Jerusalem

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Donnerstag, 29. November 2012

Chanukka-Geld, Teil 2 – Elisabeth Tova Bailey


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ von Elisabeth Tova Bailey

Das stille, unverhoffte und bescheidene Glück, das die von schwerer Krankheit monatelang an ihr Bett gefesselte Schriftstellerin und Wissenschaftsjournalistin Elisabeth Tova Bailey beim täglichen Beobachten der faszinierenden Lebensgewohnheiten einer in ihrem Veilchentopf hausenden Schnecke empfindet, überträgt sich bei der Lektüre ihres entzückenden kleinen Buches „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ direkt auf den einträchtig mit der Autorin staunenden, dankbaren Leser.

Nach einem Europa-Aufenthalt erkrankte die amerikanische Biologin vor mehr als zwanzig Jahren schwerwiegend an den Folgen einer FSME-Infektion, die aufgrund fehlender Erfahrung der amerikanischen Ärzte mit diesem bis dahin rein europäischen Krankheitsbild nicht korrekt diagnostiziert wurde und so bei der Autorin lebensbedrohliche Lähmungserscheinungen und schwerwiegende Störungen im körpereigenen Stoffwechselhaushalt bewirkte. Vollkommen auf häusliche Pflege angewiesen, bekam die für ihre Essays und Kurzgeschichten vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin von einer engen Freundin ein im nahe gelegenen Wald ausgegrabenes Ackerveilchen im Blumentopf geschenkt – samt einer kleinen im Schatten von dessen Blättern sich versteckender Schnecke.



Es gibt zahlreiche Bücher, die uns am Beispiel einer schweren Krankheit oder gar in der unmittelbaren Konfrontation mit dem Tod eindringlich vermitteln wollen, wie wertvoll und beglückend ein mit allen Sinnen bewusst gestaltetes Leben sein kann; die meisten dieser Bücher sind mehr oder weniger plumpe pseudo-spirituelle Gebrauchsliteratur, denen man die offensichtliche Intention des Autors jederzeit anmerkt und die man nur dann gerne liest, wenn man sich einen kurzfristigen Trost davon verspricht. Elisabeth Tova Bailey gelingt jedoch in ihrer hoch konzentrierten literarischen Beschreibung ihrer langsam, doch stetig zunehmenden Faszination für ihr ungewöhnliches kleines Haustier eine hoch poetische fundamentale Entschleunigung, die uns auf moderate, aber unverkennbare Art den ganzen Reichtum des Lebens vor Augen führt, der selbst in einem kleinen unscheinbaren Schneckenhaus verborgen sein kann:

 „Der Mensch ist herausgehoben, nicht weil wir so hoch über anderen Lebewesen stünden, sondern weil deren gründliche Kenntnis einen höheren Begriff von Leben schafft.“

Die kleine Schnecke hat Baileys langsamen Heilungsprozess mehr aktiv geprägt als nur begleitet, von ersten zufälligen Beobachtungen, der Erkenntnis, dass das possierliche Haustier nachts seinen Blumentopf verlässt, um quadratische Löcher in Briefumschläge von Genesungskarten zu fressen, tagsüber in einer selbst gegrabenen kleinen Mulde im Schatten des Veilchens schläft, handelsübliche Blumenerde ablehnt und winzige Zuchtchampignonscheiben als absolute Delikatesse betrachtet, von der sie sich eine ganze Woche zu ernähren vermag.

Die Autorin verschafft ihrer Mitbewohnerin schließlich nicht nur eine komfortablere Behausung in Form eines mit diversen Moosen, Ästen und Waldblumen ausgestatteten Terrariums, sondern schließlich sogar einen passenden Sexualpartner, was der Biologin die unverhoffte Möglichkeit eröffnet, die sonderbaren Paarungsrituale dieser unscheinbaren, aber hoch spezialisierten Gattung zu studieren und selbst das Heranwachsen von Nachwuchs mitzuerleben. Am Ende ihres wunderbaren Buches nimmt sich die immer noch stark von ihrer unheilbaren Krankheit beeinträchtigte Autorin vor:

„Ein Blick in den Sternenhimmel und dann ins Bett. Es gibt viel zu tun, so schnell oder langsam, wie es mir eben möglich ist. Ich muss die Schnecke in Erinnerung behalten. Immer die Schnecke in Erinnerung behalten.“

 „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“, aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum, erschienen bei Nagel & Kimche, 171 Seiten, € 16,90

Dienstag, 27. November 2012

Chanukka-Geld, Teil 1 – Jon Vaillant



Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.

"Am Ende der Wildnis" von John Vaillant

 Es war nicht das erste Mal, dass der eigenbrötlerische kanadische Forstingenieur und kernige Naturbursche Grant Hadwin über Wochen spurlos in der Wildnis verschwand. Beim ersten Mal, im Frühling 1993, hatte er in der Einöde Alaskas im psychischen Ausnahmezustand ein spirituelles Erweckungserlebnis gehabt, das ihn mit einem ebenso umfassenden wie radikalen selbst verfassten politischen Manifest zurückkehren ließ, in dem er zahlreiche allgemein unleugbare bittere Wahrheiten über das Verhältnis des Menschen zur Natur darlegte, das aber in dieser irritierend-weltentrückten Form auch im Nachlass jedes nationalistischen Terroristen und Selbstmordattentäters nicht weiter überraschen würde:

Ich frage dich: Wenn du die Macht besäßest, alles zu erschaffen, einschließlich des Lebens, und wenn du alles, was du erschaffen hast, perfekt aufeinander abstimmen könntest, was würdest du dann tun, wenn eine Lebensform ganz offensichtlich alles Leben missbraucht, einschließlich des eigenen?
Wenn die ursprüngliche 'Absicht' deiner Schöpfung ganz offensichtlich ins Gegenteil verkehrt würde, von 'Respekt' in Hass, von Mitgefühl in Unterdrückung, von Großzügigkeit in Habgier und von Würde in Schändung, was würdest du tun?

Wie würdest du den Menschen klarmachen, dass materielle Versuchungen, Sozialstatus und Bildungsstätten dazu benutzt werden, den Status quo zu erhalten und fortzuschreiben, und zwar unter verschwindend geringer echter Rücksichtnahme auf die Zukunft des Lebens auf unserer Erde?

Wie würdest du als der „SCHÖPFER DES LEBENS“ deine Verachtung und deinen Widerwillen gegenüber solchen Institutionen und Individuen zeigen, deren Aufgabe es eigentlich sein sollte, Leben zu schützen, die aber offenbar stattdessen etwas ganz anderes tun?“



Beim zweiten Mal war er vom hoffnungslos fehlgeleiteten Wunsch getrieben, ein für die ganze Menschheit nicht zu übersehendes Zeichen gegen die Vernichtung der letzten Urwälder der Erde zu setzen – in einer stürmischen Winternacht im Januar 1997 machte er sich mit seiner Motorsäge auf, um die in ganz Kanada berühmte „Goldene Fichte“, den jahrhundertealten, durch Spontanmutation tatsächlich mit einem goldenen Nadelkleid ausgestatteten heiligen Baum des indigenen Volks der Haida in British Columbia anzusägen, so dass sie unweigerlich innerhalb der nächsten Tage im Sturm fallen musste.

Diese selbst wohlmeinendsten Umweltschützern schwer zu vermittelnde Untat, machte ihn nicht nur zum meistgehassten Mann Kanadas, sondern auch zum meistgesuchten: Sogar öffentliche Mordaufrufe gab es, die Grant Hadwin schließlich dazu bewogen, sich der Polizei zu stellen.

Sein drittes Verschwinden hält bis heute an und wird sich vermutlich als endgültig erweisen: Am 13. Februar 1997 stach Grant Hadwin mit seinem Kajak in See, um ordnungsgemäß zu seiner Gerichtsverhandlung in Masset zu erscheinen. Dort jedoch tauchte er niemals auf; das Wrack seines Kajaks wurde im Sommer desselben Jahres fast 120 Kilometer weitab zufällig von einem Hubschrauberpiloten in der Wildnis gefunden. Da Hadwin selbst bei den einheimischen Indianern auf geradezu mythische Weise als Experte für spurloses Verschwinden galt, gab es nicht wenige, die argwöhnten, er habe seinen Tod nur vorgetäuscht, um unerkannt in den unbewohnten Wäldern zu leben.

