Jerusalem

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Dienstag, 30. September 2014

„Gelebtes Leben“ von Emma Goldman

Wenn man entgegen der am weitesten verbreiteten Auffassung unserer Zeit geneigt ist, das weite Feld der Politik nicht etwa als lebensfremd und realitätsfern, sondern vielmehr als nicht eben unbedeutenden Teil des täglichen Lebens zu begreifen, dann kann die fast tausend Seiten umfassende Autobiografie der berühmten amerikanischen Anarchistin, Feministin und Friedensaktivistin Emma Goldman (1869-1940) weit mehr als ein nostalgischer Gruß aus unendlich fern scheinenden Zeiten sein, in denen das aus unserer Perspektive geradezu rührend anmutende Berufsbild des professionsmäßigen Revolutionärs nicht gerade selten war.




„Gelebtes Leben“ („Living My Life“, 1931) ist in der Tat ein äußerst treffender Titel für ein in dieser Ausgabe um ein erstmals übersetztes Nachwort der Autorin und einen erhellenden einleitenden Essay von Ilija Trojanow ergänztes lebenspralles Werk, das vor allem leidenschaftlicher Ausdruck der hellwachen, allaufmerksamen Betroffenheit sowie des unermüdlich-vitalen gesellschaftlichen und politischen Engagements seiner Autorin ist, aber auch Zeugnis ihrer tief empfundenen Liebe zum Leben als allumfassendem Kampf für die Befreiung des Individuums von jeglichen es in seiner persönlichen Entwicklung einschränkenden Faktoren.

Mein Leben, so wie ich es gelebt habe, verdanke ich allen, die hineingekommen sind, kurze oder lange Zeit verweilten und es wieder verließen. Ihre Liebe, ebenso wie ihr Hass, haben es lebenswert gemacht.

Die im heutigen litauischen Kaunas geborene Tochter eines jüdischen Theaterdirektors war von frühester Jugend an geprägt vom Elend der russischen Arbeiterklasse, mit revolutionärem und anarchistischem Gedankengut kam sie bereits vor ihrer im Alter von siebzehn Jahren erfolgten Emigration nach Amerika als junge Fabrikarbeiterin in Sankt Petersburg in Berührung. Die Arbeitsbedingungen in den USA bestärkten sie in ihren radikalen politischen Ansichten und nach ihrer Flucht aus einer unglücklichen Ehe in die aufkommende Metropole New York entwickelte sie sich durch die persönliche Bekanntschaft mit wichtigen amerikanischen Vordenkern der anarchistischen Bewegung wie Johann Most und ihrem langjährigen Geliebten und lebenslangen engen Freund Alexander Berkman alsbald selbst zu einer der Schlüsselfiguren der radikalen amerikanischen Arbeiterbewegung.




Ihre langjährige feste Auffassung, dass politisch motivierte Gewalt einschließlich Mordes als wichtiges Mittel zur Herbeiführung gesellschaftlichen Wandels anzusehen sei, modifizierte sie erst nach ihrer Ausbürgerung und Deportation nach Russland durch die USA im Jahr 1919 angesichts des für sie vollkommen desillusionierenden hautnahen Erlebnisses der Folgen der russischen Oktoberrevolution: die unweigerlich in Staatsterror mündende Entwicklung der noch jungen Sowjetunion sah sie bereits in den zwei Jahren ihres dortigen Aufenthalts, also lange vor Stalin voraus und vertrat von nun an die Ansicht, dass Gewalt lediglich als Mittel der Verteidigung im revolutionären Kampf als legitim anzusehen sei, jedoch nie zum eigentlichen Prinzip erhoben werden dürfe, da solcher institutionalisierter Terrorismus letztlich konterrevolutionär wirke.

Mein Leben – ich hatte es gelebt mit seinen Höhen und Tiefen, in bitterer Trübsal und jauchzender Freude, in schwarzer Verzweiflung und fiebernder Hoffnung. Ich hatte den Kelch bis zum letzten Tropfen geleert. Ich hatte mein Leben gelebt. Würde ich die Gabe haben, dieses mein Leben zu schildern?

