Jerusalem

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Freitag, 28. Dezember 2012

„Braune Erde“ von Daniel Höra


In 2011 veröffentlichten die beiden Journalisten Astrid Geisler und Christoph Schultheis unter dem vielsagenden Titel “Heile Welten“ ein glänzend recherchiertes Buch über die im Verborgenen stetig wachsende gefährliche Parallelwelt der neuen Rechten in Deutschland mit ihren zahlreichen, den gängigen Klischees vom brutalen Neonazi scheinbar widersprechenden Äußerungsformen, die unter dem Anstrich zur Schau gestellter angeblicher Seriosität mit nicht geringem Erfolg zunehmend dazu beitragen, rechtsradikale Ideen wieder in der Mitte der deutschen Gesellschaft zu verankern. Aus den Erkenntnissen dieses wichtigen Buches sowie des gleichnamigen fortlaufenden Blogs der beiden Autoren hat sich der gebürtige Hannoveraner Daniel Höra („Gedisst“, 2011) zu einem fesselnden Jugendroman inspirieren lassen, der auf unterhaltsame Weise nicht nur umfassend und beispielhaft aufklärt, sondern auch das Zeug dazu hat, in Zukunft zur dankbaren Pflichtlektüre in deutschen Klassenzimmern zu werden.



Der fünzehnjährige geistig aufgeweckte Ben wächst nach dem Tod beider Eltern bei der Familie seiner Tante in einem trostlosen kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern auf, das seit der politischen Wende von 1989 unter den üblichen strukturellen Problemen leidet: seit der Auflösung der LPG gibt es kaum noch Arbeitsplätze und wer außer den Alten und Kranken nicht abgewandert ist, steht ohne feste Arbeit da:

Wer brauchte auch schon Unmengen von Busfahrern? Ich hatte den Eindruck, dass jeder zweite hier bei uns zum Busfahrer ausgebildet worden war. „Bütenow – Das Dorf der Busfahrer“ Das hätten wir aufs Ortsschild schreiben sollen, vielleicht wären dann Touristen gekommen.

Stattdessen kehrt unverhofft schon bald neues Leben im baufälligen Herrenhaus ein: „Fremde! Eine Frau, zwei Männer und drei Jugendliche“ haben das Haus gekauft und beginnen mit großem Elan nicht nur die dringend notwendige Renovierung des Hauses, sondern auch die heimliche ideologische Übernahme der in Lethargie gefangenen Dorfbewohner, die sie mit scheinbar harmlosen Aktivitäten wie der „uneigennütigen“ Instandsetzung des seit der Wende brachliegenden Dorfgemeinschaftshauses, Volkstanz- und Bastelkursen, Grillabenden sowie einer aufwendigen Sonnenwendfeier zu neuer unverhoffter Tatkraft mobilisieren.

Aufgrund eines Zufalls fungiert Ben von Anfang an als eine Art Kontaktmann zwischen den Neuankömmlingen und der Dorgemeinschaft, die er für ihre Teilnahmslosigkeit und Passivität kritisiert. Obwohl er grundsätzlich ein feines soziales Gespür hat, versagt dieses angesichts der zupackenden, und scheinbar herzlichen Art von Uta, Reinhold und Hartmut sowie deren Kindern Freya, Konrad und Gunter, die martialische Kapuzenjacken mit dem Aufdruck „Sommer, Sonne, Widerstand – Wir wollen leben!“ tragen und schon bald gemeinsam mit Ben den ehemaligen Truppenübungsplatz regelmäßig zu Geländespielen und Schießübungen nutzen sowie das brachliegende Gelände mit Metalldetektoren systematisch nach Patronenhülsen und intakter Munition durchsuchen.

Auch Freya fühlt sich zu Ben hingezogen und nimmt ihn zum heimlichen Fummeln mit auf ihr Zimmer und spielt ihm Lieder des von ihr vergötterten völkischen Liedermachers Oswald Morgenthau vor. Und während Ben unbewusst immer tiefer in den Sumpf der mit scheinbarer elterlicher Fürsorge kaschierten rechtsradikalen Ideologie hineinrutscht und gegenüber seinen Mitschülern und Verwandten immer wieder zahlreiche ebenso unwahrscheinliche wie unglaubwürdige Gründe erfinden muss, um die immer deutlicher zutage tretende menschenverachtende Weltanschauung der auf Naturheilkunde und Biokost schwörenden Neuankömmlinge zu „entschuldigen“, werden jene augrund ihres Erfolgs bei der Dorfbevölkerung und einer fehlenden Opposition immer mutiger und frecher – eine Bürgerwehr wird unter lautem Beifall gegründet und bald schon steht ein neues Schild an der Ortseinfahrt, das zwar nicht jeder im Dorf gutheisst, aber gegen das auch niemand etwas unternimmt:

Braunau 856 km, Paris 1406 km, Stalingrad 2643 km.

Als sich Ben allmählich bewusst zu werden beginnt, in welch gefährliche Gesellschaft er sich begeben hat – gefährlich für andere, aber auch gefährlich für ihn selbst – ist es schon fast zu spät und die Situation eskaliert auf tödliche Art und Weise.

Daniel Höra bedient sich für seinen hoch spannenden Jugendkrimi, der ohne Zweifel auch Erwachsene begeistern wird, eines legitimen kleinen Kunstgriffs: um dem Leser möglichst viele Aspekte aktueller rechtsradikaler Strategien vor Augen zu führen, lässt er seinen sympathischen Protagonisten die Phase des arglosen Mitläufertums und der freundschaftlichen Schönfärberei länger durchlaufen als angesichts der schon zu Beginn der Handlung sich nach und nach ergebenden Indizien bei einem intellektuell halbwegs normal veranlagten Jugendlichen unter normalen Umständen realistisch und logisch wäre. Doch gerade der Zwiespalt zwischen scheinbar positiven Anstößen für die Dorfgemeinschaft und der dahinter verborgenen brutalen und menschenverachtenden Ideologie ist in Daniel Höras Buch hervorragend eingefangen. Ach auf diese Weise wird klar: auch heute benötigen wir klare Sinne und ungetrübte Urteilskraft, um extremen Positionen wirkungsvoll zu begegnen.

„Braune Erde“, erschienen bei Bloomsbury, 303 Seiten, € 8,99

Dienstag, 18. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 7 – John Burnside


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„In hellen Sommernächten“ von John Burnside

Die seit einigen Jahren mit vorbildlicher verlegerischer Leidenschaft betriebene Erschließung des für sein virtuoses Werk in seiner sprachlichen Heimat vielfach ausgezeichneten schottischen Dichters John Burnside (geboren 1955) für den deutschsprachigen Leser ist nur ein eher prosaisches Anzeichen für die herausragende literarische Bedeutung dieses in Ton, Thematik sowie philosophischer Weltdurchdringung gleichermaßen unverwechselbaren urtümlichen Poeten, dessen Bücher sich durch eine selten gewordene direkte und intuitive Zugänglichkeit auszeichnen, welche sich auch bei oberflächlichster Lektüre jedem Leser sofort und unmittelbar erschließen dürfte:

                                   Wie ich wachst du manchmal
früh im Dunkeln auf
und glaubst du bist durch eine innere Landschaft
meilenweit gefahren...

Dabei ist es keineswegs selbstverständlich, dass es einem Lyriker von so hohem internationalen Rang wie Burnside auch in seinen Romanen scheinbar mühelos gelingt, seine poetische Weltsicht, seine vielschichtige, wandlungsfähige Sprache und seine typische Metaphorik auf die Bedingungen dieses anderen Genres zu übertragen. Erstaunlich nur, dass erst 2011 ein erster Auswahlband seiner Lyrik unter dem Titel „Versuch über das Licht“ in deutscher Übersetzung erscheinen konnte, nachdem zuvor bereits unter großem öffentlichen Interesse zwei seiner Romane sowie seine erschütternden, von der Literaturkritik gefeierten Erinnerungen „Lügen über meinen Vater“ ins Deutsche übertragen worden waren.

