, in das Leute schreiben. Als ich so alt war wie du, gab es vieles, das ich nicht vergessen wollte. Aber ich konnte nicht lesen und nicht schreiben. Deshalb habe ich hiermit angefangen.“

Später, als der Vater endlich eine feste Anstellung gefunden hatte, ermöglichte er es seinem wissbegierigen, talentierten Sohn als erstem Familienmitglied überhaupt, eine Schule zu besuchen und eine Ausbildung zum Schriftsetzer zu machen.

Das „Streichholzschachtel-Tagebuch“ funktioniert auf mehreren Ebenen: einerseits ist es eine originelle, poetisch-bewegende Geschichte über die Licht- und Schattenseiten des bis heute ungebrochenen amerikanischen Neueinwanderer-Mythos – die historische Redensart, in Amerika liege das Geld auf der Straße, wird gleich an verschiedenen Stellen augenzwinkernd beschworen. Doch die Geschichte des großen Amerikanischen Traums und dem damit verbundenen Schatten des Vergessens der eigenen Herkunft ist gerade heute, in einer Zeit zahlreicher durch militärische Krisen und Naturkatastrophen ausgelösten weltumspannenden Migrationsbewegungen, in besonderem Maße auch wieder eine aktuelle Geschichte, vielleicht die nachhaltigste des beginnenden Einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Damit aufs Engste verbunden ist der Prozess des mündlichen wie schriftlichen Erwerbs der neuen, fremden Sprache als Eintrittskarte zu den wunderbaren Möglichkeiten einer neuen konkreten geographischen und sprachlichen Heimat. Darunter verborgen allerdings liegt allumfassend der unschätzbare Wert des Erzählens als Erinnerungsträger und als Brückenbauer für die einzelnen Generationen. Dabei nimmt die konkrete Form der Schachteln mit ihrem Inhalt gleichzeitig eine persönlichkeitsformende, integrative Funktion ein, die ein wunderbares Muster für uns alle sein könnte: das Sammeln guter Erinnerungen und Erfahrungen als intuitiv wirksame Symbole, die uns über schlechte Zeiten hinwegzuhelfen vermögen.



Dies alles auf lediglich 32 Seiten zu erzählen, ist wahrhaftig eine große Kunst. Und das Thema gleichzeitig spielerisch-naiv und in all seiner Komplexität sowie mit einem derart großen, bildhaften Assoziationsreichtum wiederzugeben, ist ein kaum hoch genug zu lobendes Verdienst von Bagram Ibatoulline, dessen geradezu wissenschaftlicher Hang zur sorgfältigen Bildrecherche auch in diesem Band wunderbare Kontraste hervorzuzaubern vermag. Seine unverkennbare Bildsprache bewegt sich hier zwischen den beiden Gegensätzen von an historischen Bildquellen geschulten Schwarzweißzeichnungen, die im Betrachter unwillkürlich den Eindruck historischer Fotos hervorrufen, und schmerzhaft-realistischen Gegenwartsbildern, deren intensive Farbgebung dennoch eine Andeutung des Fiktiven schafft.

Paul Fleischman und Bagram Ibatoulline zeigen in ihrem ersten gemeinsamen Bilderbuch auf ebenso poetische wie konkrete und auch für Kinder zugängliche Art und Weise, dass unsere Seele nur dann neue fruchtbare Triebe zu entwickeln vermag, wenn wir unsere Wurzeln nicht vernachlässigen.

„Das Streichholzschachtel-Tagebuch“, aus dem Amerikanischen von Nicola T. Stuart, erschienen bei Jacoby Stuart, 32 Seiten, € 14,95

Dienstag, 6. August 2013

„Vermisst“ von Dror Mishani

Es geschieht nur ausgesprochen selten, dass man am Schluss eines Romans unwillkürlich wieder mit aller Macht auf das bereits Gelesene zurückgeworfen wird und sich plötzlich anhand früherer Textstellen zu überprüfen gezwungen sieht, wie und mit welchen Mitteln uns der nun, nach letzter Wendung, auf einmal umso versierter scheinende Autor an dieses überraschende, aufrüttelnde Ende geführt hat.