„Wie Billy the Kid oder Scarlet Pimpernel schien er die Fähigkeit zu besitzen, jederzeit und überall auftauchen zu können.“

Wer die Bücher von Jon Krakauer liebt, wird John Vaillant verehren: Selten hat man in den letzten Jahren das ungetrübte literarische Vergnügen gehabt, derart kunstvolle und gleichzeitig mitreißende Landschaftsbeschreibungen lesen zu dürfen. Wie in seinem späteren, jedoch in deutscher Sprache früher erschienenen Bestseller „Der Tiger“ über den spektakulären tödlichen Rachefeldzugs eines sibirischen Tigers am in seinen Lebensraum eingedrungenen Menschen nähert sich John Vaillant dem Protagonisten seines „neuen“ ersten Buches sowie dessen vielschichtigen Beweggründen von allen erdenklichen Seiten und schafft so eine fesselnde Charakterstudie eines im Guten wie im Bösen gleichermaßen von seinen Überzeugungen Getriebenen.

„Am Ende der Wildnis“, aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner, erschienen bei Blessing, 367 Seiten, € 19,95

Freitag, 23. November 2012

„Israel ist nicht Europa“ - Ein Gespräch mit Robert Scheer


Während Robert Scheers Geschichten geradezu federleicht, beschwingt und geschliffen daherkommen, sich die tiefgreifende Doppelbödigkeit seiner Literatur eher durch Nebensätze, ungewöhnliche metaphorische Kontraste oder zwischen den Zeilen ins Bewusstsein des Lesers schleicht, erweist sich der Autor im Interview als messerscharfer Analytiker gesellschaftlicher Missstände und als Mann von klaren Worten und großer Urteilskraft. Bereits im Oktober konnte ich ihm einige Fragen zu den verschiedenen Themenkomplexen seines Buches stellen, die er sehr ausführlich und ausgesprochen originell beantwortet hat:

Onkel Sauberger, dessen Name allein schon eine Beleidigung für einen orthodoxen Juden ist, nimmt in Deinen Geschichten eine ausgesprochen autonome, lebensbejahende Position ein, in den zahlreichen ihn umgebenden Konflikten erscheint er geradezu als weiser erhabener Ruhepol. Ist der Verzehr von Schweinefleisch nur ein vorübergehender Trost oder die Antwort auf alle Fragen, die Erlösung?

Schweinefleisch ist etwas, das im Nahen Osten tief gehasst wird. Die Araber und Juden hassen beide das Schweinefleisch. Für meinen Vater – ein Jude, dessen Mutter in Auschwitz war – liebt nur Schweinefleisch. Für meinen Vater ist Schweinefleisch alles, wie auch für Onkel Sauberger das Schwein alles ist. Der Charakter Onkel Sauberger ist eine Mischung von meinem Vater und Shakespeares Falstaff. Onkel Sauberger mag gut essen und trinken, er genießt das Leben und dadurch ist er eine Art Gegenpol zu den Deutschen, die ein Problem haben, das Leben zu genießen. Kurzum: Onkel Sauberger ist nichts anderes als die Zukunft der Literatur. Vielleicht sogar der Deutschen, wer weiß.



Vielen Geschichten in Deinem Buch stellst Du als Motto utopistische Zitate aus den Werken Theodor Herzls voran, die aufgrund der von Dir beschriebenen Realität einen komisch-absurden Kontrapunkt liefern. Mit welchen Gedanken oder Gefühlen hast Du Theodor Herzl gelesen?

Theodor Herzl heisst eigentlich Herzl Tivadar und stammt aus Ungarn. Meine Muttersprache ist Ungarisch. Die meisten Dinge, die Herzl als realistisch in seiner Utopie empfand, sind heute nur lächerlich.

Das Lächerlichste daran ist, dass ein Mensch der österreichisch-ungarischen Monarchie ein jüdisches Österreich-Ungarn im Nahen Osten gründen wollte. Theodor Herzl dachte ernsthaft, dass die Araber die Juden lieben würden, wenn der Lebensstandard steigen wird. So ist es eben nicht geschehen. Die Araber betrachten die Juden nicht als Retter, sondern als diejenigen, die ihr Land geraubt haben. Herzl Tivadar war ein Kind seiner Zeit, eine Zeit, in der in Europa die Rasse und der Imperialismus eine große Rolle gespielt hatten.

Israel ist aber nicht Europa. Bis in den Achtzigern war Israel mehr oder weniger europäisch. Seitdem verliert in Israel das Europäische an Kraft. Israel ist nicht Europa. Israel ist seit den Achtzigern mehr und mehr nahöstlich geworden. Auch hier hatte Herzl unrecht: Israel ist kein Europa, kein Österreich-Ungarn, keine Monarchie, keine Aristokratie, leider nur noch wenig Demokratie.

Die Idee des Zionismus ist in der Zeit des europäischen Imperialismus entstanden und hat vielen verfolgten Juden im 20. Jahrhundert Hoffnung auf ein besseres Leben gegeben. Inwischen ist die Enttäuschung groß, viele zionistische Paradigmen mussten korrigiert werden, selbst der Versuch eines friedlichen Ausgleichs mit den Nachbarn scheint geradezu ausweglos. In einer Deiner Geschichten schreibst Du : „die Lösung besteht hier aus Konflikt“ und „Frieden scheint in diesem Teil der Welt ein unerreichbarer Traum zu sein“. Ist eine ironische Haltung die einzig mögliche in diesem Konflikt?

Nein, meine Haltung ist nicht ironisch, sondern realistisch. Ironie ist bloß das einzige Instrument in der Literatur, das nicht eindimensional ist. Deswegen benutze ich Ironie oft in meiner Kunst. Dennoch bin ich ein Realist. Und man muss den Konflikt im Nahen Osten realistisch betrachten.

Was heißt realistisch?

Realistisch heißt den Konflikt im Nahen Osten zu verstehen, und wenn wir den Konflikt verstehen wollen, sehen wir, dass der Frieden im Nahen Osten aus Konflikt besteht.

Was heißt das? Was heißt Frieden besteht aus Konflikt?

Diese Frage zu beantworten ist einfach. Alle reden über Frieden und meinen damit wirklich Konflikt. Also die Lösung des Konflikts im Nahen Osten besteht nicht aus Frieden, das Problem des Konflikts wird nicht gelöst, sondern wird weiter gehen. Es gibt keine Lösung und es wird keinen Frieden geben, keinen wirklichen Frieden. Wer noch an Frieden im Nahen Osten glaubt ist ein Träumer, nicht ein Realist. Wir wollen die Dinge aber realistisch in Augenschein nehmen.

Deswegen muss ich sagen: Konflikt ist in Israel Frieden und Frieden ist Konflikt. Diese Aussage ist, was man dialektisch nennt. Wenn man in Israel über Frieden redet, meint man Konflikt. Für alle Parteien im Nahen Osten, für Araber und Juden, scheint der Konflikt die Lösung zu sein. Über Frieden redet man, aber das Gerede über Frieden ist eine Täuschung. Im Nahen Osten will wirklich keiner Frieden. Je mehr man über Frieden redet, desto weniger will man Frieden. Und es wird immer wieder und immer wieder viel über Frieden geredet.

Im Nahen Osten sagt man eines und meinst damit das Gegenteil von dem was man sagt. Wenn man Frieden sagt, meint man Konflikt. Deswegen wird im Nahen Osten in der Zukunft statt Frieden doch Konflikt herrschen. Alle, fast all Beteiligten im Nahen Osten haben das größte Interesse an Konflikt und nicht an Frieden.

Wir müssen uns nur etwas Kleines merken: Wenn man über Frieden redet, redet man tatsächlich über das Bestehen des Konflikts. Das ist keine Ironie, sondern die Realität. 

Tel-Aviv ist heute auch für viele Deutsche ein interessantes Reiseziel, da man dort exzessiv feiern und wie im Rausch das Leben genießen kann. Worin besteht die Faszination von Tel-Aviv und wie würdest Du das dortige Lebensgefühl beschreiben?

Persönlich habe ich Tel-Aviv nie gemocht. Im Grunde ist Tel-Aviv eine hässliche Stadt, voll mit dummen Leuten. Es stimmt aber, dass in Tel-Aviv viel gefeiert wird. Dort lebt man so, als gebe es kein Morgen. Man will feiern, bis man nicht mehr kann, und am nächsten Tag fängt alles von vorne an.