John Burnsides schwebend leichter, die dunklen Grenzbereiche zwischen Realität, Traum und Wahnsinn auslotender neuer Roman „In hellen Sommernächten“ führt uns in den nächtelosen arktischen Sommer einer kleinen abgeschiedenen Insel im äußersten Norden Norwegens und variiert in der darin zeitgemäß ausgestalteten Legende von der überirdisch schönen, Verderben bringenden Waldfee Huldra gekonnt ein Loreley-Thema aus dem norwegischen Sagenkreis. Die Abiturientin Liv lebt zusammen mit ihrer Mutter, einer international anerkannten bildenden Künstlerin, in der Abgeschiedenheit der nordnorwegischen Wildnis; als selbst gewählter, unwahrscheinlicher Vaterersatz fungiert der kauzige Nachbar Kyrre, ein unermüdlicher Bastler und Sammler von Elektroschrott, der das verträumte Mädchen oft stundenlang mit sagenhaften Geschichten aus der Gegend unterhält.



Als zu Beginn des arktischen Sommers innerhalb nur weniger Tage zwei ihrer Klassenkameraden auf mysteriöse Art und Weise ohne Anzeichen von Gewalteinwirkung ertrunken aufgefunden werden, stellt Kyrre die wirre Theorie auf, die Huldra habe die beiden jungen Männer in den Tod gelockt – ein abwegig irrationaler Gedanke, gegen den sich Liv intuitiv mit aller Kraft wehrt, obwohl auch sie insgeheim argwöhnt, die gleichaltrige, sexuell freizügige Maia könne etwas mit den unerklärlichen Todesfällen zu tun haben, da sie diese nur wenige Stunden zuvor noch gemeinsam mit den beiden Brüdern gesehen hatte.

Weitere unvorhergesehene Ereignisse bringen die Seele des sensiblen Mädchens in Aufruhr: in einem dringlichen Schreiben wird sie von der Lebensgefährtin ihres von der Mutter verschwiegenen Vaters, nach England zu kommen, da jener im Sterben liege. Und ein undurchschaubarer, schwermütiger Langzeit-Tourist nistet sich in Kyrres Ferienhaus ein, der sich zwar zunächst mit ihr selbst anfreundet, den sie aber schon bald darauf in allzu vertrauter Art und Weise immer wieder mit Maia am Strand beobachtet. Während sich in Livs von der „weißen“ Schlaflosigkeit ewig heller Sommernächte beflügelten Fantasie dunkle Ahnungen unvermeidlich scheinender herandrohender Tragödien zusammenbrauen und sie sich zunehmend verfolgt und beobachtet fühlt, weiß der Leser immer weniger, ob er den Sinneseindrücken der mit der urwüchsigen Kraft einer vollendeten Poetin ausgestatteten Erzählerin noch trauen kann. Wenn der Regisseur und profilierte Spezialist für „Risse im Gewebe der Welt“ David Lynch Romane schreiben würde, müssten diese in etwa so ausfallen wie John Burnsides grandioser Roman „In hellen Sommernächten“.

„In hellen Sommernächten“, aus dem Englischen von Bernhard Robben, erschienen bei Knaus, 381 Seiten, € 19,99

Mittwoch, 12. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 6 – Lisa-Maria Seydlitz


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„Sommertöchter“ von Lisa-Maria Seydlitz

Unter den wenigen Büchern des Jahres 2012, die mit Sicherheit in Erinnerung bleiben werden, darf eines zweifellos als das schönste gelten: Das bezauberndste literarische Debüt einer jungen deutschen Autorin seit langem stammt aus der Feder der erst sechsundzwanzigjährigen Absolventin des Hildesheimer Studiengangs Kreatives Schreiben, Lisa-Maria Seydlitz, geboren und aufgewachsen in Mannheim.

Als die langjährige Mitherausgeberin der ambitionierten jungen Literaturzeitschrift BELLA triste im Jahr 2008 als Stipendiatin am renommierten, jedoch vom Fachpublikum auch gerne als „Häschenkurs“ belächelten Klagenfurter Literaturkurs teilnehmen durfte, lernte sie dort den Lektor des Kölner DuMont-Verlages kennen, der sie schließlich zur drei Jahre währenden intensiven Arbeit an ihrem großartigen, im Februar erschienenen ersten Roman „Sommertöchter“ motivieren konnte. Zwar bekannte die begabte Autorin anlässlich der Veröffentlichung in einem Interview augenzwinkernd, sie fühle sich nunmehr „leergeschrieben“, dennoch hat sich ihre kreative Anstrengung vor allem aus Sicht des Lesers sehr ausgezahlt.

„Sommertöchter“ ist ein wunderbares, absolut berührendes, ebenso tieftrauriges wie herzensfröhliches, unbekümmertes und sommerlich leichtes Buch über die Suche einer jungen Frau nach dem verlorenen Glück ihrer unbeschwerten Kindheit und die Reise zu sich selbst. „Man erinnert sich nicht über Fotos oder Filmaufnahmen“, sagt eine Nebenfigur des Buches zu Juno, der zwanzigjährigen innerlich vereinsamten Protagonistin, die seit dem plötzlichen Tod ihres geliebten Vaters vor acht Jahren, der eigentlich ein sich seit langem andeutendes, langsames Verschwinden war, von einer tiefen Traurigkeit erfüllt ist und die nicht begreifen kann, warum die scheinbar unbeschwerte Idylle ihrer Kindheit im Grünen so plötzlich enden musste. 



Auch ihre Mutter erinnert sich nicht über Fotos – alle Aufnahmen, auf denen Junos Vater zu sehen war, hat sie ohne Ausnahme entsorgt, das gemeinsame Haus vor den Toren der Stadt noch am Todestag ihres Mannes zugunsten einer funktionalen Stadtwohnung aufgegeben. Aus der neuen Liebesbeziehung ihrer Mutter fühlt Juno sich ausgeschlossen, besonders nach der Geburt ihrer Halbschwester. Eines Tages jedoch erhält sie einen anonymen Brief aus Frankreich mit einem Foto von einem Fischerhaus in der Bretagne und den Worten:

„Liebe Juno, das Haus steht schon so lange leer. [...] Ob ich das Haus verkaufen wolle oder renovieren und an Touristen vermieten, lese ich, die Schrift sieht unsicher aus, als wüssten die Buchstaben und Wörter nicht, ob sie wirklich zusammengehören.“

Da ihre Mutter nicht bereit ist, mit ihr über den Inhalt des Briefes zu reden, obwohl sie offensichtlich maßgeblich zur Aufklärung beitragen könnte und sogar den Schlüssel des Hauses besitzt, macht sich Juno kurz entschlossen auf in die Bretagne, wo sie allerdings feststellen muss, dass bereits eine andere, etwa gleichaltrige junge Frau, die französische Kellnerin Julie, in dem Haus wohnt. Während sie mit Julie, dem gemeinsamen Nachbarn auf Zeit, einem deutschen Architekten, sowie der Restaurantbesitzerin Camille einen unbeschwerten Sommer verlebt, erinnert sie sich immer wieder auch an intensive Episoden aus ihrer Kindheit, an Tage im Freibad oder im Wildgehege mit ihrem Vater, seine für sie und ihre Mutter zunehmend angstbesetzte Abwesenheit während der langen Klinikaufenthalte und schließlich die Leere nach seinem Tod, der durch den radikalen Bruch der Mutter mit ihrem bisherigen Leben für die Zwölfjährige noch unverständlicher bleibt.

In der Konfrontation mit der Vergangenheit und den Erlebnissen mit Julie findet Juno schließlich einen hoffnungsvollen Ansatz, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien, ohne sie loslassen zu müssen. „Sommertöchter“ ist ein ganz großes, innerlich erfrischendes Stück Literatur, das zuweilen an die traurig-schönen Romane von Olivier Adam erinnert – man kann nur hoffen, dass die Autorin – entgegen ihrer Äußerung im Interview – noch lange nicht leergeschrieben ist.

„Sommertöchter“, erschienen bei DuMont, 208 Seiten, € 18,99

Montag, 10. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 5 - Patrick Roth


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.