Eine der hervorstechendsten Qualitäten von Emma Goldmans Memoiren ist die Tatsache, dass sie die Gefahren und Fehlentwicklungen des historischen Anarchismus zu keiner Zeit beschönigt und uns als Leser die einmalige Gelegenheit gibt, ihre persönliche und politische Entwicklung aus erster Hand miterleben zu dürfen. Neben ihren politischen Kämpfen erhalten wir auch erstaunlich offenen Einblick in ihr von dem Prinzip der „freien Liebe“ geprägtes Sexualleben und erleben eine faszinierende, kostbare, absolut wegweisende Frauenpersönlichkeit von außergewöhnlicher Strahlkraft, über die Ilija Trojanow in seinem Vorwort, Albert Einstein absichtlich falsch zitierend, vollkommen zu Recht sagt: „Zukünftige Generationen werden kaum glauben können, dass ein Mensch wie sie jemals auf Erden gewandelt ist.“

„Gelebtes Leben“, aus dem Englischen von Marlen Breitinger, Renate Orywa und Sabine Vetter, erschienen bei Edition Nautilus, 927 Seiten, € 24,90

Montag, 29. September 2014

„Die Bäume spielen Wald“ von Tadeusz Dąbrowski

Es hat lange keine so gegenwärtige Lyrik gegeben wie die ebenso eingängigen wie eigentümlichen Verse des jungen polnischen Dichters Tadeusz Dąbrowski (geboren 1979), die in ihrer einmaligen poetischen Aussagekraft, Unmittelbarkeit und Prägnanz dem Leser sofort unvergesslich bleiben müssen, sobald er einmal das große, unverhoffte Glück gehabt hat, ihnen begegnen zu dürfen. Wenn der ebenso weltenumspannende wie missverständliche Begriff der Spiritualität nicht durch oberflächliche esoterische Trends in unserer Gesellschaft so dauerhaft negativ besetzt wäre, müsste man Dąbrowskis Verse als überaus geglückten, vollkommen neuartigen Versuch über eine poetisch gereinigte, in höchstem Maße zugängliche weltliche Religiosität bezeichnen.




Dabei kann dem weltoffen-gegenwärtigen Dichter ganz offensichtlich kaum etwas ferner liegen als eine Art neuer Kirche der Poesie zu schaffen. Wenn es in seiner Dichtung überhaupt einen nennenswerten Anklang an religiöse Traditionen im landläufigen Sinne gibt, ist es vielleicht eine vage Ahnung von der Verfolgung des nicht-institutionellen frühen Christentums, die in Dąbrowskis bemerkenswerter, weil durchaus nicht unversöhnlicher, wenig radikaler konsum- und obrigkeitskritischer Grundhaltung deutlich wird, die nahezu allen seiner Verse den unverkennbaren Anstrich eines vieldeutig-anspielungsreichen, ironisch-distanzierten Schreibens aus dem dunklen Herzen eines ungreifbaren, aber unverkennbaren allgegenwärigen Totalitarismus zu verleihen scheint.



Der Lebende versteht den Toten nicht der Tote versteht
den Lebenden und sein Unverständnis.

Der Lebende glaubt so sehr nicht an den Himmel dass wenn
man ihm anböte ewig im Sessel zu sitzen

gezwungen auf einen Bildschirm zu starren aus dem
er auf sich den Schauenden schauen würde – er wäre

dabei. Oder wenn der Himmel klein sein sollte aber
gewiss wie der Sarg auch dann wäre er einverstanden. Wenn

der Tote dem Lebenden erzählen wollte
wie es wirklich ist müsste er

schweigen.




Gerade vor diesem duldend-pessimistischen Hintergrund eines oftmals übermächtig werdenden Gefühls einer von keiner der beiden Seiten gewollten, systemimmanenten Unterdrückung der individuellen Persönlichkeit, das der Dichter ohne jeden Zweifel mit vielen Menschen in der westlichen Welt teilt, stellt er in seinen Werken immer wieder auf originelle, weltoffene Art und Weise die überaus drängende ewig junge, aber von jeder Generation neu zu stellende Frage, wie der Einzelne nicht nur seine Individualität und sein Verlangen nach Glück im Rahmen seiner persönlichen Interessen, Möglichkeiten und Talente bestmöglich auszuleben vermag, sondern diese idealerweise auch nachhaltig und auf von ihm ebenso wie von seinen Mitmenschen objektiv erfahrbare und nachprüfbare Art und Weise mit Sinn erfüllen kann.




1.
Dichtung ist
wenn du's spürst

dieses
Etwas

spürst du's?