In Tel Aviv gibt es keine Hemmungen, im Grunde ist dort alles das Gegenteil von Deutschland. Hier denkt man über Rente und Sparen nach, in Israel weiß man ja nicht, ob man morgen überhaupt leben wird. Die Gefahr, in der ein Israeli sich ständig befindet, wird mit Party-Exzessen regelrecht religiös gefeiert. Tel-Aviv ist zweifellos interessant, für mich aber nicht, denn ich kenne den Ort und die Leute. Es ist eine Orgie von Eskapismus und Heuchelei.

Übrigens: der beste Club in Tel-Aviv gehört meinem besten Freund. Er heisst „Breakfast Club“. Wenn jemand nach Israel will, sollte er unbedingt den Club meines Freundes besuchen. In meinem Buch beschreibe ich ausführlich meine Erfahrungen in Tel-Aviv und das Nachtleben dort.



„Der Duft des Sussita“ von Robert Scheer


Während der von den deutschen Medien mit träge-gehässiger Persistenz – wenn auch nicht ganz unschuldig – auf die Rolle des ungelenken Trottels mit fataler Vorliebe für dumme, aber hübsche, wenn auch allzu junge Frauen abonnierte Fußball-Rekordnationalspieler Lothar Matthäus („Ich habe in meinen Beziehungen immer mehr gegeben als zurückbekommen“) in seiner jüngst erschienenen Autobiografie auf ebenso überraschende wie eindrückliche und bewegende Art und Weise sein Kurzengagement als Trainer des israelischen Fußballclubs Maccabi Netanya schildert, widerfährt ihm gleichzeitig von gänzlich unerwarteter Seite so etwas wie späte literarische Genugtuung: der Tübinger Schriftsteller und Philosoph Robert Scheer hat ihn zum sympathischen Helden einer satirischen Erzählung in seinem großartigen literarischen Debüt „Der Duft des Sussita“ gemacht, in der er eine aberwitzige Handlung rund um dessen von zahlreichen kulturellen Missverständnissen geprägtes Trainerengagement im jüdischen Staat entfaltet und die so voller treffsicherer Pointen ist, dass man aus dem Staunen und Lachen kaum herauskommt:

„Hier isst man nur Koscheres [...]
So, habe ich gehört, sagte Lothar Matthäus. Kann man so etwas essen und genießen?
Nö. [...] Auf gar keinen Fall sollte man koscheres Essen zu sich nehmen. Es sei Gift. [...] Wenn man mit mir zusammen isst, isst man nur gutes Essen“

Sagt Onkel Sauberger, die wohl unvergesslichste Figur des Buches, eine geradezu messianische Gestalt, die eine ganz eigene überraschende Antwort auf die Herausforderungen des Lebens in Israel und auch einen möglichen Ausweg bereithält: den reichhaltigen und ungehemmten Verzehr von Schweinefleisch: „Alle Sorten, gebratene, rohe, gekochte, kalte und warme Gerichte“



Robert Scheer wurde 1973 im rumänischen Siebenbürgen geboren, besser bekannt auch unter der Bezeichnung Transsilvanien – deshalb darf man ihn wohl mit Fug und Recht als „Graf Dracula der jungen deutschen Literatur“ bezeichnen. Seine Muttersprache ist Ungarisch; 1985 wanderte er mit seinen Eltern und seinem Bruder nach Israel aus, wo er nach seinem Militärdienst und einer gescheiterten Karriere als Rockmusiker ein Philosophistudium begann, welches er aus Liebe zu Hölderlin in Tübingen fortsetzte, wo er auch heute lebt.

Israel ist ein Land so vieler Widersprüche, dass ein denkender Mensch, ein Philosoph noch dazu, nicht umhin kommt, sich zu diesen Widersprüchen zu positionieren. Robert Scheer hat dies geographisch getan, aber auch literarisch: mit scharfem politischen Verstand, Ironie, Sarkasmus, Skepsis und einem ungewöhnlich ausgeprägten unnachahmlichen Talent zur doppelbödigen Satire. Seine Texte erinnern an den frühen Ephraim Kishon, als dieser noch politisch war; er hat ein ungeheures Talent zur Schöpfung und auch sprachlichen Ausgestaltung unvergesslicher Charaktere, unter denen besonders der bereits erwähnte und wörtlich zitierte, schillernde Onkel Schlauberger herausragt, den man ohne jegliche Vorbehalte als ganz großen literarischen Wurf bezeichnen darf, dessen Geschichte mit diesem ersten Buch mit großer Sicherheit noch nicht gänzlich auserzählt ist.
 
Aber Robert Scheer schreibt keine Comedy. Seine Texte offenbaren reale Abgründe, die man nicht überwinden, sondern allenfalls aushalten kann. Und so erleben wir in seinen Texten eine kritische Beschreibung israelischer Verhältnisse, wie es sie in dieser Form noch nie in deutscher Sprache gegeben hat.

Gleichzeitig ist Israel aber auch – vielleicht gerade aufgrund eines permanenten Gefühls der Krise - ein Land unbändiger Lebensfreude; und dauch dafür gibt es zahlreiche Beispiele in Robert Scheers Buch, etwa eine wunderbare Liebesgeschichte in „Front Catering GmbH“ oder die absurde Geschichte eines ultraorthodoxen Juden, der die biblische Aufforderung „Seid fruchtbar und mehret euch!“ allzu wörtlich nimmt und seinen Lebensunterhalt ausschließlich als professioneller Samenspender bestreitet. „Der Duft des Sussita“ ist das wohl ungewöhnlichste Debüt eines jungen deutschsprachigen Schriftstellers seit langem, das hohe Erwartungen an zukünftige Bücher dieses originellen Autors weckt.

„Der Duft des Sussita“, erschienen bei Hanser Berlin, 157 Seiten, € 16,90

Dienstag, 20. November 2012

Jüdischer Fisch und deutsche Fische

„Deutsche Fische – so wie ich sie liebe“ heißt das neue großformatige Kochbuch des bärbeißigen norddeutschen Fernsehkochs und Spezialisten für rustikale Hausmannskost Rainer Saß. Man fragt sich, ob die von ihm porträtierten Fische Aal, Forelle und Kabeljau wohl damit einverstanden wären, dass man ihnen ausgerechnet in einem Werk der Kochliteratur einfach kollektiv die deutsche Staatsbürgerschaft verleiht? Ist nicht gerade die unstete, schwer fassbare Spezies der Fische – und innerhalb dieser die grenzüberschreitenden internationalen Meeresbewohner noch viel mehr als jene, die große länderübergreifende Flüsse und Ströme bevölkern – nicht geradezu dazu bestimmt als originäre liberale Freigeister und ungebundene, reiselustige Weltbürger par excellence zu gelten? Warum hat die angeblich verstandesmäßig allen anderen irdischen Lebewesen haushoch überlegene menschliche Spezies Nationalstaaten und Fremdenhass hervorgebracht, während sämtliche Ordnungen der Fische, soweit wir zu wissen glauben, eine Unterscheidung nach solcherart Kriterien nicht zu kennen scheint? Was unterscheidet jene angeblich deutschen Fische von sagen wir: französischen, polnischen – oder gar von jüdischen? Und warum zieht sie der spröde Küchenchef anderen vor?


Wenn es allerdings einen Fisch gibt, den man einigermaßen guten Gewissens als unverfälscht „jüdisch“ bezeichnen darf, dann ist es der berühmt-berüchtigte „gefillte Fisch“, dem nicht wenige unerschrockene Feinschmecker bei entsprechend sorgfältiger Zubereitung durchaus elementare, scharf umrissene Gaumenfreuden abgewinnen können, dessen Genuss ansonsten aber eher zu extremen kulinarischen Positionen anregt, die kaum gegensätzlicher ausfallen könnten: wer ihn nicht mag, wird ihn kein zweites Mal probieren – und der dennoch in kaum einem traditionell-aschkenasischem Festtagsmahl als Vorspeise fehlen darf. 

Die Wiener Historikerin, Autorin und Filmemacherin Helene Maimann hat in ihrem unterhaltsam-boulevardesken neuen Buch „Gefillte Fisch & Lebensstrudel – Eine jüdische Kochshow“ zahlreiche interessante Anekdoten, kulturgeschichtliche Denkwürdigkeiten sowie einige der bekanntesten traditionellen und neuen Rezepte der jüdischen Küche zusammengetragen, die in ihrer abwechslungsreichen Vielfalt ein wunderbares, höchst aussagekräftiges Beispiel dafür abliefern, dass und wie sehr Essen und Kochen ebenso wie die Alltagssprache oder das Leben selbst einer ständigen Wiederbelebung und Erneuerung durch unterschiedlichste neue Einflüsse ausgesetzt sind. So kam die Entdeckung von Fisch für die jüdische Küche geradezu einer kleinen Revolution gleich, da er zu keiner der beiden wesentlichen Kategorien zählt, die nicht gemeinsam verzehrt werden dürfen: fleischig und milchig und der sich daher für zahlreiche unbegrenzte Zubereitungsvariationen eignet, selbst wenn es nach den detaillierten jüdischen Speisegesetzen auch zahlreiche Fischarten und andere Meeresbewohner gibt, die aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften als unrein gelten und somit überhaupt nicht verzehrt werden dürfen. 