„SUNRISE – Das Buch Joseph“ von Patrick Roth

Es gibt wohl keinen anderen lebenden Schriftsteller, dem es auf so genial-beeindruckende, mitunter gar im allerpositivsten Sinne überwältigende Art und Weise immer wieder scheinbar ganz mühelos gelingt, biblische Urlandschaften und Motive in der Fantasie des Lesers auferstehen zu lassen wie dem 1953 in Freiburg geborenen Patrick Roth in seinem aktuellen für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2012 nominierten Roman „Sunrise – Das Buch Joseph“ oder der diesem sprachmächtigen Hauptwerk furios den Weg bereitenden Riverside-Trilogie aus den 1990er Jahren.

Dabei würde der in seinem singulären Schreiben ebenso maßgeblich vom klassischen amerikanischen Film wie von der Philosophie Carl Gustav Jungs beeinflusste Schrifststeller sowohl dem Eindruck des scheinbar Mühelosen widersprechen wie auch der vorschnellen Diagnose, er beschreibe in seinen Büchern reale Landschaften der Bibel, wie wir sie heute noch in Israel/Palästina oder Jordanien vorfinden können: Denn die Landschaften, aus denen Patrick Roth so bravourös schöpft, liegen für gewöhnlich verborgen im kollektiven oder persönlichen Unbewussten der menschlichen Psyche und werden von Autor in einer für den Laien kaum zu ermessenden Anstrengung ans Licht gezogen, deren Handwerkszeug er ausführlich in seinen beiden bei Suhrkamp erschienenen Poetik-Vorlesungen beschreibt.

Sein opus magnum „SUNRISE“ ist die bislang ungeschriebene Geschichte eines der auch in der irritierenden Oberflächlichkeit seiner apostolischen Darstellung auffälligsten und damit im heimlich Verborgenen bedeutendsten männlichen Nebencharaktere des Neuen Testaments, der erstaunlicherweise in der christlichen Überlieferung kaum Erwähnung findet, obwohl er doch wie selbstverständlich das Kind aller Kinder als sein eigenes annahm, jenes Kind, ohne das das Christentum nicht wäre, obwohl die wahre Vaterschaft dieses Kindes heute wie zu biblischen Zeiten mehr als zweifelhaft erscheinen muss und auch die Geschichte der Mutter vor dem gewöhnlichen Hintergrund einer rationalen Weltsicht kaum bestehen kann.

Ich kenne einen Menschen, dessentwegen Himmel und Erde geworden sind, [...] der einst Herr eures Herrn war.“



Patrick Roth macht Joseph, den Jesus- und Gottesvater, ohne wenn und aber zum langmütigen Helden seines aufsehenerregenden sprachmächtigen Romans und folgt ihm, als einem zweiten „herrlichen Dulder“, bis in tiefste Tiefen von Vision, Vorsehung und Schicksal, bis ins mythische Dunkel der hebräischen Vorväter der biblischen Überlieferung, deren Abstammungslinie bis zum legendären ersten Menschen Adam hinabreicht. Der altsprachlich ausgebildete Autor beschreibt Joseph dabei als einen im modernsten Sinne visionären Menschen, der seinen Träumen und Gott in einem Maße vertraut, wie es gleichsam nur einem Menschen der Bibel anzustehen scheint. Eine in der jüdisch-osteuropäischen mystizistischen Bewegung des Chassidismus populäre und durch zahlreiche Vertonungen bis heute bekannte spirituelle Anrufung lautet:

Warum stürzt die Seele
aus erhabensten Höhen hinab
in den tiefsten Abgrund? -
Absturz und Aufstieg schaffen
und bedingen einander.

Diese erschütternde Erkenntnis scheint Patrick Roth wie in einem ebenso versierten und in jeder erdenklichen Hinsicht fundierten wie traum- und lebensgesättigten literarischen Kommentar bildmächtig auszuführen. Als sich sein Protagonist Joseph dem undenkbaren Gottesbefehl verweigert, jenes eine, größte und für einen liebenden Vater gänzlich unzumutbare Opfer erneut zu vollbringen, dem sich Abraham einst beugte, ohne es letztlich ausführen zu müssen, wird er in eine fesselnde Geschichte von Schuld und Verstrickung hineingezogen, der man sich als Leser nicht entziehen kann und an deren sämtliche Handlungstränge auf wunderbare Weise miteinander versöhnenden Ende man mit einer der beglückendsten und tröstlichsten Schlussszenen entschädigt wird, die die Literatur je hervorgebracht hat.

Einen absolut empfehlenswerten Einstieg in Patrick Roths faszinierendes Werk bietet die Komplettlesung des als glänzender Vorleser bekannten Autors, die seit heute im Rahmen der Sendereihe „Fortsezung folgt“ täglich bis zum 29. Januar in 33 Folgen auf SWR-2 ausgestrahlt wird.

"SUNRISE - Das Buch Joseph", erschienen bei Wallstein, 509 Seiten, € 24,90

Mittwoch, 5. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 4 – Julie Otsuka


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„Wovon wir träumten“ von Julie Otsuka

Das ist Amerika, sagten wir uns, wir müssen uns keine Sorgen machen. Und wir irrten uns.“ So lakonisch beginnt in Julie Otsakas großartigem kleinen, poetischen Roman „Wovon wir träumten“ über japanische Immigrantinnen in den USA, der Anfang des Jahres zu Recht mit dem renommierten PEN/Faulkner Award ausgezeichnet wurde, für zahlreiche japanische Frauen zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts der Eintritt in ein neues, vermeintlich besseres Leben.

Wenn du hier im Dorf bleibst, hatten sie uns gewarnt, wirst du niemals heiraten.“ Denn während es seit dem im Jahr 1882 in Kraft getretenen sogenannten „Chinese Exclusion Act“ zunächst bedeutende, von der amerikanischen Industrie geförderte japanische Einwanderungswellen in die USA gab, um den vom Staat verordneten Ausfall chinesischer Arbeiter zu kompensieren, durften ab 1907 lediglich noch die Ehefrauen von zu diesem Zeitpunkt bereits in den USA ansässigen japanischen Einwanderern einreisen, worin clevere Heiratsvermittler beiderseits des Pazifiks ein einträgliches Geschäft witterten, während viele junge unverheiratete Frauen gerne die Chance ergriffen, den bitteren Lebensbedingungen in ihrer Heimat zu entkommen.



Julie Otsuka, 1962 geboren, in Kalifornien aufgewachsen und selbst Kind japanischer Einwanderer, bedient sich in ihrem Roman eines sehr einfachen, aber höchst wirkungsvollen, den Leser nachhaltig beeindruckenden Stilmittels, um die kollektive Erfahrung einer ganzen Generation von Einwanderinnen zu beschreiben, indem sie von der ersten Seite an mit unfehlbarer Konsequenz in der ersten Person Plural erzählt. Dabei schafft sie es scheinbar mühelos, dieses große „Wir“ trotz aller von ihr beschriebenen individuellen Unterschiede bis in die Gegenwart reichen zu lassen und uns als scheinbar Unbeteiligten die alles andere als selbstverständliche Erkenntnis heischende Geste abzuringen, dass wir uns nur allzu gerne und ohne jeden Vorbehalt ganz mit ihren Protagonistinnen und ihren universellen Erfahrungen identifizieren, die auch wir aus unserem Leben wiederzuerkennen meinen.

Denn die unschuldig-aufregenden Träume, Ängste und Hoffnungen, die die jungen Mädchen noch auf der Überfahrt wägen, während sich für manche von ihnen bereits abzeichnet, dass sich das Leben als viel reicher, aber auch viel bitterer erweisen könnte als man es ihnen beigebracht hat, werden sich nahezu ohne Ausnahme nicht erfüllen. Die Männer, die sie in Kalifornien erwarten, sind keine Fabrikbesitzer, Rechtsanwälte und Ärzte, sondern Feldarbeiter, Tellerwäscher und Hilfskräfte jeder Art, die sie gleich in der ersten verspäteten „Hochzeitsnacht“ auf so vielerlei verschiedene Art „nehmen“, dass Julie Otsuka für die Beschreibung dessen ein ganzes kunstvolles Kapitel von nicht weniger als vier Seiten einfügt.