2.
(wenn nicht
lies das Gedicht
noch mal)





Ein Zustand radikaler, weltoffener Gegenwärtigkeit mit allen Sinnen ist zweifellos eine der besten und erfolgversprechendsten Geisteshaltungen, um sich den vielfältigen Erfordernissen des Alltags zu stellen. Tadeusz Dąbrowski gelingt es auf ebenso unaufdringliche wie humorvolle Art und Weise, vor allem jene guten und kostbaren Dinge in unserem Leben zu benennen, die es wert sind, dass wir ihre unter den Umständen verborgene Poesie und Sinnhaftigkeit wieder zu erkennen vermögen. Dabei bringt er mitunter sogar den erheblichen Mut auf, (der ihn auch angreifbar macht,) seine Leser mit einer bestimmten Erkenntnis emotional zu überwältigen oder gar zum reinigenden Weinen zu bringen, was insbesondere innerhalb der deutschen Dichtung seit der Befreiung vom Nationalsozialismus und dessen absurder ästhetischer Bevormundung von der selbsterklärten deutschen Lyrikpolizei zum strengstens verbotenen Terrain erklärt wurde, worunter die Rezeption dieser literarischen Gattung in Deutschland bis heute leidet.



Ein Glas Milch. Ein leeres Glas Milch. Worin unterscheidet es sich
von einem leeren Glas Wasser, von einem leeren Glas Luft?

Es gibt Stillen: eine männliche, eine weibliche und eine neutrale.
Die Stille vor dem Sturm und die Stille nach dem Sturm. In der
Nacht

höre ich, wie im Garten Äpfel fallen. Dieses Geräusch,
stockdumpf, ist die Stille nach dem Geräusch, an dem

sie hingen. Ist der leere Himmel nicht schön? Wir ziehen ein
in die Stille bis über beide Ohren, in die eustachische Röhre.



Die Emotion kann aber als Werkzeug der Erkenntnis auch heute noch ein praktikables und hochwirksames Mittel genuiner Dichtung sein, wenn sie sich damit nicht in den zweifelhaften Dienst einer politischen Ideologie stellt, sondern allein die überaus wünschenswerte intellektuelle und emotionale Reinigung und Befreiung des menschlichen Individuums im Sinne hat. Tadeusz Dąbrowski begnügt sich aber nicht damit, allein das „Gute“ zu benennen, sondern findet auch deutliche und klare Worte für jene ungünstigen strukturellen Erscheinungsformen und subjektiven Einzelphänomene, die diesem wünschenswerten, gleichsam natürlichen Begehren entgegenwirken. Dabei findet er in insbesondere auch in den speziellen Objekten und Ereignissen der Gegenwart immer wieder überaus treffende Metaphern, wodurch er diese explizit milde-billigend anerkennt und sich damit deutlich von einem möglichen Rückzug in eine trügerische poetische Idylle distanziert.



[...] hier, in der Hälfte des Lebens – denn du bist immer
in der Hälfte – hörst du plötzlich, wie die Preise einfrieren,
wie Kühlschränken und Obdachlosen der Bauch zu knurren aufhört,
wie Tumore und Politiker keine Lust mehr haben, das Offensichtliche
zu vermehren, die Toten fürchten nicht um ihren Kontostand
in der Schlange an der Kasse, die Tattoos explodieren am Himmel,
der sein blindes Auge zudrückt beim Unfug
der Wolken und der Teenies im Wohnheim, die Kugel
des Attentäters hängt in der Luft und ist noch nicht
tödlich, der Gedanke erstarrt zwischen den Synapsen. Da erscheint
die Poesie und drängt den Hirsch zur Flucht. [...]
Niemand hat sie gesehen. Doch ohne sie ist nichts
gemacht,
was gemacht ist.




Trotz seiner charakteristischen weltlichen Spiritualität, die seine Verse für den unvoreingenommenen Leser so attraktiv und unverwechselbar machen, bleibt bei Tadeusz Dąbrowski das Private und Persönliche auf ebenso anschauliche wie entschiedene Art und Weise immer auch untrennbar verbunden mit dem dezidiert Politischen. Mit seiner hochgradigen künstlerischen Originalität, seinem selbst in der klangvollen Übersetzung von Renate Schmidgall noch unverkennbaren individuellen Ton und seiner unmittelbaren Zugänglichkeit hat der Dichter eine aufregend zeitlose neuartige Lyrik für eine neue Generation von Lesern geschaffen. Die nun vorliegende Auswahl im Rahmen der verdienstvollen Edition Lyrik Kabinett bei Hanser bietet die denkbar beste Möglichkeit, die hervorragende, unabhängige Stimme Dąbrowskis zu entdecken. Eine politischere Dichtung als jene, die keine Grenze zieht zwischen den unterschiedlichen Sphären des Öffentlichen und des Privaten und die Gegenwart zum einzig erstrebenswerten Lebensraum macht, ist kaum denkbar.