Auch wenn viele Gerichte, die wir heute mit jüdischer Küche assoziieren wie gehackte Leber, Bagel, sauer eingelegtes Gemüse oder eben der unvermeidliche gefüllte Karpfen grundsätzlich eher die wenig spektakuläre Arme-Leute-Küche des osteuropäischen Schtetl symbolisieren, ist dies nur eine sehr begrenzte Seite ihres vielfältigen internationalen Spektrums: Die jüdische Küche kennt keine Kulturgrenzen und ist im Laufe der Jahrhunderte immer für Anregungen anderer kulinarischer Traditionen offen gewesen, wovon einerseits das bereits vor fünf Jahren auf Deutsch erschienene wunderbare Kochbuch „Die neue israelische Küche“ von Janna Gur Zeugnis ablegt, worin vor allem europäische und nahöstliche Einflüsse auf einzigartige Weise zu einer ganz neuen kulinarischen Landschaft zusammenfließen und auf noch internationalere Art und Weise, da mit regionsspezifischen Rezepten aus allen wesentlichen jüdischen Gemeinden in der gesamten jüdischen Diaspora, das soeben veröffentlichte englischsprachige Kochbuch „Cooking from the Heart - A Journey Trough Jewish Food“ von Hayley Smorgon und Gaye Weeden. Es mag – bei einigem berechtigten Zweifel – durchaus einige Fische geben, die Wert auf die deutsche Staatsbürgerschaft legen – die reichhaltige jüdische Küche bleibt davon zu Recht unbeeindruckt.

„Gefillte Fisch und Lebensstrudel“, erschienen bei Picus, 154 Seiten, € 16,90

Donnerstag, 15. November 2012

„Ein Mann mit einer Tür“ von Asher Reich


Das Judentum als Religion ist angesichts seiner Jahrtausende währenden Verfolgung und Diskriminierung in der Diaspora nicht nur ein außerordentlich gutes Beispiel für das mit Sinn erfüllte Überleben einer theologischen Idee, sondern gerade in seinem uralten Ringen um eine unverkennbare eigene Identität auch ein wesentliches Vorbild für das philosophische Konzept des unbeugsamen ideellen Kampfes gegen alle politischen Widerstände. Und auch wenn die streng-orthodoxe Ausübung des Judentums mit ihren zahlreichen das tägliche Leben einschränkenden religiösen Vorschriften für den modernen Menschen aus aufgeklärter Sicht nicht mehr angemessen erscheint und sich aktuell eher eine zeitgemäße Auffassung von kulturellem Judentum weltweit ausbreitet, müssen wir dennoch anerkennen, dass es immer die orthodoxe und traditionsbewahrende, gleichzeitig jedoch auf lebhaftem theologischen Diskurs gründende Ausrichtung des Judentums war, die über Jahrhunderte eine unverwechselbare jüdische Identität bewahrt hat.

Diese substanzielle Erfahrung lässt sich auch an scheinbar unerheblichen Beobachtungen im modernen Staat Israel nachvollziehen: während die eher areligiöse Bevölkerungsmehrheit trotz ihrer nach wie vor unleugbaren vehementen zionistischen Verstrickung sich kulturell mehr und mehr ihrer arabischen Umgebung anpasst, leben dort gleichzeitig ultraorthodoxe Gruppen nach jahrhundertealten religiösen Vorschriften, wie sie der isolationistische Mikrokosmos des osteuropäischen Schtetl hervorgebracht hat. Ausgerechnet diese streng religiösen Gemeinden, deren Sprache bis heute Jiddisch ist und die in ihren archaisch scheinenden Sitten und Gebräuchen eine ursprüngliche Idee vom Judentum bewahren, lehnen jene Institution, die sich selbst als wichtigste, ja gar als einzige ernst zu nehmende Bewahrerin jüdischer Kultur der Moderne betrachtet: den zionistischen Staat, mit ebenso viel Überzeugung wie Leidenschaft ab. 


In dieses ambivalente, exotisch scheinende Milieu wurde der israelische Lyriker Asher Reich 1937 als Sohn von osteuropäischen Einwanderern hineingeboren: im berühmten ultraorthodoxen Jerusalemer Viertel Mea Shearim wuchs er auf und erhielt dort eine traditionelle jüdische Erziehung, die neben der üblichen Schulbildung wie selbstverständlich auch ein intensives Studium der Thora sowie des Talmud umfasste. Auch wenn der Schöpfer zahlreicher leicht zugänglicher, teilweise preisgekrönter Lyrikbände (auf Deutsch: „Arbeiten auf Papier“, 1992) sich bald vom orthodoxen Judentum abwandte, Hebräische Literatur und Philosophie studierte und sogar ins weltliche Tel-Aviv „emigrierte“, sind viele seiner Gedichte unverkennbar im orthodoxen Judentum und in der intensiven Kenntnis der kulturellen Überlieferung sowie der religiösen Texte verwurzelt, woraus sie einen Großteil ihrer literarischen und philosophischen Spannung erhalten. Gleichzeitig ist uns der Weg der innerlichen Befreiung – von den Einschränkungen der Erziehung zum wahren Selbst – intuitiv so vertraut, dass er dem Leser als einzig folgerichtiger erscheinen muss. Dennoch gelingt es Asher Reich in seiner Lyrik geradezu bravourös, jüdisch-orthodoxe Motive zu bewahren, indem er sie der Prüfung durch die Realität der Moderne unterzieht:

Ich legte Geduld aus heute nacht wie ein Fischer sein Netz
Für jene, die ein Licht bemerken.
Eine Lache aus Wachs glänzt in der Frühe
Wie die Steckdose in der Wand; mit ihr
Wird der Sonnenfaden verbunden: das Licht unserer Seele.

(aus dem Gedicht „Stromausfall“; Übersetzung: Efrat Gal-Ed und Christoph Meckel)

In den zehn intensiven Erzählungen des soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Bandes „Ein Mann mit einer Tür“ kehrt Asher Reich mit Hilfe seines Kindheits-Ichs nach Mea Shearim zurück und erinnert sich eindrücklich an eine traumverloren-entrückte archaische Welt, die – auch wenn der Autor selbst sie seit langem verlassen und innerlich überwunden hat – nahezu unverändert immer noch weiterexistiert – nicht nur in ihm selbst, als lebendige Erinnerung, sondern überall dort, wo Kinder in jüdisch-orthodoxe Lebenswelten hineingeboren werden, die augenscheinlich nicht der vorherrschenden Lebensrealität der Umgebung entsprechen. So gibt es in Reichs Erzählungen altväterischen Aberglauben zuhauf, moralische Engstirnigkeit, religiöse Verblendung und blindwütige Boshaftigkeit, aber auch echte lebensbejahende Spiritualität, mystischen Wunderglauben, Gottvertrauen gegen jede Vernunft und das größte Wunder von allen – die Liebe. Wir lernen eine durch ihre gemeinsamen religiösen Anschauungen gegenseitig und miteinander tief verbundene Gemeinschaft kennen, deren strenge Regeln nach Belieben zu erhöhen und auszugrenzen vermögen, die den Einzelnen nach Belieben zu bereichern vermag, solange er die Spielregeln befolgt – und die ihn erbarmungslos abstraft, wenn er das eigene Glück über das der Gemeinschaft stellt.

