Es sagt sehr viel aus über die ungewöhnlich ausgeprägte allgemeine
Verbreitung zeitgenössischer hebräischer Lyrik in der israelischen
Gesellschaft, dass Poesie dort im europäischen Vergleich nicht nur
beim gewöhnlichen Lesepublikum gegen den Trend überdurchschnittlich
populär geblieben ist, sondern die Verse zahlreicher international
bedeutender Lyriker mittels unbefangen-einfühlsamer Vertonungen
durch unterschiedlichste israelische Komponisten, Musiker und Bands
auch wie selbstverständlich Teil der Rock- und Popmusik geworden
sind und sich so innerhalb der gesamten Bevölkerung einer so großen
Alltagsdurchdringung erfreuen dürfen, wie sie hierzulande
allenfalls Herbert Grönemeyer, Rammstein oder Peter Maffay mit ihren
Texten erreichen, während zeitgenössische Lyrik höchstens in
süßlich-weichgespülten orchestralen Rilke-Vertonungen vorkommt.
Ironischerweise hebt eine solch “sangliche” Art der Vertonung
allerdings die von der modernen Lyrik von jeher mit großem
Engagement vorangetriebene Trennung von Sprache, Inhalt und Form
wieder auf, um die als vollkommen eigenständige, von der Musik und
der davon vorgegebenen Struktur getrennte Kunstform zu ihrer
usprünglichen Einheit im Lied zurückzuführen.
Der 1930 in Berlin geborene Nathan Zach (eigentlich: Harry
Seitelbach) gehörte neben seinem auch international viel gelesenen
und in mehr als vierzig Sprachen übersetzten Zeitgenossen Jehuda
Amichai (1924-2000) in den 1950er und 60er Jahren zu den wichtigsten
und bedeutendsten Erneuerern der neuhebräischen Dichtung, die bis
dahin vor allem durch einen mitunter groteske Ausmaße erreichenden,
wesentlich vom russischen Symbolismus abgeleiteten Formwillen und der
damit einhergehenden abgehoben-pathetisch-theatralischen Geste
geprägt und damit eher dem Theater als dem Lied wesensverwandt war.
Zach und Amichai, gemeinsam mit den einflussreichen
Literaturkritikern Gershon Sheked und Benjamin Harshav die treibenden
Kräfte der Gruppe Likrat (“entgegen”), befreiten in ihrer
Lyrik das Neuhebräische von Formzwang, Pathos und Erstarrung und
schufen gerade in der nüchtern-rationalen Auseinandersetzung mit
biblischen (Sprach-)Bildern besonders eindringliche, hoch poetische
und treffende literarische Auseinandersetzungen des Einzelnen mit der
prosaischen Realität des modernen Staates Israel in einer allgemein
verständlichen und unmittelbar zugänglichen, von der Last des
Religiösen befreiten Alltagssprache.
Während Amichai bis heute weltweit zu den am meisten gelesenen
zeitgenössischen Dichtern gehört und international allgemein als
bedeutendster israelischer Lyriker des Zwanzigsten Jahrhunderts gilt,
dessen glänzend-unverwechselbares Werk auch im großen Umfang in
seine deutsche Muttersprache übersetzt wurde, kennt der deutsche
Leser Nathan Zach allenfalls augrund von wenigen in diversen
Anthologien erschienenen Einzelgedichten oder aus Batya Gurs
ungewöhnlichem, im Literaturseminar der Hebräischen Universität in
Jerusalem angesiedelten Kriminalroman “Am Anfang war das Wort”,
in dem dessen berühmtes Gedicht “Simsons Haar” im Rahmen der
Handlung ausführlich analysiert wird.
So kann man den Suhrkamp-Verlag kaum genug dafür loben, dass nun
endlich, in Nathan Zachs dreiundachtzigstem Lebensjahr eine erste
deutschsprachige Anthologie im Rahmen des hauseigenen Imprints
Jüdischer Verlag erscheinen konnte, die einen der
bedeutendsten Dichter Israels (in der ungewöhnlichen Schreibweise
Natan Zach) in seinem ganzen sprachlichen und handwerklichen
Reichtum sowie seiner metaphorischen Originalität erstmals in seiner
Muttersprache angemessen präsentiert und seinen Namen unwillkürlich
auf eine Stufe mit Dichtern wie den Griechen Giorgos Seferis
(1900-1971), Iakovos Kambanellis (1921-2011) oder eben Jehuda Amichai
hebt.
Manchmal sehnt sich Gott
nach Hiob, seinem süßen Knecht. Der aber starb.
Von Gott entfernt ist Hiob nun,
so wie von andern Dingen, Engeln.
Was tut Gott?
Er liest – man glaubt es kaum –
das Buch der Psalmen. Auswendig kann er es noch nicht,
und die Dinge darin beruhigen sehr:
So viele Gedichte.
