Gegen Ende
des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel
uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei
große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten
und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer
Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten.
Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung
hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht
sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration
geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des
zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des
Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang
zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das
man sich mühelos selbst zünden kann.
„Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ von Elisabeth Tova Bailey
Das stille, unverhoffte und bescheidene Glück, das die von
schwerer Krankheit monatelang an ihr Bett gefesselte Schriftstellerin und
Wissenschaftsjournalistin Elisabeth Tova Bailey beim täglichen Beobachten der
faszinierenden Lebensgewohnheiten einer in ihrem Veilchentopf hausenden
Schnecke empfindet, überträgt sich bei der Lektüre ihres entzückenden kleinen
Buches „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ direkt auf den einträchtig mit
der Autorin staunenden, dankbaren Leser.
Nach einem Europa-Aufenthalt erkrankte die amerikanische
Biologin vor mehr als zwanzig Jahren schwerwiegend an den Folgen einer
FSME-Infektion, die aufgrund fehlender Erfahrung der amerikanischen Ärzte mit
diesem bis dahin rein europäischen Krankheitsbild nicht korrekt diagnostiziert
wurde und so bei der Autorin lebensbedrohliche Lähmungserscheinungen und
schwerwiegende Störungen im körpereigenen Stoffwechselhaushalt bewirkte.
Vollkommen auf häusliche Pflege angewiesen, bekam die für ihre Essays und
Kurzgeschichten vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin von einer engen
Freundin ein im nahe gelegenen Wald ausgegrabenes Ackerveilchen im Blumentopf
geschenkt – samt einer kleinen im Schatten von dessen Blättern sich versteckender
Schnecke.
Es gibt zahlreiche Bücher, die uns am Beispiel einer
schweren Krankheit oder gar in der unmittelbaren Konfrontation mit dem Tod
eindringlich vermitteln wollen, wie wertvoll und beglückend ein mit allen
Sinnen bewusst gestaltetes Leben sein kann; die meisten dieser Bücher sind mehr
oder weniger plumpe pseudo-spirituelle Gebrauchsliteratur, denen man die
offensichtliche Intention des Autors jederzeit anmerkt und die man nur dann
gerne liest, wenn man sich einen kurzfristigen Trost davon verspricht.
Elisabeth Tova Bailey gelingt jedoch in ihrer hoch konzentrierten literarischen
Beschreibung ihrer langsam, doch stetig zunehmenden Faszination für ihr
ungewöhnliches kleines Haustier eine hoch poetische fundamentale
Entschleunigung, die uns auf moderate, aber unverkennbare Art den ganzen
Reichtum des Lebens vor Augen führt, der selbst in einem kleinen unscheinbaren
Schneckenhaus verborgen sein kann:
„Der Mensch ist
herausgehoben, nicht weil wir so hoch über anderen Lebewesen stünden, sondern
weil deren gründliche Kenntnis einen höheren Begriff von Leben schafft.“
Die kleine Schnecke hat Baileys langsamen Heilungsprozess
mehr aktiv geprägt als nur begleitet, von ersten zufälligen Beobachtungen, der
Erkenntnis, dass das possierliche Haustier nachts seinen Blumentopf verlässt,
um quadratische Löcher in Briefumschläge von Genesungskarten zu fressen,
tagsüber in einer selbst gegrabenen kleinen Mulde im Schatten des Veilchens
schläft, handelsübliche Blumenerde ablehnt und winzige Zuchtchampignonscheiben
als absolute Delikatesse betrachtet, von der sie sich eine ganze Woche zu
ernähren vermag.
Die Autorin verschafft ihrer Mitbewohnerin schließlich
nicht nur eine komfortablere Behausung in Form eines mit diversen Moosen, Ästen
und Waldblumen ausgestatteten Terrariums, sondern schließlich sogar einen
passenden Sexualpartner, was der Biologin die unverhoffte Möglichkeit eröffnet,
die sonderbaren Paarungsrituale dieser unscheinbaren, aber hoch spezialisierten
Gattung zu studieren und selbst das Heranwachsen von Nachwuchs mitzuerleben. Am
Ende ihres wunderbaren Buches nimmt sich die immer noch stark von ihrer
unheilbaren Krankheit beeinträchtigte Autorin vor:
„Ein Blick in den Sternenhimmel und dann ins Bett. Es
gibt viel zu tun, so schnell oder langsam, wie es mir eben möglich ist. Ich
muss die Schnecke in Erinnerung behalten. Immer die Schnecke in Erinnerung
behalten.“
„Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“, aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum,
erschienen bei Nagel & Kimche, 171 Seiten, € 16,90