Es kann Asher Reich freilich nicht gelingen, die großen Fußstapfen von Schriftstellern wie Isaak Baschewis Singer (1902-1991), dessen Bruder Israel Joschua Singer (1893-1944) oder von Scholem Alejchem (1859-1916) auszufüllen, deren Romane und Erzählungen die Welt des traditionellen orthodoxen Judentums so kongenial abbildeten. In manchen Geschichten irritiert die herzlos scheinende Passivität des Erzählers, der immer wieder freimütig bekennt, nie nachgefragt zu haben, was aus seinem hochbegabten Jugendfreund Leibale geworden ist, einem für die Ergründung der Geheimnisse der Kabbala gleichsam geborenen, früh erwachsen gewordenen Albino, was aus den elenden, von ihrer eigenen Mutter verratenen Schwestern Bracha und Rivka oder aus seiner unvergessenen wunderschönen Jugendliebe Schoschana, der geheimnisvollen „Hindin der Morgenröte“: „Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch sehnte ich mich nach der schönen Schoschana, konnte sie ganz und gar nicht vergessen. [...] Ihre Gestalt schimmerte mir vor Augen wie ein ofenfrisches Sabbatbrot.“

Auch wenn es Asher Reich nicht vollends gelingt, die unverwechselbare poetische Sprache seiner Lyrik auf seine Erzählungen zu übertragen, vermag er dennoch beispielhaft, eine ganze Welt vor den Augen des staunenden Lesers auferstehen zu lassen, die ihm auf den ersten Blick allzu fremd erscheinen muss, um sich ihr anders als auf literarischem Wege nähern zu können – und deren Protagonisten er uns dennoch so nahe bringt, wie es nur ein begabter Poet und Schriftsteller vermag. Hierin erweist sich Asher Reich am Ende seiner Lebensspanne unverhofft doch noch als kabbalistischer Meister, indem er Leben in Poesie verwandelt.

„Ein Mann mit einer Tür“, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, erschienen bei S. Fischer, 301 Seiten, € 19,99

Montag, 12. November 2012

„Eskimo Limon 9“ von Sarah Diehl

Es bedarf schon einer ausgesprochen analytisch-filmwissenschaftlichen Sichtweise aus großem zeitlichen und biografischen Abstand, um die in den 1980er Jahren international erfolgreiche achtteilige israelische Filmreihe mit zunehmenden Softporno-Anteilen „Eis am Stiel“ als ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Dasein als israelischer Teenager in den 50er Jahren verklären zu können. Die in Berlin lebende, für ihr bisheriges Werk bereits preisgekrönte Dokumentarfilmerin Sarah Diehl (Jahrgang 1978) tut dies im Nachwort zu ihrem soeben erschienenen literarischen Debüt „Eskimo Limon 9“ ganz bewusst, um – wie sie sagt – einen von ihr diagnostizierten Mangel „an Wissen der Deutschen über das [lediglich] imaginiert Jüdische“ zu reflektieren und gleichzeitig einen „unautorisierten“ neunten, nun literarischen und gleichsam „seriösen“ Teil der Reihe vorzulegen. 


„Eskimo Limon“ ist der von der Autorin als diskriminierend gebrandmarkte Markenname eines israelischen Zitroneneises, nach dem die Filmserie im Original benannt wurde: „Eskimo Limon ist in etwa so schlimm wie der Sarotti-Mohr: verniedlichter Rassismus in Form eines Konsumproduktes, Ignoranz der Lebensrealität, an der sich die Anderen abkämpfen müssen.“ Damit ist gleichzeitig das übergeordnete Thema für Sarah Diehls Roman vorgegeben; doch die Autorin hat eine weitere für ihr Werk bedeutsame Theorie, die sie programmatisch gleich auf den ersten Seiten in der Gedankenwelt einer ihrer Protagonistinnen, der israelischen Mittdreißigerin Ziggy, erläutert: „Fiktionales zu lesen gab ihr das Gefühl eines öden Eskapismus. Die Erkenntnis, dass Realität wie Fiktion nur die zufällige Summe dessen war, was diese Welt hergab, war ihr erst allmählich gekommen. Mittlerweile empfand sie es als erleichternd, dass man mit einem Buch eine erfundene Welt aufklappen und sogar mit anderen Menschen teilen konnte.“ In dieser sehr engen Definition von Fiktion verkennt die Autorin allerdings die wunderbare Tatsache, dass gute Literatur immer Realität abbildet, Fiktion also weniger Erfindung als Findung einer geeigneten Form zur Abbildung von Leben ist. Auch wenn man der gelernten Kulturwissenschaftlerin und Dokumentarfilmerin Sarah Diehl die Erleichterung anmerkt, ihr prinzipielles Unbehagen gegenüber der literarischen Erfindung überwinden und somit gewissermaßen ihre gewohnte filmische Arbeit mit anderen Mitteln fortsetzen zu können, stellt gerade dies das größte Problem an ihrem Roman dar: denn anders als im Dokumentarfilm, in dem man scheinbar unverstellt leibhaftige Menschen mit ihren Meinungen auch im Sinne der eigenen Intention zu Wort kommen lassen kann, scheinen die seltsam leblos wirkenden Charaktere im Buch lediglich als künstliche Hüllen für Meinungen zu fungieren. 

Eine israelische Kleinfamilie zieht von Israel aus beruflichen Gründen in die hessische Provinz, wo sich ein merkwürdiges Geflecht von mitunter auch komischen Missverständnissen entfaltet, was jüdische Identität im Land der Täter im 21. Jahrhundert bedeutet. Dabei erweisen sich Israelis und Deutsche gleichermaßen als auf obskur-oberflächliche Weise vom Holocaust besessen, was unserer gegenwärtigen Lebensrealität in keiner Weise mehr zu entsprechen scheint und nur durch die von der Autorin herbeigeführte Konstellation erklärt werden kann, dass sich diese Geschichte in der hintersten hessischen Provinz abspielt, wo es anscheinend noch echte, vom ansonsten harmlosen Dorfdeppen angebrachte Hakenkreuzschmierereien gibt und selbst wohlmeinende Gymnasiallehrer in ihrer gesamten Schullaufbahn nur zwei türkische Gastarbeiterkinder zu Gesicht bekommen haben, von jüdischen Schüler gar nicht erst zu reden. Durchgängig irritierend ist die denkwürdige Tatsache, dass die Autorin immer „jüdisch“ schreibt, wenn sie „israelisch“ meint. Trotz vieler interessanter Gedankengänge und einiger höchst scharfsinniger, treffender Beobachtungen aus dem deutsch-jüdischen Alltag bleiben Sarah Diehls Charaktere insgesamt zu blutleer und die Handlung ihres Romans zu konstruiert, um literarische Spannung zu erzeugen oder gar nachhaltige innerliche Auseinandersetzung auszulösen.

Eskimo Limon 9“, erschienen bei Atrium, 320 Seiten, EUR 19,95

Donnerstag, 8. November 2012

„Zahltag“ von Petros Markaris

Kürzlich berichtete ein deutsches Nachrichtenmagazin über den Fall eines griechischen Journalisten, der in seiner durch die Auswirkungen von internationaler Finanzkrise und jahrzehntelangem staatlichen Missmanagement vor dem Bankrott stehenden Heimat verhaftet wurde, weil er die Namen mutmaßlich-säumiger millionenschwerer Steuersünder illegalerweise öffentlich gemacht hatte. Bemerkenswert an dieser modernen Robind-Hood-Geschichte ist allerdings weniger das für das natürliche Rechtsempfinden jedes mündigen Bürgers irritierend harte Vorgehen der Staatsorgane gegen einen lediglich im Sinne des Allgemeinwohls agierenden Rebellen, sondern vor allem deshalb, weil der Täter sich ganz offensichtlich, wenn auch auf vergleichsweise harmlose Art und Weise, von der prophetischen Handlung des im griechischen Original bereits im vergangenen Jahr erschienenen Kriminalromans „Zahltag“ von Petros Markaris (geboren 1937) inspirieren ließ, dem mittlerweile siebten Fall von dessen erzsympathischem kleinbürgerlichen Kommissar Kostas Charitos, der in vielerlei Hinsicht den Anschluss an die Moderne verpasst hat, sich aber dennoch immer ein feines Gespür für die alltäglichen Abgründe seiner Mitmenschen bewahren konnte, was ihn zu einem ausgezeichneten Kriminalisten macht, dem der Aufstieg innerhalb des Polizeiapparats ausgerechnet aufgrund seiner unverstellten Menschlichkeit bisher verwehrt geblieben ist. 