Die Bäume spielen Wald“, aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, erschienen bei Hanser, 102 Seiten, € 15,90

Donnerstag, 25. September 2014

„Auslöschung“ von Jeff VanderMeer

Das Alien-Thema aus Ridley Scotts berühmtem gleichnamigen Film von 1979 existiert bereits in unzähligen verschiedenen, an den unterschiedlichsten real-irdischen und fiktiv-außerirdischen Handlungsorten angesiedelten Varianten: der aussichtslose Kampf des Menschen gegen eine dominante, ihm biologisch überlegene Lebensform rührt an eines der größten und hartnäckigsten Missverständnisse, die sich aus einer allzu oberflächlichen Auseinandersetzung mit den geistigen Errungenschaften der Aufklärung und des von ihr in Gang gesetzten Strebens nach wissenschaftlicher Weltdurchdringung ergeben haben. Denn auch wenn die Wissenschaft bei der Definition von intelligentem Leben heute wesentlich großzügiger ist als noch vor hundert Jahren, gilt der Mensch aufgrund seiner kognitiven Fähigkeiten immer noch als das am höchsten entwickelte Lebewesen. Dass ein anderes, möglicherweise noch unbekanntes Lebewesen ihm an biologischer Intelligenz, Durchsetzungskraft und Reproduktionsfähigkeit überlegen sein könnte, gilt nicht nur als vollkommen undenkbar, sondern ist unter der Oberfläche unseres zivilisatorischen Bewußtseins auch ein fundamentaler Auslöser von existenzieller Angst.


Die metaphorische Begegnung mit dem Alien als Archetyp des kaltblütigen Vernichters alles Menschlichen, sowohl des Konkret-Physischen als auch des Geistigen, darf somit durchaus auch als konsequente Weiterentwicklung von Joseph Conrads Reise ins „Herz der Finsternis“ gewertet werden: denn während dort der europäische Kolonialismus in Gestalt des skrupellosen Mr. Kurtz lediglich die menschenverachtende Brutalität eingebildeter weißer Überlegenheit über die schwarzafrikanische Umwelt symbolisiert, lernen wir hier eine im biologischen Sinne vollkommen neuartige außerirdische Lebensform kennen, die den Menschen tatsächlich nicht nur mühelos zu dominieren vermag, sondern sich auch in ihrem gleichsam „natürlichen“ absoluten Vernichtungswillen sämtlichen verstandesmäßigen menschlichen Maßstäben zu entziehen scheint. Es gehört indes zur üblichen Dramaturgie eines Hollywood-Blockbusters, dass am Ende dennoch wie durch ein Wunder  meist das Prinzip des Menschlichen obsiegt.

Ein Feuer wird kommen, das deinen Namen kennt und im Angesicht der alles erdrückenden Frucht wird seine dunkle Flamme dich vollständig in Besitz nehmen.

Der erfindungsreiche und mit zahlreichen genretypischen Preisen ausgezeichnete amerikanische Fantastik-Schriftsteller Jeff VanderMeer variiert dieses bislang hauptsächlich in der Popkultur präsente Thema nun in einer fesselnden Mischung aus literarischem Psycho-Thriller und Öko-Science-Fiction in seiner großartigen neuen Trilogie „Southern Reach“ auf geradezu atemberaubende Art und Weise, indem er der absoluten Verlorenheit seiner Protagonistin, einer jungen Biologin, in der unverhofften Grenzsituation ihrer erzwungenen Kontaktaufnahme mit einer fremdartigen heterogenen Lebensform sowie ihrer eigenen durch Pilzinfektion der Atemwege ausgelösten fortschreitenden Metamorphose mit den verfeinerten Mitteln der Literatur Ausdruck verleiht. Dabei gelingt es dem Autor scheinbar mühelos und ohne Abstriche bei seiner eigenen künstlerischen Originalität machen zu müssen, zahlreiche bisherige cineastische und literarische Bearbeitungen des Themas im Leser unterschwellig auf reizvolle Art und Weise mitschwingen zu lassen. Und während wir im Film stets vom actionreichen Lauf der Handlung optisch überwältigt zu werden drohen, eröffnet uns Jeff VanderMeer die ebenso dankbare wie reizvolle Möglichkeit, die intellektuellen und emotionalen Reaktionen der Protagonistin als Prozess von ungewisser Ahnung bis zur schrecklichen Erkenntnis in mächtigen Sprachbildern und treffenden Metaphern nachzuvollziehen.