Ihr Leben wird sich als hart und desillusionierend erweisen, aber gerade als sich manche von ihnen dennoch nach Jahrzehnten endlich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet haben, schlägt die Weltgeschichte zu und Nazi-Deutschlands Verbündeter Japan bombardiert Pearl Harbor, was die USA zur Deportation von geschätzten 120.000 japanischen Immigranten führt. Gerade auch diese Ereignisse beschreibt die Autorin auf überaus eindringliche, noch lange im Gedächtnis des Lesers nachwirkende Art und Weise, wodurch unwillkürlich Parallelen zur Judendeportation in Mitteleuropa durchscheinen, was sich im letzten Kapitel noch verstärkt, denn hier verlässt Julie Otsuka schließlich die Sicht ihrer Protagonistinnen, nicht aber das kollektive „Wir“ – denn hier erzählen nun die zurückgebliebenen weißen Amerikaner von jenem schrecklichen unleugbaren Loch, das die Deportierten in ihrem Bewusstsein und in ihrem Leben zurückgelassen haben. „Wovon wir träumten“ ist ein großartiger inspirierender Roman, der Geschichte als Vorbedingung und universellen Teil der Gegenwart auf geradezu vorbildliche Art und Weise erfahrbar macht.

„Wovon wir träumten“, aus dem Amerikanischen von Katja Scholtz, erschienen bei mare, 159 Seiten, € 18,-

Montag, 3. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 3 – Nikos Kavvadias


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„Die Schiffswache“ von Nikos Kavvadias

„Erwachsene weinen nicht. Trotzdem ist da ein Knoten, der aufsteigt, oder eine Schlinge, die einen würgt. Genau das ist es, was Menschen an Land dazu treibt, Bücher zu schreiben, und Seeleute schnitzen Segelschiffe, takeln sie auf und stecken sie in Flaschen, oder sie lassen sich ihren Körper tätowieren. Wenn die Bücher gut, die Segelschiffe sauber gearbeitet und die Tätowierungen schön bunt sind, dann...“

Ja, dann tragen sie die ganze Welt in sich, spiegeln das menschliche Leben und Streben in all seinen Facetten, unterstützen uns darin, Sinn in unserem Sein zu erkennen und ein ums andere Mal auch unser ebenso notwendiges wie unvermeidliches Scheitern anzuerkennen und in ein tieferes melancholisch-vorurteilsfreies Begreifen zu verwandeln, das uns innerlich so sehr zu stärken vermöchte, dass wir meinen, jeden möglicherweise noch auf uns zukommenden Schmerz ertragen zu können.

Es ist ein höchst merkwürdiges Phänomen, dass manche der wichtigsten, prägendsten und tiefste Wahrheiten aussprechenden Werke der Literatur schon bald, nachdem sie erstmals erklungen sind, wieder in der Versenkung verschwinden, noch bevor sie ihr verdientes Publikum gewonnen haben, so als wäre die Zeit für universelle Wahrheiten noch nicht reif oder als wollten diese Wahrheiten nicht gehört werden. Damit der einzige Roman des in seiner Heimat Griechenland bis heute verehrten und von vielen seiner Landsleute auswendig zitierbaren Lyrikers Nikos Kavvadias (1910-1975) im Jahr 2001 überhaupt erstmals in deutscher Sprache erscheinen konnte – fünfundzwanzig Jahre nach dessen Tod an Land, was den leidenschaftlichen Seemann, der beinahe sein ganzes Leben als Funker auf verschiedenen Überseeschiffen verbracht hat, sehr geschmerzt haben muss – war die erste und wichtigste Aufgabe der Herausgeber die lückenlose Klärung der sich als völlig unübersichtlich darstellenden Autorenrechte. 



Und obwohl der zunächst unter dem Titel „Die Wache“ erscheinende Roman von der Kritik ausnahmslos gefeiert wurde, waren die Verkäufe offenbar so mäßig, dass die auf dem heutigen Buchmarkt naturgemäß der Originalausgabe in absehbarer Zeit immer folgende und somit unvermeidlich scheinende Taschenbuchausgabe nie realisiert wurde. Umso schöner und verdienstvoller, dass der kleine Schweizer Unionsverlag sich nun die Taschenbuchrechte dieses kleinen Meisterwerkes für seine erfolgreiche Reihe „Meeresromane“ gesichert hat und somit dem vielleicht ehrlichsten, bewegendsten und wahrhaftigsten Seefahrerroman aller Zeiten eine neue Chance bietet, mit seinem unermesslichen Potenzial als Generationen-Lieblingsbuch auch hierzulande endlich sein verdientes, begeistertes Publikum zu finden.

Ende der 1940er Jahre durchpflügt ein altes griechisches Frachtschiff das südchinesische Meer, an Bord Waffen für die nach der Macht strebenden chinesischen Kommunisten. Während der Wache an Deck unterhalten sich die griechischen Matrosen über ihr Leben, ihre Träume, ihre Taten und Untaten. Nikos Kavvadias’ Buch ist eine große wunderbare Elegie in der Sprache eines vollendeten Poeten über das harte Leben auf See, Einsamkeit und Entbehrungen, Geheimnisse und Verbrechen – und nicht zuletzt über die unerfüllte Liebe zu schönen Frauen: Ehefrauen, Geliebten, Müttern, Schwestern und Huren. Als „Die Schiffswache“ erstmals in französischer Sprache erschien, riet ein begeisterter Kritiker den Lesern seiner Zeitung: „Das Buch lässt nicht los. Keinen einzigen Moment, das garantiere ich. Eine Seltenheit. Auf einmal zu verschlingen. Und in mehreren Exemplaren zu kaufen. Für Ihre Freunde.“ Dem ist nichts hinzuzufügen – „Die Schiffswache“ ist ein Meisterwerk der Weltliteratur, dem man gar nicht genug Leser wünschen kann.

„Die Schiffswache“, aus dem Griechischen von Maria Petersen, erschienen im Unionsverlag, 275 Seiten, € 12,95

Donnerstag, 29. November 2012

Chanukka-Geld, Teil 2 – Elisabeth Tova Bailey


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ von Elisabeth Tova Bailey

Das stille, unverhoffte und bescheidene Glück, das die von schwerer Krankheit monatelang an ihr Bett gefesselte Schriftstellerin und Wissenschaftsjournalistin Elisabeth Tova Bailey beim täglichen Beobachten der faszinierenden Lebensgewohnheiten einer in ihrem Veilchentopf hausenden Schnecke empfindet, überträgt sich bei der Lektüre ihres entzückenden kleinen Buches „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ direkt auf den einträchtig mit der Autorin staunenden, dankbaren Leser.

Nach einem Europa-Aufenthalt erkrankte die amerikanische Biologin vor mehr als zwanzig Jahren schwerwiegend an den Folgen einer FSME-Infektion, die aufgrund fehlender Erfahrung der amerikanischen Ärzte mit diesem bis dahin rein europäischen Krankheitsbild nicht korrekt diagnostiziert wurde und so bei der Autorin lebensbedrohliche Lähmungserscheinungen und schwerwiegende Störungen im körpereigenen Stoffwechselhaushalt bewirkte. Vollkommen auf häusliche Pflege angewiesen, bekam die für ihre Essays und Kurzgeschichten vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin von einer engen Freundin ein im nahe gelegenen Wald ausgegrabenes Ackerveilchen im Blumentopf geschenkt – samt einer kleinen im Schatten von dessen Blättern sich versteckender Schnecke.



Es gibt zahlreiche Bücher, die uns am Beispiel einer schweren Krankheit oder gar in der unmittelbaren Konfrontation mit dem Tod eindringlich vermitteln wollen, wie wertvoll und beglückend ein mit allen Sinnen bewusst gestaltetes Leben sein kann; die meisten dieser Bücher sind mehr oder weniger plumpe pseudo-spirituelle Gebrauchsliteratur, denen man die offensichtliche Intention des Autors jederzeit anmerkt und die man nur dann gerne liest, wenn man sich einen kurzfristigen Trost davon verspricht. Elisabeth Tova Bailey gelingt jedoch in ihrer hoch konzentrierten literarischen Beschreibung ihrer langsam, doch stetig zunehmenden Faszination für ihr ungewöhnliches kleines Haustier eine hoch poetische fundamentale Entschleunigung, die uns auf moderate, aber unverkennbare Art den ganzen Reichtum des Lebens vor Augen führt, der selbst in einem kleinen unscheinbaren Schneckenhaus verborgen sein kann:

 „Der Mensch ist herausgehoben, nicht weil wir so hoch über anderen Lebewesen stünden, sondern weil deren gründliche Kenntnis einen höheren Begriff von Leben schafft.“

Die kleine Schnecke hat Baileys langsamen Heilungsprozess mehr aktiv geprägt als nur begleitet, von ersten zufälligen Beobachtungen, der Erkenntnis, dass das possierliche Haustier nachts seinen Blumentopf verlässt, um quadratische Löcher in Briefumschläge von Genesungskarten zu fressen, tagsüber in einer selbst gegrabenen kleinen Mulde im Schatten des Veilchens schläft, handelsübliche Blumenerde ablehnt und winzige Zuchtchampignonscheiben als absolute Delikatesse betrachtet, von der sie sich eine ganze Woche zu ernähren vermag.