Der junge israelische Verlagslektor und Hochschulprofessor Dror Mishani (geboren 1975) darf nicht nur in literaturtheoretischer Hinsicht als Autorität auf dem Gebiet des Kriminalromans gelten, da er sich im Verlauf seiner akademischen Karriere auf dieses im literarischen Kanon oftmals unterschätzte Genre spezialisiert hat. Mit seinem ersten, international gefeierten und jetzt auch in deutscher Übersetzung vorliegenden außergewöhnlichen psychologischen Kammerspiel „Vermisst“ beweist er mit Nachdruck, dass er auch als praktizierender Krimi-Autor imstande ist, auf Grundlage seiner wissenschaftlichen Theorien und im Rahmen einer ebenso spannenden wie intellektuell anregenden Handlung glaubwürdige Charaktere sowie überzeugende soziale Milieus zu entwickeln, die sein literarisches Debüt zu einem ganz besonderen Leseerlebnis machen.



Eine wesentliche, auch in seinem Roman behandelte Theorie beschäftigt sich mit dem beinahe hundertjährigen Fehlen einer ausgeprägten Krimi-Tradition innerhalb der modernen Hebräischen Literatur: tatsächlich ist in der quantitativ wie qualitativ ausgesprochen reichhaltigen israelischen Literaturlandschaft seit der Staatsgründung im Jahr 1948 der Anteil an Kriminalliteratur stets vergleichsweise gering geblieben: der große internationale Erfolg der literarisch ambitionierten Batya Gur (1947-2005) muss zunächst als singuläres Ereignis betrachtet werden.

Erst in den letzten Jahren drängen verstärkt junge talentierte Schriftsteller wie Dror Mishani, dessen Debüt lediglich den Auftakt einer ganzen Reihe um seinen sympathischen Ermittler Avraham Avraham bilden soll, oder der praktizierende Anwalt Liad Shoham („Tag der Vergeltung“) mit neuen originellen Kriminalromanen auf den Markt, die in viel stärkerem Maße aus einer an israelische Verhältnisse angepassten internationalen Tradition heraus schreiben können. Die ursprünglichen zionistischen Motive israelischer Literaten der ersten drei Generationen sowie die eher von kollektiver Gewalt wie Krieg und Terror als von zivilen Kapitalverbrechen erschütterte gesellschaftliche Realität Israels habe eine ausgeprägte Kriminalliteratur zuvor nicht hervorbringen können, so der Autor im Interview.

Warum gibt es hierzulande keine Kriminalromane? Warum werden in Israel keine Bücher geschrieben wie beispielsweise die von Agatha Christie?“
Ich kenne mich mit Büchern nicht besonders aus.“
Dann werde ich es ihnen sagen. Weil solche Verbrechen hier nicht vorkommen. Es gibt bei uns keine Serienmörder, keine Entführungen und so gut wie keine Sexualstraftäter, die auf der Straße über Frauen herfallen. Wenn bei uns ein Verbrechen begangen wird, dann war es in der Regel der Nachbar oder der Onkel oder der Großvater, und es braucht keine komplizierte Ermittlung, um den Täter zu finden und das Geheimnis zu lüften.“

Sein unvergesslicher grüblerisch-aufrichtiger Protagonist mit dem absurden Doppelnamen Avraham Avraham teilt die Vorliebe seines Schöpfers für literarische und detektivische Theorien: nicht nur erläutert er diese immer wieder ausführlich im Verlaufe seiner Ermittlungen – es gehört außerdem zu seinen ungewöhnlichen Hobbys, bekannten Detektiven aus Weltliteratur, Film und Fernsehen ihre jeweiligen Ermittlungsfehler nachzuweisen. Sein kriminalistisches Gespür ist dem schüchternen Enddreißiger bereits in die Wiege gelegt worden: um auf die cholerischen Anfälle seiner Mutter vorbereitet zu sein hatte er schon im Verlauf seiner frühesten Kindheit eine besondere Sensibilität für frühzeitige Anzeichen für deren bevorstehende Stimmungsschwankungen entwickelt.

Andererseits pflegte sein Vater – in einer Abwandlung des bekannten Ich-sehe-was-was du-nicht-siehst-Spiels – seinem Sohn auf gemeinsamen Ausflügen ausgesprochen hintergründige detektivisch anmutende Fragen zu stellen:

Ich glaube, ich sehe eine Frau im blauen Mantel.“ Und der kleine Avraham Avraham, drei oder vier Jahre alt, suchte mit dem Blick aufgeregt die Straße ab, bis er sie gefunden hatte und auf sie zeigte. Das Spiel wurde raffinierter, je älter er wurde. Sein Vater sagte etwa: „Ich denke, ich sehe einen Mann, der zu spät zu einer Verabredung kommt.“ Avraham Avraham sah sich um, bis, bis er einen unrasierten Mann ausmachte, der bei Rot die Straße überquerte, und zeigte auf diesen. Sein Vater, der ihn an der Hand hielt, bestätigte: „Exakt.“ Und der kleine Avraham war glücklich.