Ein großes, weites Meer,
und Tiere ohne Zahl, groß und klein,
und Bäume, viele Bäume, und immer wieder Wasser.
“Keine Finsternis und kein Todesschatten”,
wiederholt er sich mit schwacher Stimme,
erinnert sich danach an etwas mit liebevollem Vorwurf:
Und da weint Gott,
für ihn ist kein Trost, sich trösten lassen will er nicht
um Hiob, seinen süßen Knecht, den süßesten aller Knechte,
dessen jedes Augenrund war wie ein Himmelreich.
Hiob seinem Knecht war keiner gleich
zu allen Zeiten, bis auf den heutigen Tag.
Nathan Zachs Dichtung ist nicht nur sprachlich tief verwurzelt im
Alltag des Individuums, seine Themen sind so vielfältig und im
allerbesten und auch schmerzlichsten Sinne “alltäglich” wie die
zahlreichen widersprüchlichen Leidenschaften des Menschen, die
intellektuellen ebenso wie die sinnlichen – es verwundert also
kaum, dass der Leser sich darin nicht nur unwillkürlich überaus
empathisch-treffend wiedererkannt und bestens aufgehoben fühlen
darf, sondern auch dass Zachs Gedichte in seiner sprachlichen Heimat
zu Recht auch im scheinbar banalen Einerlei der Popmusik präsent
sind, um diese zu erden und zu verwandeln.
Die wesentlichen Themen der von Ehud Alexander Avner (geboren 1981)
mit viel poetischem Einfühlungsvermögen und echtem, organischem
Sprachgefühl übersetzte und vom Autor selbst getroffene Auswahl
sind zum einen die Literatur, insbesondere das Gedicht, der Tod, die
Liebe sowie die (Gott-)Verlassenheit des modernen Menschen.
Jedes Klingeln an der Tür, und darauf die Enttäuschung,
lässt mich dastehen wie einen leeren Jesus,
der spät nachts um Herberge bittet
und vor verschlossnen Türen stehen bleibt.
Und siehe da, ich öffne ihm, es ist doch Pflicht,
und hülle ihn in Leichentuch und mich in Weiß,
und nutze die Gelegenheit, seinen Mantel zu berühren,
welcher einmal mir entschlüpfte.
Und ich such im Zimmer, find auch eine Liegestatt für ihn,
eine, die möglichst wenig Schmerz bereitet,
und denk an einen Philosophen, der gesagt hat, Verzweifeltsein
sei des Menschen Prüfstein, das und das allein,
und richte eine kleine Ecke ein für die Verzweiflung, die meine,
und eine große für die Seine.
Ungeachtet einiger von der israelischen Öffentlichkeit mit
verständlichem Entsetzen aufgenommenen verblendet-altersmüden
rassistischen Aussagen über die vermeintliche kulturelle
Unterlegenheit sephardischer Juden in einem skandalträchtigen
Fernsehinterview im Jahr 2010, gehört Zach dennoch zu den wenigen
“staatstragenden” Dichtern, die sich nicht nur jenseits der
Literatur, sondern auch konkret in ihren Werken durchaus auch bewusst
kontrovers zu den Dogmen des Zionismus sowie zur Besatzungspolitik
geäußert haben:
Freitag, der Tag, da die Leviten
Halleluja sangen. Laut
einer nicht bestätigten Meldung
habe ein Mann versucht, sich dem Sperrzaun zu nähern.
Unbekannt, warum.
Es werde noch ermittelt.
Ein Vermerk ist gestern eingetragen worden
in die Personalakte eines Kommandanten.
Er habe ein kleines Mädchen irrtümlich getötet.
Ihre Tasche sei ihm verdächtig vorgekommen.
Auf unserer Seite keine Verluste.
In Nathan Zachs Versen findet der von der Realität wund geschliffene
moderne Mensch genau das, wonach er sich in seiner unfassbaren
schmerzlichen Vereinzelung vielleicht am allermeisten sehnt: einen
aus tiefem poetischen Mitgefühl gespeisten, unverkennbaren, vitalen
literarischen Trost, der in Sprache und Duktus immer wieder
überraschend intensiv in die Bilderwelt der biblischen Psalmen
eintaucht, aber dennoch voll und ganz der vielschichtigen, von
zahlreichen Enttäuschungen geprägten Erfahrungswelt unserer
Gegenwart verpflichtet ist und Intellekt und Gefühl auf
kraftvoll-virtuose Art und Weise bravourös miteinander zu versöhnen
vermag. Es ist eine gute Nachricht, dass die unverwechselbare,
beharrliche Stimme Nathan Zachs endlich auch in deutscher Sprache
vernommen werden kann.
“Verlorener Kontinent”, aus dem Hebräischen von Ehud Alexander
Avner, erschienen im Jüdischen Verlag, 93 Seiten, € 19,95