Die Autorin verschafft ihrer Mitbewohnerin schließlich nicht nur eine komfortablere Behausung in Form eines mit diversen Moosen, Ästen und Waldblumen ausgestatteten Terrariums, sondern schließlich sogar einen passenden Sexualpartner, was der Biologin die unverhoffte Möglichkeit eröffnet, die sonderbaren Paarungsrituale dieser unscheinbaren, aber hoch spezialisierten Gattung zu studieren und selbst das Heranwachsen von Nachwuchs mitzuerleben. Am Ende ihres wunderbaren Buches nimmt sich die immer noch stark von ihrer unheilbaren Krankheit beeinträchtigte Autorin vor:

„Ein Blick in den Sternenhimmel und dann ins Bett. Es gibt viel zu tun, so schnell oder langsam, wie es mir eben möglich ist. Ich muss die Schnecke in Erinnerung behalten. Immer die Schnecke in Erinnerung behalten.“

 „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“, aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum, erschienen bei Nagel & Kimche, 171 Seiten, € 16,90

Dienstag, 27. November 2012

Chanukka-Geld, Teil 1 – Jon Vaillant



Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.

"Am Ende der Wildnis" von John Vaillant

 Es war nicht das erste Mal, dass der eigenbrötlerische kanadische Forstingenieur und kernige Naturbursche Grant Hadwin über Wochen spurlos in der Wildnis verschwand. Beim ersten Mal, im Frühling 1993, hatte er in der Einöde Alaskas im psychischen Ausnahmezustand ein spirituelles Erweckungserlebnis gehabt, das ihn mit einem ebenso umfassenden wie radikalen selbst verfassten politischen Manifest zurückkehren ließ, in dem er zahlreiche allgemein unleugbare bittere Wahrheiten über das Verhältnis des Menschen zur Natur darlegte, das aber in dieser irritierend-weltentrückten Form auch im Nachlass jedes nationalistischen Terroristen und Selbstmordattentäters nicht weiter überraschen würde:

Ich frage dich: Wenn du die Macht besäßest, alles zu erschaffen, einschließlich des Lebens, und wenn du alles, was du erschaffen hast, perfekt aufeinander abstimmen könntest, was würdest du dann tun, wenn eine Lebensform ganz offensichtlich alles Leben missbraucht, einschließlich des eigenen?
Wenn die ursprüngliche 'Absicht' deiner Schöpfung ganz offensichtlich ins Gegenteil verkehrt würde, von 'Respekt' in Hass, von Mitgefühl in Unterdrückung, von Großzügigkeit in Habgier und von Würde in Schändung, was würdest du tun?

Wie würdest du den Menschen klarmachen, dass materielle Versuchungen, Sozialstatus und Bildungsstätten dazu benutzt werden, den Status quo zu erhalten und fortzuschreiben, und zwar unter verschwindend geringer echter Rücksichtnahme auf die Zukunft des Lebens auf unserer Erde?

Wie würdest du als der „SCHÖPFER DES LEBENS“ deine Verachtung und deinen Widerwillen gegenüber solchen Institutionen und Individuen zeigen, deren Aufgabe es eigentlich sein sollte, Leben zu schützen, die aber offenbar stattdessen etwas ganz anderes tun?“



Beim zweiten Mal war er vom hoffnungslos fehlgeleiteten Wunsch getrieben, ein für die ganze Menschheit nicht zu übersehendes Zeichen gegen die Vernichtung der letzten Urwälder der Erde zu setzen – in einer stürmischen Winternacht im Januar 1997 machte er sich mit seiner Motorsäge auf, um die in ganz Kanada berühmte „Goldene Fichte“, den jahrhundertealten, durch Spontanmutation tatsächlich mit einem goldenen Nadelkleid ausgestatteten heiligen Baum des indigenen Volks der Haida in British Columbia anzusägen, so dass sie unweigerlich innerhalb der nächsten Tage im Sturm fallen musste.

Diese selbst wohlmeinendsten Umweltschützern schwer zu vermittelnde Untat, machte ihn nicht nur zum meistgehassten Mann Kanadas, sondern auch zum meistgesuchten: Sogar öffentliche Mordaufrufe gab es, die Grant Hadwin schließlich dazu bewogen, sich der Polizei zu stellen.

Sein drittes Verschwinden hält bis heute an und wird sich vermutlich als endgültig erweisen: Am 13. Februar 1997 stach Grant Hadwin mit seinem Kajak in See, um ordnungsgemäß zu seiner Gerichtsverhandlung in Masset zu erscheinen. Dort jedoch tauchte er niemals auf; das Wrack seines Kajaks wurde im Sommer desselben Jahres fast 120 Kilometer weitab zufällig von einem Hubschrauberpiloten in der Wildnis gefunden. Da Hadwin selbst bei den einheimischen Indianern auf geradezu mythische Weise als Experte für spurloses Verschwinden galt, gab es nicht wenige, die argwöhnten, er habe seinen Tod nur vorgetäuscht, um unerkannt in den unbewohnten Wäldern zu leben.

„Wie Billy the Kid oder Scarlet Pimpernel schien er die Fähigkeit zu besitzen, jederzeit und überall auftauchen zu können.“

Wer die Bücher von Jon Krakauer liebt, wird John Vaillant verehren: Selten hat man in den letzten Jahren das ungetrübte literarische Vergnügen gehabt, derart kunstvolle und gleichzeitig mitreißende Landschaftsbeschreibungen lesen zu dürfen. Wie in seinem späteren, jedoch in deutscher Sprache früher erschienenen Bestseller „Der Tiger“ über den spektakulären tödlichen Rachefeldzugs eines sibirischen Tigers am in seinen Lebensraum eingedrungenen Menschen nähert sich John Vaillant dem Protagonisten seines „neuen“ ersten Buches sowie dessen vielschichtigen Beweggründen von allen erdenklichen Seiten und schafft so eine fesselnde Charakterstudie eines im Guten wie im Bösen gleichermaßen von seinen Überzeugungen Getriebenen.

„Am Ende der Wildnis“, aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner, erschienen bei Blessing, 367 Seiten, € 19,95

Freitag, 23. November 2012

„Israel ist nicht Europa“ - Ein Gespräch mit Robert Scheer


Während Robert Scheers Geschichten geradezu federleicht, beschwingt und geschliffen daherkommen, sich die tiefgreifende Doppelbödigkeit seiner Literatur eher durch Nebensätze, ungewöhnliche metaphorische Kontraste oder zwischen den Zeilen ins Bewusstsein des Lesers schleicht, erweist sich der Autor im Interview als messerscharfer Analytiker gesellschaftlicher Missstände und als Mann von klaren Worten und großer Urteilskraft. Bereits im Oktober konnte ich ihm einige Fragen zu den verschiedenen Themenkomplexen seines Buches stellen, die er sehr ausführlich und ausgesprochen originell beantwortet hat:

Onkel Sauberger, dessen Name allein schon eine Beleidigung für einen orthodoxen Juden ist, nimmt in Deinen Geschichten eine ausgesprochen autonome, lebensbejahende Position ein, in den zahlreichen ihn umgebenden Konflikten erscheint er geradezu als weiser erhabener Ruhepol. Ist der Verzehr von Schweinefleisch nur ein vorübergehender Trost oder die Antwort auf alle Fragen, die Erlösung?