Trotz dieser beinahe lebenslangen, einerseits spielerisch-leichten und dennoch im höchsten Maße ernsthaften Vorbereitung auf seine Arbeit bei der Polizei und einem auch fast ausschließlich darauf ausgerichteten, an sozialen Kontakten armem Privatleben endet der erfolgreiche Abschluss seines ersten von Dror Mishani aufgezeichneten Falles für Avi Avraham mit einer Enttäuschung: denn unter seinem hartnäckigen, allzu spät korrigierten anfänglichen Irrtum während der mehrere Wochen andauernden polizeilichen Fahndung nach einem ebenso plötzlich wie spurlos verschwundenen, charakterlich unauffälligen siebzehnjährigen Jugendlichen aus gutbürgerlicher Familie zerbricht nicht nur die zarte platonische Beziehung zu seiner langjährigen Vorgesetzten Ilana, die ihn einst gegen massiven Widerstand in ihr Team geholt hatte; er erwägt schließlich sogar, den Polizeidienst ganz zu quittieren.

Erst in der überraschenden, reizvoll-kontrastierenden Beschreibung einer unverhofften, kaum antizipierten privaten Idylle, während Avrahams anschließendem unbefristeten Urlaub, in dem er höchst erfreulichen, kaum für möglich gehaltenen Besuch von der jungen Brüsseler Verkehrspolizistin Marianka erhält, die er kurz zuvor im Rahmen eines polizeilichen Austauschprogrammes in der belgischen Metropole kennengelernt hatte, nimmt der offiziell bereits abgeschlossene Fall doch noch eine ungeahnte letzte Wendung.

Schon während seines kurzen Aufenthalts in Brüssel hatten sich die beiden unwahrscheinlichen Liebenden intensiv über das unerklärliche Verschwinden des siebzehnjährigen Ofer ausgetauscht, jetzt aber bringen Mariankas entschieden-weibliche Überlegungen Avi auf eine vollkommen neue Spur und werfen uns als Leser mit phänomenaler Wucht zurück auf den Anfang des Buches und auf Avrahams alles entscheidenden Irrtum. Denn der gewissenhafte Polizist ist nicht der einzige Protagonist des Buches mit ausufernden literarischen Theorien:

In all den Jahren bei der Polizei war Avraham noch nie einem Menschen wie Avni begegnet, der alles daransetzte, ins Visier einer polizeilichen Ermittlung zu geraten. Offenbar hatte Avni das zwanghafte Bedürfnis, etwas zu gestehen, aber Avraham war es nicht gelungen herauszufinden, was. Vielleicht wusste auch Avni selbst es nicht.

In der Tat vermag Mishanis wunderbarer Kriminalroman einen nicht geringen Teil seiner phänomenalen Spannung sowie seines ebenso intensiven wie hintergründigen psychologischen Schreckens gerade aus der zweiten, antagonistisch angelegten Perspektive von Seev Avni zu beziehen, des ehemaligen Englisch-Nachilfelehrers des verschwundenen Schülers, einem vom der Beliebigkeit seines Alltags enttäuschten und von seiner ungewollten Vaterrolle überforderten Möchtegern-Schriftsteller, der seit Jahren verzweifelt auf der Suche nach einem geeigneten Stoff für seinen noch zu schreibenden ersten Roman ist, und der wie Franz Kafka in seinem Brief an Oskar Pollack die Meinung vertritt, dass es die vorrangige Aufgabe der Literatur sei, den Leser zu verstören und aufzurütteln:

Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

In diesem umfassenden Sinne ist „Vermisst“ mit Sicherheit einer der direktesten, aufregendsten und intelligentesten Kriminalroman seit vielen Jahren. Besonders bemerkenswert dabei ist die höchst angenehme, jedoch genreuntypisch-überraschende Tatsache, dass es Dror Mishani in seinem fesselnden Debütroman fast ganz ohne jegliches Blutvergießen gelingt, eine so nachhaltig wirkende Spannung aufzubauen, dass man den unvergesslichen Charakteren sowie der eigentlichen Untat noch lange nachgrübelt und sich schon auf den angekündigten zweiten Avi-Avraham-Band freut, der mit großer Wahrscheinlichkeit bereits im nächsten Jahr erscheinen wird.

Vermisst“, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, erschienen bei Zsolnay, 351 Seiten, € 17,90