Jetzt sieht es allerdings erstmals anders aus: sein Vorgesetzter eröffnet ihm gleich zu Beginn des Buches überraschenderweise, dass er ihn für eine Beförderung vorgeschlagen habe – alles was er zu tun habe, sei weiterhin zuverlässig seine Arbeit zu verrichten, ohne dabei durch eine weitere seiner berüchtigten eigensinnigen Eskapaden aufzufallen. Obwohl Charitos nie der Sinn nach einer höher dotierten Laufbahn im administrativen Innendienst gestanden hat, freut er sich aufgrund der finanziellen Einschränkungen, denen er seit Beginn der Krise ausgesetzt ist, auf die Chance, mithilfe höherer Einkünfte nicht nur das eigene Leben sorgenfreier gestalten zu können, sondern auch seine Tochter, die als bestens ausgebildete promovierte Juristin seit Jahren keine Anstellung findet, weiterhin mit selbstlosen monetären Zuwendungen zu unterstützen – in Griechenland heute beileibe kein Einzelfall: zwei weitere junge Akademiker werden im Verlaufe des Romans ebenso aus wirtschaftlichen Gründen gemeinsam Selbstmord begehen wie eine Gruppe von hochbetagten Rentnerinnen: „Ich habe nicht vor, mir selbst vorzulügen, dass ich Arbeit habe“, sagt Charitos' Tochter in einem Streitgespräch mit ihren Eltern, die verhindern wollen, dass diese eine Tätigkeit für die UNO in Uganda annimmt. „Hier machen wir uns doch alle etwas vor. Die einen, dass sie einen Job haben, die anderen, dass sie Reformen durchführen, die dritten, dass sie die Gesetze anwenden. Wir leben doch alle in einer Scheinwelt.“
 
In der Tat ist es für jeden Leser, der außerhalb Griechenlands gerade nur so lala von der internationalen Finanzkrise betroffen ist und keine wirklich existenziellen Sorgen zu bewältigen hat, eine ausgesprochen erdende Erfahrung, Petros Markaris Bericht aus erster Hand zu lesen. In dessen ebenso spannendem wie geistreichen Plot geht es um einen todbringenden selbsternannten „nationalen Steuereintreiber“, der schwerreichen säumigen Steuerzahlern ihre Verfehlungen im Detail vorrechnet und diese zur Zahlung von Millionenbeträgen an das jeweils zuständige Finanzamt erpresst. Nach dem zweiten entsprechenden Mord und gezielt lancierten Pressemeldungen, die den „nationalen Steuereintreiber“ zum umjubelten Volkshelden aufwerten, entspinnt sich eine kapitale Staatsaffäre – Geheimdienst und Innenministerium mischen sich aktiv in die Polizeiarbeit ein, und Kostas Charitos muss lange um seine wohlverdiente Beförderung bangen. Wer wirklich erfahren möchte, wie es dieser Tage tatsächlich in Griechenland zugeht, kommt an den Romanen von Petros Markaris nicht vorbei.

„Zahltag“, aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger, erschienen bei Diogenes, 420 Seiten, € 22,90

Montag, 5. November 2012

„Wenn die Nacht am stillsten ist“ von Arezu Weitholz


Wenn die Nacht am stillsten ist, zwischen drei und vier Uhr morgens, öffnet sich der Mensch lebhaft träumend der schillernd-faszinierenden Welt des eigenen unerforschten Unbewußten. Selbst wenn er in diesen besonderen Stunden die Nacht in Clubs oder Bars zum Tage macht, allein vom Tanz, von Drogen oder purer Lebenslust beseelt, scheint der Zustand zwischen Wachen und Träumen zu einem berückenden Zwischenreich weitestmöglich geöffneter Sinne zu verschwimmen. Die schlaflos-traurige Protagonistin und Icherzählerin in Arezu Weitholz' intensivem Debütroman über die Liebe, seit dem letzten Frühstück unverhofft Single, folgt einem für sie selbst kaum erklärlichen inneren Unruhezustand spätnachts in die Wohnung ihres Exfreundes Ludwig, wo sie diesen nach einer Überdosis Tabletten mit dem Tode ringend vorfindet. Mit lapidar-rätselhaften Worten hatte er die bereits acht Monate währende, vor den Kollegen der Redaktion eines bedeutenden Gesellschaftsmagazins jedoch beharrlich geheim gehaltene Beziehung zu Anna am Morgen beendet: „Du hast alles begriffen, nicht? Jetzt ist alles gut. Du hast es verstanden.“ 

An seinem Bett sitzend, ihm die kühle Hand haltend, erforscht sie selbst mit wachen Sinnen und liebevoll-kritischer, allumfassender Schonungslosigkeit die gemeinsame Geschichte einer denkwürdigen Liebe zwischen zwei erwachsenen Menschen, die trotz aller nur allzu augenscheinlicher Unterschiede wie für einander gemacht scheinen. Der erste Teil des Romans, in dem Anna dem bewusstlosen Ludwig von den zahlreichen Brüchen in ihrem Leben erzählt, dem Selbstmord des Vaters, den Depressionen ihrer Mutter im Altersheim, von denen der ebenso feinsinnige und kunstbesessene wie arrogante und erfolgsverwöhnte hippe Jungliterat nie etwas wissen wollte, auch von wilden Partys in Südafrika und von Drogen, Schmerz und Tod, erinnert in seiner entschiedenen Schärfe an Birgit Vanderbekes literarische Demontage des abwesenden Vaters in ihrer preisgekrönten Erzählung „Das Muschelessen“. 


Im zweiten Teil schildert Arezu Weitholz, die bislang vor allem für ihre journalistischen Arbeiten und ihre Liedtexte für Herbert Grönemeyer, Udo Lindenberg oder Zweiraumwohnung sowie ihre kuriosen Fischgedichte bekannt ist, den zurückliegenden Tag ihrer hinreißenden Protagonistin seit Ludwigs unerwarteten Worten beim Frühstück. Wir erleben die wundersame Wandlung eines einsamen Menschen, dessen Leben bisher fast ausschließlich im schönen Schein der Literatur, der gesellschaftlichen Analyse, der Mode und der Musik stattfand, der nie Zweifel an seinem Talent und seinen Fähigkeiten aufkommen ließ und dem bisher alles gelungen ist. Der seine Liebesunfähigkeit hinter einer Maske der Unfehlbarkeit versteckt, die im Zusammenprall mit der schmerzvoll-lebenserfahrenen Anna erstmals Risse bekommt: „»Es gibt kein Mädchen für mich.« [...] War er vielleicht gar nicht so cool, so souverän? Sie fragte: »Du hast noch nie eine getroffen?« – »Nein.« Er verzog das Gesicht. »Sie sagen die falschen Sachen. Sie sehen falsch aus. Das macht mich nervös. Ich kann damit nicht gut umgehen.«“ Und im eigenen Befremden Annas darüber, dass sie sich mit Ludwig unermesslich wohl fühlt, obwohl er sie mit seiner Art immer wieder verletzt, erleben wir verblüfft das große Mysterium der Liebe: „Du hast zu mir gesagt: »Ich will, dass du heile aus der Sache herauskommst«, als wäre ich eine vorübergehende Erscheinung, als wäre es von Beginn an vorbei gewesen. Nichts ist vorbei. Nie ist etwas vorbei! Ich habe heute den halben Tag mit Leuten zugebracht, die du nie kennenlernen wirst [...] und immer wieder habe ich dabei an dich gedacht. Ich hatte dich bei mir.“ Der Schluss des Romans bleibt offen, aber „am Ende geht es um den Moment.“ Dieser ist die einzige Hoffnung.

Wenn die Nacht am stillsten ist“, erschienen bei Antje Kunstmann, 224 Seiten, € 17,95

„Die letzten Tage von Stefan Zweig“ von Guillaume Sorel und Laurent Seksik


Unter dem Titel „Vorgefühl der nahen Nacht“ erschien Anfang letzten Jahres eine bemerkenswerte, selten einfühlsame und kenntnisreiche literarisch-biografische Skizze des französischen Schriftstellers Laurent Seksik über die letzten Tage von Stefan Zweig und seiner jungen Ehefrau Lotte im brasilianischen Exil. Angesichts der ideellen und materiellen Zerstörung seiner geistigen Heimat Europa durch den Nationalsozialismus und veranlasst von der von ihm als gleichsam unumkehrbares Schlüsselereignis des Krieges wahrgenommenen Eroberung Singapurs durch japanische Truppen hatte er gemeinsam mit seiner schwerkranken Frau in der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 1942 laut Abschiedsbrief „aus freiem Willen und mit klaren Sinnen“ seinem Leben mit einer Überdosis Veronal im Alter von sechzig Jahren ein unnötig frühes Ende gesetzt. 