Schweinefleisch ist etwas, das im Nahen Osten tief gehasst wird. Die Araber und Juden hassen beide das Schweinefleisch. Für meinen Vater – ein Jude, dessen Mutter in Auschwitz war – liebt nur Schweinefleisch. Für meinen Vater ist Schweinefleisch alles, wie auch für Onkel Sauberger das Schwein alles ist. Der Charakter Onkel Sauberger ist eine Mischung von meinem Vater und Shakespeares Falstaff. Onkel Sauberger mag gut essen und trinken, er genießt das Leben und dadurch ist er eine Art Gegenpol zu den Deutschen, die ein Problem haben, das Leben zu genießen. Kurzum: Onkel Sauberger ist nichts anderes als die Zukunft der Literatur. Vielleicht sogar der Deutschen, wer weiß.



Vielen Geschichten in Deinem Buch stellst Du als Motto utopistische Zitate aus den Werken Theodor Herzls voran, die aufgrund der von Dir beschriebenen Realität einen komisch-absurden Kontrapunkt liefern. Mit welchen Gedanken oder Gefühlen hast Du Theodor Herzl gelesen?

Theodor Herzl heisst eigentlich Herzl Tivadar und stammt aus Ungarn. Meine Muttersprache ist Ungarisch. Die meisten Dinge, die Herzl als realistisch in seiner Utopie empfand, sind heute nur lächerlich.

Das Lächerlichste daran ist, dass ein Mensch der österreichisch-ungarischen Monarchie ein jüdisches Österreich-Ungarn im Nahen Osten gründen wollte. Theodor Herzl dachte ernsthaft, dass die Araber die Juden lieben würden, wenn der Lebensstandard steigen wird. So ist es eben nicht geschehen. Die Araber betrachten die Juden nicht als Retter, sondern als diejenigen, die ihr Land geraubt haben. Herzl Tivadar war ein Kind seiner Zeit, eine Zeit, in der in Europa die Rasse und der Imperialismus eine große Rolle gespielt hatten.

Israel ist aber nicht Europa. Bis in den Achtzigern war Israel mehr oder weniger europäisch. Seitdem verliert in Israel das Europäische an Kraft. Israel ist nicht Europa. Israel ist seit den Achtzigern mehr und mehr nahöstlich geworden. Auch hier hatte Herzl unrecht: Israel ist kein Europa, kein Österreich-Ungarn, keine Monarchie, keine Aristokratie, leider nur noch wenig Demokratie.

Die Idee des Zionismus ist in der Zeit des europäischen Imperialismus entstanden und hat vielen verfolgten Juden im 20. Jahrhundert Hoffnung auf ein besseres Leben gegeben. Inwischen ist die Enttäuschung groß, viele zionistische Paradigmen mussten korrigiert werden, selbst der Versuch eines friedlichen Ausgleichs mit den Nachbarn scheint geradezu ausweglos. In einer Deiner Geschichten schreibst Du : „die Lösung besteht hier aus Konflikt“ und „Frieden scheint in diesem Teil der Welt ein unerreichbarer Traum zu sein“. Ist eine ironische Haltung die einzig mögliche in diesem Konflikt?

Nein, meine Haltung ist nicht ironisch, sondern realistisch. Ironie ist bloß das einzige Instrument in der Literatur, das nicht eindimensional ist. Deswegen benutze ich Ironie oft in meiner Kunst. Dennoch bin ich ein Realist. Und man muss den Konflikt im Nahen Osten realistisch betrachten.

Was heißt realistisch?

Realistisch heißt den Konflikt im Nahen Osten zu verstehen, und wenn wir den Konflikt verstehen wollen, sehen wir, dass der Frieden im Nahen Osten aus Konflikt besteht.

Was heißt das? Was heißt Frieden besteht aus Konflikt?

Diese Frage zu beantworten ist einfach. Alle reden über Frieden und meinen damit wirklich Konflikt. Also die Lösung des Konflikts im Nahen Osten besteht nicht aus Frieden, das Problem des Konflikts wird nicht gelöst, sondern wird weiter gehen. Es gibt keine Lösung und es wird keinen Frieden geben, keinen wirklichen Frieden. Wer noch an Frieden im Nahen Osten glaubt ist ein Träumer, nicht ein Realist. Wir wollen die Dinge aber realistisch in Augenschein nehmen.

Deswegen muss ich sagen: Konflikt ist in Israel Frieden und Frieden ist Konflikt. Diese Aussage ist, was man dialektisch nennt. Wenn man in Israel über Frieden redet, meint man Konflikt. Für alle Parteien im Nahen Osten, für Araber und Juden, scheint der Konflikt die Lösung zu sein. Über Frieden redet man, aber das Gerede über Frieden ist eine Täuschung. Im Nahen Osten will wirklich keiner Frieden. Je mehr man über Frieden redet, desto weniger will man Frieden. Und es wird immer wieder und immer wieder viel über Frieden geredet.

Im Nahen Osten sagt man eines und meinst damit das Gegenteil von dem was man sagt. Wenn man Frieden sagt, meint man Konflikt. Deswegen wird im Nahen Osten in der Zukunft statt Frieden doch Konflikt herrschen. Alle, fast all Beteiligten im Nahen Osten haben das größte Interesse an Konflikt und nicht an Frieden.

Wir müssen uns nur etwas Kleines merken: Wenn man über Frieden redet, redet man tatsächlich über das Bestehen des Konflikts. Das ist keine Ironie, sondern die Realität. 

Tel-Aviv ist heute auch für viele Deutsche ein interessantes Reiseziel, da man dort exzessiv feiern und wie im Rausch das Leben genießen kann. Worin besteht die Faszination von Tel-Aviv und wie würdest Du das dortige Lebensgefühl beschreiben?

Persönlich habe ich Tel-Aviv nie gemocht. Im Grunde ist Tel-Aviv eine hässliche Stadt, voll mit dummen Leuten. Es stimmt aber, dass in Tel-Aviv viel gefeiert wird. Dort lebt man so, als gebe es kein Morgen. Man will feiern, bis man nicht mehr kann, und am nächsten Tag fängt alles von vorne an.

In Tel Aviv gibt es keine Hemmungen, im Grunde ist dort alles das Gegenteil von Deutschland. Hier denkt man über Rente und Sparen nach, in Israel weiß man ja nicht, ob man morgen überhaupt leben wird. Die Gefahr, in der ein Israeli sich ständig befindet, wird mit Party-Exzessen regelrecht religiös gefeiert. Tel-Aviv ist zweifellos interessant, für mich aber nicht, denn ich kenne den Ort und die Leute. Es ist eine Orgie von Eskapismus und Heuchelei.

Übrigens: der beste Club in Tel-Aviv gehört meinem besten Freund. Er heisst „Breakfast Club“. Wenn jemand nach Israel will, sollte er unbedingt den Club meines Freundes besuchen. In meinem Buch beschreibe ich ausführlich meine Erfahrungen in Tel-Aviv und das Nachtleben dort.



„Der Duft des Sussita“ von Robert Scheer


Während der von den deutschen Medien mit träge-gehässiger Persistenz – wenn auch nicht ganz unschuldig – auf die Rolle des ungelenken Trottels mit fataler Vorliebe für dumme, aber hübsche, wenn auch allzu junge Frauen abonnierte Fußball-Rekordnationalspieler Lothar Matthäus („Ich habe in meinen Beziehungen immer mehr gegeben als zurückbekommen“) in seiner jüngst erschienenen Autobiografie auf ebenso überraschende wie eindrückliche und bewegende Art und Weise sein Kurzengagement als Trainer des israelischen Fußballclubs Maccabi Netanya schildert, widerfährt ihm gleichzeitig von gänzlich unerwarteter Seite so etwas wie späte literarische Genugtuung: der Tübinger Schriftsteller und Philosoph Robert Scheer hat ihn zum sympathischen Helden einer satirischen Erzählung in seinem großartigen literarischen Debüt „Der Duft des Sussita“ gemacht, in der er eine aberwitzige Handlung rund um dessen von zahlreichen kulturellen Missverständnissen geprägtes Trainerengagement im jüdischen Staat entfaltet und die so voller treffsicherer Pointen ist, dass man aus dem Staunen und Lachen kaum herauskommt:

„Hier isst man nur Koscheres [...]
So, habe ich gehört, sagte Lothar Matthäus. Kann man so etwas essen und genießen?
Nö. [...] Auf gar keinen Fall sollte man koscheres Essen zu sich nehmen. Es sei Gift. [...] Wenn man mit mir zusammen isst, isst man nur gutes Essen“

Sagt Onkel Sauberger, die wohl unvergesslichste Figur des Buches, eine geradezu messianische Gestalt, die eine ganz eigene überraschende Antwort auf die Herausforderungen des Lebens in Israel und auch einen möglichen Ausweg bereithält: den reichhaltigen und ungehemmten Verzehr von Schweinefleisch: „Alle Sorten, gebratene, rohe, gekochte, kalte und warme Gerichte“



Robert Scheer wurde 1973 im rumänischen Siebenbürgen geboren, besser bekannt auch unter der Bezeichnung Transsilvanien – deshalb darf man ihn wohl mit Fug und Recht als „Graf Dracula der jungen deutschen Literatur“ bezeichnen. Seine Muttersprache ist Ungarisch; 1985 wanderte er mit seinen Eltern und seinem Bruder nach Israel aus, wo er nach seinem Militärdienst und einer gescheiterten Karriere als Rockmusiker ein Philosophistudium begann, welches er aus Liebe zu Hölderlin in Tübingen fortsetzte, wo er auch heute lebt.

Israel ist ein Land so vieler Widersprüche, dass ein denkender Mensch, ein Philosoph noch dazu, nicht umhin kommt, sich zu diesen Widersprüchen zu positionieren. Robert Scheer hat dies geographisch getan, aber auch literarisch: mit scharfem politischen Verstand, Ironie, Sarkasmus, Skepsis und einem ungewöhnlich ausgeprägten unnachahmlichen Talent zur doppelbödigen Satire. Seine Texte erinnern an den frühen Ephraim Kishon, als dieser noch politisch war; er hat ein ungeheures Talent zur Schöpfung und auch sprachlichen Ausgestaltung unvergesslicher Charaktere, unter denen besonders der bereits erwähnte und wörtlich zitierte, schillernde Onkel Schlauberger herausragt, den man ohne jegliche Vorbehalte als ganz großen literarischen Wurf bezeichnen darf, dessen Geschichte mit diesem ersten Buch mit großer Sicherheit noch nicht gänzlich auserzählt ist.
 
Aber Robert Scheer schreibt keine Comedy. Seine Texte offenbaren reale Abgründe, die man nicht überwinden, sondern allenfalls aushalten kann. Und so erleben wir in seinen Texten eine kritische Beschreibung israelischer Verhältnisse, wie es sie in dieser Form noch nie in deutscher Sprache gegeben hat.

Gleichzeitig ist Israel aber auch – vielleicht gerade aufgrund eines permanenten Gefühls der Krise - ein Land unbändiger Lebensfreude; und dauch dafür gibt es zahlreiche Beispiele in Robert Scheers Buch, etwa eine wunderbare Liebesgeschichte in „Front Catering GmbH“ oder die absurde Geschichte eines ultraorthodoxen Juden, der die biblische Aufforderung „Seid fruchtbar und mehret euch!“ allzu wörtlich nimmt und seinen Lebensunterhalt ausschließlich als professioneller Samenspender bestreitet. „Der Duft des Sussita“ ist das wohl ungewöhnlichste Debüt eines jungen deutschsprachigen Schriftstellers seit langem, das hohe Erwartungen an zukünftige Bücher dieses originellen Autors weckt.

„Der Duft des Sussita“, erschienen bei Hanser Berlin, 157 Seiten, € 16,90

Dienstag, 20. November 2012

Jüdischer Fisch und deutsche Fische

„Deutsche Fische – so wie ich sie liebe“ heißt das neue großformatige Kochbuch des bärbeißigen norddeutschen Fernsehkochs und Spezialisten für rustikale Hausmannskost Rainer Saß. Man fragt sich, ob die von ihm porträtierten Fische Aal, Forelle und Kabeljau wohl damit einverstanden wären, dass man ihnen ausgerechnet in einem Werk der Kochliteratur einfach kollektiv die deutsche Staatsbürgerschaft verleiht? Ist nicht gerade die unstete, schwer fassbare Spezies der Fische – und innerhalb dieser die grenzüberschreitenden internationalen Meeresbewohner noch viel mehr als jene, die große länderübergreifende Flüsse und Ströme bevölkern – nicht geradezu dazu bestimmt als originäre liberale Freigeister und ungebundene, reiselustige Weltbürger par excellence zu gelten? Warum hat die angeblich verstandesmäßig allen anderen irdischen Lebewesen haushoch überlegene menschliche Spezies Nationalstaaten und Fremdenhass hervorgebracht, während sämtliche Ordnungen der Fische, soweit wir zu wissen glauben, eine Unterscheidung nach solcherart Kriterien nicht zu kennen scheint? Was unterscheidet jene angeblich deutschen Fische von sagen wir: französischen, polnischen – oder gar von jüdischen? Und warum zieht sie der spröde Küchenchef anderen vor?


Wenn es allerdings einen Fisch gibt, den man einigermaßen guten Gewissens als unverfälscht „jüdisch“ bezeichnen darf, dann ist es der berühmt-berüchtigte „gefillte Fisch“, dem nicht wenige unerschrockene Feinschmecker bei entsprechend sorgfältiger Zubereitung durchaus elementare, scharf umrissene Gaumenfreuden abgewinnen können, dessen Genuss ansonsten aber eher zu extremen kulinarischen Positionen anregt, die kaum gegensätzlicher ausfallen könnten: wer ihn nicht mag, wird ihn kein zweites Mal probieren – und der dennoch in kaum einem traditionell-aschkenasischem Festtagsmahl als Vorspeise fehlen darf. 

Die Wiener Historikerin, Autorin und Filmemacherin Helene Maimann hat in ihrem unterhaltsam-boulevardesken neuen Buch „Gefillte Fisch & Lebensstrudel – Eine jüdische Kochshow“ zahlreiche interessante Anekdoten, kulturgeschichtliche Denkwürdigkeiten sowie einige der bekanntesten traditionellen und neuen Rezepte der jüdischen Küche zusammengetragen, die in ihrer abwechslungsreichen Vielfalt ein wunderbares, höchst aussagekräftiges Beispiel dafür abliefern, dass und wie sehr Essen und Kochen ebenso wie die Alltagssprache oder das Leben selbst einer ständigen Wiederbelebung und Erneuerung durch unterschiedlichste neue Einflüsse ausgesetzt sind. So kam die Entdeckung von Fisch für die jüdische Küche geradezu einer kleinen Revolution gleich, da er zu keiner der beiden wesentlichen Kategorien zählt, die nicht gemeinsam verzehrt werden dürfen: fleischig und milchig und der sich daher für zahlreiche unbegrenzte Zubereitungsvariationen eignet, selbst wenn es nach den detaillierten jüdischen Speisegesetzen auch zahlreiche Fischarten und andere Meeresbewohner gibt, die aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften als unrein gelten und somit überhaupt nicht verzehrt werden dürfen. 


Auch wenn viele Gerichte, die wir heute mit jüdischer Küche assoziieren wie gehackte Leber, Bagel, sauer eingelegtes Gemüse oder eben der unvermeidliche gefüllte Karpfen grundsätzlich eher die wenig spektakuläre Arme-Leute-Küche des osteuropäischen Schtetl symbolisieren, ist dies nur eine sehr begrenzte Seite ihres vielfältigen internationalen Spektrums: Die jüdische Küche kennt keine Kulturgrenzen und ist im Laufe der Jahrhunderte immer für Anregungen anderer kulinarischer Traditionen offen gewesen, wovon einerseits das bereits vor fünf Jahren auf Deutsch erschienene wunderbare Kochbuch „Die neue israelische Küche“ von Janna Gur Zeugnis ablegt, worin vor allem europäische und nahöstliche Einflüsse auf einzigartige Weise zu einer ganz neuen kulinarischen Landschaft zusammenfließen und auf noch internationalere Art und Weise, da mit regionsspezifischen Rezepten aus allen wesentlichen jüdischen Gemeinden in der gesamten jüdischen Diaspora, das soeben veröffentlichte englischsprachige Kochbuch „Cooking from the Heart - A Journey Trough Jewish Food“ von Hayley Smorgon und Gaye Weeden. Es mag – bei einigem berechtigten Zweifel – durchaus einige Fische geben, die Wert auf die deutsche Staatsbürgerschaft legen – die reichhaltige jüdische Küche bleibt davon zu Recht unbeeindruckt.