Schon 1925 hatte der berühmte Schriftsteller in seinem Kleist-Essay „Der Kampf mit dem Dämon“ dessen Mord an seiner kranken Geliebten und den anschließenden Selbstmord als vorgebliches „Meisterwerk“ verklärt. Nun hat der begabte französische Zeichner Guillaume Sorel gemeinsam mit Laurent Seksik als Texter dessen preisgekrönten Roman zu einer großformatigen, mit elegischen Bildern von großer melancholischer Schönheit aufwartenden, den Leser teils beeindruckenden, teils verstörenden Graphic Novel verdichtet, die ihrerseits die in jeder Hinsicht endgültige Sichtweise Stefan Zweigs auf das Tabuthema Selbstmord mit geradezu berückend schönen farbigen Zeichnungen für den Betrachter auf kongeniale Art und Weise „als wäre man an seiner Stelle“ erfahrbar macht.

Eine zentrale Szene in dem aufwendig gestalteten Band „Die letzten Tage von Stefan Zweig“ ist eine kleine Abendgesellschaft anlässlich von Zweigs sechzigstem Geburtstag, während der er sein aus diesem Anlass verfasstes Gedicht „Abschied vom Leben“ rezitiert: 

Vorgefühl des nahen Nachtens
es verstört nicht – es entschwert
reine Lust des Weltbetrachtens 
kennt nur, wer nichts mehr begehrt 

Nicht mehr fragt, was er erreichte 
nicht mehr klagt, was er gemisst 
und dem Altern nur der leichte 
Anfang seines Abschieds ist.

Niemals glänzt der Ausblick freier 
als im Glast des Scheidelichts 
nie liebt man das Leben treuer 
als im Schatten des Verzichts.

Tief verletzt und erschüttert verlässt die lebenslustige, fast dreißig Jahre jüngere, jedoch schwer an Asthma erkrankte Charlotte die Gesellschaft und beruhigt sich erst wieder, nachdem sie ihrem Mann das heilige Versprechen abgerungen hat „zu leben“. Trotz niederschmetternder Nachrichten aus Europa und aus dem Freundeskreis im Exil versucht das ungleiche Paar noch einmal mit ganzer Kraft, sich im Dasein festzukrallen: gemeinsam besuchen sie noch im Februar den Karneval in Rio, Inbegriff des unbeschwerten, rauschhaften Lebens mit allen Sinnen. Doch für den in seiner Depression gefangenen Stefan Zweig ist es der Tanz auf dem Vulkan – als die Nachricht eintrifft, dass Singapur gefallen sei, verliert er jegliche Hoffnung. 

So erweist sich der „Abschied vom Leben“, wie er ihn im Gedicht literarisch überhöht hat, weniger als lebenssatter Verzicht denn vielmehr als fatale Unfähigkeit, sich nicht nur einer wenn auch welterfahrenen Idee vom Leben zu stellen, sondern dem Leben selbst. Anders als viele seiner Schriftstellerkollegen im Exil musste Zweig aufgrund seiner bemerkenswerten weltweiten Popularität keinerlei wirtschaftliche Not leiden. Das Ende des Buches ist in seiner Beschwörung der romantischen Liebe „Ich werde dich nie verlassen“ - „Ich werde über deine Seele wachen“ geradezu rührend. „Die letzten Tage von Stefan Zweig“ ist mit seinen zahlreichen unvergesslichen Bildern und intensiven Szenen ein absolut glänzendes Beispiel für die Möglichkeiten der dokumentarischen Graphic Novel.

Die letzten Tage von Stefan Zweig“, erschienen bei Jacoby & Stuart, 85 Seiten, € 24

„Mensch Nazi“ von Stephan Krawczyk


Das Wort „Mensch“ wird im Jiddischen üblicherweise nicht nur als bewährtes Synonym für ein Mitglied der jüdischen Gemeinschaft gebraucht, sondern im weitesten Sinne auch für einen guten, also einen moralisch lauteren, ausgeglichenen und integren Menschen. Wenn der bekannte Liedermacher, Schriftsteller und DDR-Bürgerrechtler Stephan Krawczyk (geboren 1955) dieses unendlich bedeutsam scheinende Wort im Titel seines neuen Romans in engste Beziehung zu dem Wort „Nazi“ setzt, muss er sich bewusst sein, dass er mit zwei so einfachen Begriffen kaum einem größeren Gegensatz Ausdruck hätte verleihen können, ist doch unser Bild vom „Nazi“ im wesentlichen das eines moralisch verrohten sowie in seiner geistigen und emotionalen Entwicklung zurückgebliebenen brutalen Barbaren. 

Und doch müssen wir zweifellos konstatieren, dass wir aus dem milden Blickwinkel unserer humanistischen Weltanschauung heraus selbst den verblendetsten Nazi zweifellos als zur menschlichen Rasse zugehörig anerkennen müssen. Das traurig-reale Bild neuen rechtsradikalen Terrors in Deutschland, das sich angesichts der sogenannten Döner-Morde ergibt, aber auch aufgrund des ungewohnt-offensiven Auftretens vieler rechter Gruppen in der Öffentlichkeit, übertrifft in seinem Ausmaß schlimmste Befürchtungen, radikale Meinungen – das beweisen neueste Umfragen ein ums andere Mal – erreichen zunehmend die sogenannte Mitte der Gesellschaft und scheinen sich dort festzusetzen. Es spricht also sehr für Stephan Krawczyks immer noch intaktes Gespür für die großen Themen unserer Zeit, wenn er in seinem neuen Buch mit ermutigend klarer und umsichtiger Gedankenführung, treffend-genauen sprachlichen Bildern und lebenserfahrener Nachsicht von den Feinheiten der Menschwerdung berichtet, nicht nur anhand der Begegnung mit einem gewalttätigen Neonazi in einer Kreuzberger Kneipe, sondern vor allem auch angesichts der zahlreichen Herausforderungen im eigenen Bestreben, seinem spät geborenen Sohn eine liebevolle Erziehung zu einem selbständigen, verantwortungsbewussten Menschen zuteil werden zu lassen. 

Mitreißend und genau skizziert Krawczyk die alles andere als unausweichliche Mutation eines in den letzten Tagen der DDR nur unzulänglich sozialisierten jungen Menschen zum Neonazi, von der auf durchaus exemplarische Art und Weise, wenn auch in eher reißerischem Stil, auch der Szeneaussteiger Manuel Bauer in seinem zeitgleich erschienenen Buch „Unter Staatsfeinden – Mein Leben im braunen Sumpf der Neonaziszene“ berichtet. Für beide jugendliche Protagonisten bietet die verquere Ideologie ihrer deutschtümelnden quasireligiösen Vorbeter in Zeiten radikalen sozialen Umbruchs im deutschen Osten die einzig erkennbare Orientierung weit und breit. Freilich gelingt es dem Literaten Krawczyk vielmals besser, dies verstandesmäßig zu hinterfragen und zu formulieren: „Wären Neonazis nicht chronisch gewaltbereit, könnte man sie als Wiedergänger, als Untote abtun, die zur geschichtsträchtigen deutschen demokratischen Gesellschaft im Medienzeitalter einfach dazugehören. Die Seelen der Nazis haben keine Ruhe gefunden. Als Neonazis kehren sie zurück. Leider sind sie nicht wie im Volksglauben Geister und Erscheinungen, sondern brutal körperlich.“ 

Krawczyks Antwort auf die Herausforderung des Neonazismus fällt gleichzeitig entwaffnend einfach, aber angesichts unserer zunehmend marginaler werdender Gesellschaftsstrukturen und des Rückzugs vieler Menschen in die selbst gewählte Anonymität als Konsument ebenso kompliziert aus: Wenn wir, die Nächsten und Nahen im engsten familiären Rahmen nicht dafür Sorge tragen, dass sich unsere Kinder zu verantwortungsvollen sozialen Menschen entwickeln können, wird es umso schwerer den Gewaltbereiten noch mit Zivilcorage beizukommen.

Mensch Nazi“, erschienen bei edition chrismon, 160 Seiten, € 14,90

„Zwei lange Unterhosen der Marke Hering“ von Ariel Magnus


Am Ende von Ariel Magnus’ wunderbarer, sensibel-komisch-aufwühlender Recherche über das Leben und Überleben seiner originell-verschrobenen Großmutter in Nazi-Deutschland sowie im brasilianischen Exil und auf regelmäßigen Reisen in die alte unbequeme, aber dennoch geliebte Heimat schließt sich ein Kreis, der „sich nie hätte öffnen sollen“, wie er im Nachwort zur jetzt erschienenen deutschen Ausgabe in deren Muttersprache schreibt: „Die Urenkelin [...] kam im September 2007 in Berlin zur Welt. [...] Drei Generationen brauchte die Rückkehr der Unerwünschten, deren Ausrottung binnen kürzester Zeit erfolgte. Für wie lange diesmal, ist schwer vorherzusagen. Zumindest so lange, wie ihr Sündenbock-Posten an andere Menschengruppen vergeben ist, wie es leider jetzt nicht nur in Deutschland, sondern in weiten Teilen Europas der Fall zu sein scheint.“ 

Ariel Magnus (geboren 1975) und seine Geschwister sind als Nachkommen deutsch-jüdischer Emigranten in Argentinien geboren worden, die herzerwärmend-kauzige Persönlichkeit ihrer nicht mehr als einen Meter fünfzig großen, aber innerlich umso stärkeren Großmutter mit all ihren Eigenheiten und ungewöhnlichen Vorlieben für Deutschland und deutsche Produkte dominierte die Familie so sehr, dass sie, bis auf den Autor selbst, der vor einigen Jahren als erfolgreicher Schriftsteller nach Argentinien zurückkehrte, heute wieder wie selbstverständlich in Deutschland leben. Ausgehend von einem Besuch seiner Großmutter in Berlin im Rahmen einer ihrer jährlichen Kuren in Deutschland, auf die sie als ehemalige Krankenschwester ein festes Anrecht hat, rollt Ariel Magnus mit größtmöglicher Empathie die Stationen ihres Lebens auf: 1920 geboren, machte sie ab 1938 am jüdischen Krankenhaus in Hamburg eine Berufsausbildung zur Krankenschwester. Nach erfolglosen Bemühungen über Verwandte eine Stelle in den USA vermittelt zu bekommen, stieg sie im März 1943 aus eigenem Willen in einen Zug nach Theresienstadt, um ihre blinde Mutter zu suchen, die sie anschließend ebenso freiwillig nach Auschwitz begleitete – und hätte ihr bei der Selektion nicht ein deutscher Soldat mit einem Kolbenschlag seines Gewehres den Kiefer gebrochen, wäre sie ihr gar in die Gaskammer gefolgt. Nachdem sie die Todesmärsche überstanden hatte und in Bergen-Belsen befreit worden war, nutzte sie Kontakte nach Schweden, wo sie bis zu ihrer endgültigen Emigration nach Brasilien als Krankenpflegerin arbeiten konnte.

Auf ausdrücklichen Wunsch seiner Großmutter und aus der Notwendigkeit einer "vollständigen Würdigung ihrer schillernden Persönlichkeit" sowie der Umstände ihres Lebens ist Ariel Magnus’ Buch das wohl ungewöhnlichste Buch über die Schrecken der Schoah geworden, das wir seit langem lesen konnten: „Umso besser, ich mag diese Bücher nicht, in denen die Überlebenden die Bemitleideten sind“, wie ihm die Großmutter schon vor Vollendung des Manuskripts ins Stammbuch schrieb. Beim auf denkwürdige Art und Weise missglückten Videointerview der Shoah-Stiftung (in portugiesischer Sprache!) hatte sie sich noch heftig darüber aufgeregt, dass der Interviewer nicht einmal den Namen Hitler in korrektem Deutsch aussprechen konnte. Der Enkel machte es später besser und zeigt auf wunderbare Art, dass und auf welche Weise das Leben einer Überlebenden auch nach der Befreiung weitergeht. „Wenn auch mit gemischten Gefühlen, kehrte Oma nicht in ihr Land zurückt – sie versuchte, nie gegangen zu sein. Sie verzichtete auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit, [...] doch das Band, das sie mit diesem fremden und eigenen Boden verbindet, hat sich mit der Zeit nicht gelockert. In Brasilien sieht sie die Deutsche Welle und liest deutsche Zeitschriften; alle ihre Freundinnen sind teutonischer Herkunft und ihr Geld hat sie bei einer deutschen Bank.“ Ariel Magnus’ Buch ist ein großes literarisches Geschenk.

Zwei lange Unterhosen der Marke Hering“, aus dem Spanischen von Silke Kleemann, erschienen bei Kiwi, 176 Seiten, € 18,99

Sonntag, 4. November 2012

„Reise nach Jerusalem“ von Ayman Sikseck


Während das hebräische Wort für Katastrophe, Shoah, heute so untrennbar mit der fabrikmäßigen Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten konnotiert ist, dass sich im alltäglichen Sprachgebrauch eine andere, mildere Bedeutungsebene geradezu verbietet, versteht die gesamte arabische Welt unter dem vom Wortsinn her in ihrer gemeinsamen Sprache nahezu identischen Begriff Nakba mit derselben Ausschließlichkeit die Gründung des Staates Israel und die damit verbundene Vertreibung von 700.000 Palästinensern aus ihrer Heimat. So bewirkt, wenn man versucht, sich eine neutrale Perspektive zu eigen zu machen, rein semantisch der Ausweg aus der Katastrophe eine neuerliche Katastrophe. Diesen gewaltigen Widerspruch auszuhalten, nicht nur gedanklich, sondern im alltäglichen Leben, ist das große Dilemma des Jüdischen Staates, unter dem seine heterogene Gesellschaft langfristig zu zerbrechen droht. Mit seinem ersten Roman „Reise nach Jerusalem“ meldet sich nun ein junger Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft eindrucksvoll in hebräischer Sprache zu diesem schwierigen Thema zu Wort.

 Bemerkenswert an der nun vorliegenden, von Ruth Achlama gewohnt sorgfältig und sprachlich reich übersetzten deutschen Ausgabe ist die ungewöhnliche Tatsache, dass diese offenbar nicht mit finanzieller Förderung des staatlich-israelischen Institute for the Translation of Hebrew Literature zustande gekommen ist, obwohl gerade Siksecks intensives Buch ein gutes Beispiel für den postulierten und gerne vorgeführten Reichtum der hebräischen Literatur darstellt. Sein namenloser Protagonist, ein Palästinenser aus Jaffa, schreibt sich für ein von seinen Eltern finanziertes Literaturstudium an der Hebräischen Universität. Als Fremder in Jerusalem, der aufgrund seiner arabischen Herkunft unter den überwiegend jüdischen Kommilitonen nur langsam Anschluß findet, wird ihm nach und nach auch die durch rege Bautätigkeit mehr und mehr ihren arabischen Charakter einbüßende Heimatstadt Jaffa immer fremder, was er im Detail während langer Spaziergänge ebenso akribisch wie sachlich und reflektiert in seinem literarischen Notizbuch festhält. 

Als Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit bleibt der Protagonist sowohl für die jüdischen Israelis als auch für die Palästinenser aus den besetzten Gebieten ein argwöhnisch beäugter Fremder, obwohl er an beiden Welten seit frühester Jugend aktiv Anteil nimmt; in der Liebe kann er sich nicht zwischen der Jüdin Nitzan entscheiden, die ihn zunächst mit Alkohol abfüllt und dann verführt, und seiner arabischen Freundin Scharihan, die er nur heimlich treffen darf, solange ihre Beziehung nicht den offiziellen elterlichen Segen erhalten hat. Die zirkusreif-artistische Aufrechterhaltung beider Beziehungen droht ihn schließlich ebenso zu zerbrechen wie die Unklarheit seiner persönlichen Identität als palästinensischer Israeli oder israelischer Palästinenser. Eine der stärksten und bezeichnendsten Szenen im Roman ist jene, in der er mit Nitzan zusammen in einem öffentlichen Bus nach Tel-Aviv reist und unterwegs plötzlich eine Frau mit traditionallem muslimischem Kopftuch und einer ungewöhnlich großen, verdächtig erscheinenden Tasche zusteigt, die von nahezu allen Fahrgästen als mögliche Attentäterin verdächtigt und nach einem handfesten Übergriff aus dem Bus gedrängt wird. Der Icherzähler leugnet nicht nur seiner Freundin gegenüber die eigene Angst, sondern auch vor sich selbst. Das besondere an Ayman Siksecks auch sprachlich begeisterndem Roman ist die überaus versöhnliche Tatsache, dass er nicht als zorniger junger Mann schreibt, sondern allein im Bestreben, den unseligen status quo mit literarischen Mitteln anzuerkennen und damit einen nützlichen Anstoß zu seiner Bewältigung zu geben.

Reise nach Jerusalem“, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, erschienen bei Arche, 159 Seiten, € 18,-