„Gefillte Fisch und Lebensstrudel“, erschienen bei Picus, 154 Seiten, € 16,90

Donnerstag, 15. November 2012

„Ein Mann mit einer Tür“ von Asher Reich


Das Judentum als Religion ist angesichts seiner Jahrtausende währenden Verfolgung und Diskriminierung in der Diaspora nicht nur ein außerordentlich gutes Beispiel für das mit Sinn erfüllte Überleben einer theologischen Idee, sondern gerade in seinem uralten Ringen um eine unverkennbare eigene Identität auch ein wesentliches Vorbild für das philosophische Konzept des unbeugsamen ideellen Kampfes gegen alle politischen Widerstände. Und auch wenn die streng-orthodoxe Ausübung des Judentums mit ihren zahlreichen das tägliche Leben einschränkenden religiösen Vorschriften für den modernen Menschen aus aufgeklärter Sicht nicht mehr angemessen erscheint und sich aktuell eher eine zeitgemäße Auffassung von kulturellem Judentum weltweit ausbreitet, müssen wir dennoch anerkennen, dass es immer die orthodoxe und traditionsbewahrende, gleichzeitig jedoch auf lebhaftem theologischen Diskurs gründende Ausrichtung des Judentums war, die über Jahrhunderte eine unverwechselbare jüdische Identität bewahrt hat.

Diese substanzielle Erfahrung lässt sich auch an scheinbar unerheblichen Beobachtungen im modernen Staat Israel nachvollziehen: während die eher areligiöse Bevölkerungsmehrheit trotz ihrer nach wie vor unleugbaren vehementen zionistischen Verstrickung sich kulturell mehr und mehr ihrer arabischen Umgebung anpasst, leben dort gleichzeitig ultraorthodoxe Gruppen nach jahrhundertealten religiösen Vorschriften, wie sie der isolationistische Mikrokosmos des osteuropäischen Schtetl hervorgebracht hat. Ausgerechnet diese streng religiösen Gemeinden, deren Sprache bis heute Jiddisch ist und die in ihren archaisch scheinenden Sitten und Gebräuchen eine ursprüngliche Idee vom Judentum bewahren, lehnen jene Institution, die sich selbst als wichtigste, ja gar als einzige ernst zu nehmende Bewahrerin jüdischer Kultur der Moderne betrachtet: den zionistischen Staat, mit ebenso viel Überzeugung wie Leidenschaft ab. 


In dieses ambivalente, exotisch scheinende Milieu wurde der israelische Lyriker Asher Reich 1937 als Sohn von osteuropäischen Einwanderern hineingeboren: im berühmten ultraorthodoxen Jerusalemer Viertel Mea Shearim wuchs er auf und erhielt dort eine traditionelle jüdische Erziehung, die neben der üblichen Schulbildung wie selbstverständlich auch ein intensives Studium der Thora sowie des Talmud umfasste. Auch wenn der Schöpfer zahlreicher leicht zugänglicher, teilweise preisgekrönter Lyrikbände (auf Deutsch: „Arbeiten auf Papier“, 1992) sich bald vom orthodoxen Judentum abwandte, Hebräische Literatur und Philosophie studierte und sogar ins weltliche Tel-Aviv „emigrierte“, sind viele seiner Gedichte unverkennbar im orthodoxen Judentum und in der intensiven Kenntnis der kulturellen Überlieferung sowie der religiösen Texte verwurzelt, woraus sie einen Großteil ihrer literarischen und philosophischen Spannung erhalten. Gleichzeitig ist uns der Weg der innerlichen Befreiung – von den Einschränkungen der Erziehung zum wahren Selbst – intuitiv so vertraut, dass er dem Leser als einzig folgerichtiger erscheinen muss. Dennoch gelingt es Asher Reich in seiner Lyrik geradezu bravourös, jüdisch-orthodoxe Motive zu bewahren, indem er sie der Prüfung durch die Realität der Moderne unterzieht:

Ich legte Geduld aus heute nacht wie ein Fischer sein Netz
Für jene, die ein Licht bemerken.
Eine Lache aus Wachs glänzt in der Frühe
Wie die Steckdose in der Wand; mit ihr
Wird der Sonnenfaden verbunden: das Licht unserer Seele.

(aus dem Gedicht „Stromausfall“; Übersetzung: Efrat Gal-Ed und Christoph Meckel)

In den zehn intensiven Erzählungen des soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Bandes „Ein Mann mit einer Tür“ kehrt Asher Reich mit Hilfe seines Kindheits-Ichs nach Mea Shearim zurück und erinnert sich eindrücklich an eine traumverloren-entrückte archaische Welt, die – auch wenn der Autor selbst sie seit langem verlassen und innerlich überwunden hat – nahezu unverändert immer noch weiterexistiert – nicht nur in ihm selbst, als lebendige Erinnerung, sondern überall dort, wo Kinder in jüdisch-orthodoxe Lebenswelten hineingeboren werden, die augenscheinlich nicht der vorherrschenden Lebensrealität der Umgebung entsprechen. So gibt es in Reichs Erzählungen altväterischen Aberglauben zuhauf, moralische Engstirnigkeit, religiöse Verblendung und blindwütige Boshaftigkeit, aber auch echte lebensbejahende Spiritualität, mystischen Wunderglauben, Gottvertrauen gegen jede Vernunft und das größte Wunder von allen – die Liebe. Wir lernen eine durch ihre gemeinsamen religiösen Anschauungen gegenseitig und miteinander tief verbundene Gemeinschaft kennen, deren strenge Regeln nach Belieben zu erhöhen und auszugrenzen vermögen, die den Einzelnen nach Belieben zu bereichern vermag, solange er die Spielregeln befolgt – und die ihn erbarmungslos abstraft, wenn er das eigene Glück über das der Gemeinschaft stellt.

Es kann Asher Reich freilich nicht gelingen, die großen Fußstapfen von Schriftstellern wie Isaak Baschewis Singer (1902-1991), dessen Bruder Israel Joschua Singer (1893-1944) oder von Scholem Alejchem (1859-1916) auszufüllen, deren Romane und Erzählungen die Welt des traditionellen orthodoxen Judentums so kongenial abbildeten. In manchen Geschichten irritiert die herzlos scheinende Passivität des Erzählers, der immer wieder freimütig bekennt, nie nachgefragt zu haben, was aus seinem hochbegabten Jugendfreund Leibale geworden ist, einem für die Ergründung der Geheimnisse der Kabbala gleichsam geborenen, früh erwachsen gewordenen Albino, was aus den elenden, von ihrer eigenen Mutter verratenen Schwestern Bracha und Rivka oder aus seiner unvergessenen wunderschönen Jugendliebe Schoschana, der geheimnisvollen „Hindin der Morgenröte“: „Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch sehnte ich mich nach der schönen Schoschana, konnte sie ganz und gar nicht vergessen. [...] Ihre Gestalt schimmerte mir vor Augen wie ein ofenfrisches Sabbatbrot.“

Auch wenn es Asher Reich nicht vollends gelingt, die unverwechselbare poetische Sprache seiner Lyrik auf seine Erzählungen zu übertragen, vermag er dennoch beispielhaft, eine ganze Welt vor den Augen des staunenden Lesers auferstehen zu lassen, die ihm auf den ersten Blick allzu fremd erscheinen muss, um sich ihr anders als auf literarischem Wege nähern zu können – und deren Protagonisten er uns dennoch so nahe bringt, wie es nur ein begabter Poet und Schriftsteller vermag. Hierin erweist sich Asher Reich am Ende seiner Lebensspanne unverhofft doch noch als kabbalistischer Meister, indem er Leben in Poesie verwandelt.

„Ein Mann mit einer Tür“, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, erschienen bei S. Fischer, 301 Seiten, € 19,99