Jenseits einer mysteriösen „Grenze“, deren physische Natur der Autor während des gesamten Verlaufs des Buches in Übereinstimmung mit den Behörden stets im Numinosen belässt, befindet sich eine weitläufige, mehrere Quadratkilometer große militärische Sperrzone, die auf der äußersten Seite vom Ozean begrenzt wird. Unzählige Expeditionen sind im Verlauf der letzten Jahre bereits an der scheinbar simplen Aufgabe gescheitert, das einstmals von Menschen kultivierte, nun aber bereits seit mindestens einer Generation verlassene Gebiet ausführlich zu vermessen und zu kartieren sowie seine Flora und Fauna zu beschreiben. Diesem scheinbar überschaubaren Anforderungsprofil folgend, bricht zu Beginn des Romans eine weitere Expedition von vier Frauen zu Fuß in die geheimnisvolle Area X auf, zu der außer der leitenden Psychologin eine Vermesserin, eine Biologin (als Icherzählerin) und eine Anthropologin gehören. Kurze Zeit nachdem die vier Frauen im Anschluss an einen kräftezehrenden Tagesmarsch durch unberührte Natur ihr festgelegtes Basislager bezogen haben, werden sie auf einen offenbar tief in den Erdboden führenden Schacht aufmerksam, der in keiner bisherigen Karte verzeichnet ist und der wider jede Wahrscheinlichkeit aus organischem Material zu bestehen scheint. Bei einer ersten vorsichtigen Begehung des sich nach logischem Muster treppenähnlich hinabwindenden Ganges entdeckt die Biologin eine endlos mäandernde sinnfällige Schriftfolge an der Wand, die aus Moosen und Pilzen zu bestehen scheint und bei vorsichtiger Brührung Sporen absondert.

Wo liegt die alles erstickende Frucht die aus der Hand des Sünders erwuchs Ich werde die Saat der Toten gebären und mit den Würmern teilen die in der Dunkelheit sich versammeln und die Welt mit der Macht ihrer Leben umzingeln während in düsteren Gängen anderer Orte Formen die niemals waren und niemals sein durften sich mit der Ungeduld der Wenigen krümmen die nie erblickten was hätte sein können in den schwarzen Wassern über denen die Sonne um Mitternacht scheint werden die Früchte zur Reife kommen und im Dunkel dessen was golden ist aufbrechen und enthüllen die Offenbarung der verheerenden Sanftheit der Erde

Während der Nacht werden die vier Frauen von markerschütternden, menschlich klingenden Klagelauten aus dem naheliegenden Sumpf aufgeschreckt und am Weiterschlafen gehindert. Als am nächsten Morgen die Anthropologin spurlos verschwunden bleibt, bemerkt die Biologin während der eilends einberufenen Krisenbesprechung zu ihrer großen Überraschung, dass sie – vermutlich aufgrund ihrer vor den anderen Teammitgliedern verschwiegenen Sporeninfektion – gegen die erstaunlich häufig eingesetzten hypnotischen Befehle der Psychologin zur Beschwichtigung der Teilnehmerinnen immun geworden zu sein scheint, die sie zuvor gar nicht hatte wahrnehmen können. Der Titel des Buches „Auslöschung“, so stellt sich später heraus, ist eine Suggestionsformel der Expeditionsleiterin, die sofortigen Suizid auslösen soll. Dass die Psychologin weit mehr über den wahren Charakter des Sperrgebiets zu wissen scheint als sie zugibt, wird indes immer deutlicher. 



Bei einem zweiten, tieferen Vorstoß in den Tunnel – die Biologin nennt ihn, einer spontanen Intuition folgend, den „Turm“, da er wie eine ins Erdinnere weisende, umgekehrte Kopie des wenige Kilometer entfernt stehenden Leuchtturms wirkt – findet sie gemeinsam mit der Landvermesserin die grausam verstümmelte Leiche ihrer verschwundenen Kollegin. Dieser ist es vor ihrem Tod offenbar noch gelungen, eine Gewebeprobe von jenem amorphen, eine schleimartige Substanz absonderden Wesen zu nehmen, von dem sie ermordet wurde und das allem Anschein nach auch für die biblisch-prophetisch klingenden Worte an den Wänden verantwortlich zeichnet. Die rätselhafte Probe wird sich später auf zellulärer Ebene zweifelsfrei als menschliche Gehirnmasse identifizieren lassen. Erschüttert kehren die beiden Wissenschaftlerinnen ins Basislager zurück, wo sie nun feststellen müssen, dass die Psychologin überstürzt geflohen ist und sämtliche Waffen und Nahrungsvorräte mitgenommen hat.

Und was hatte sich da manifestiert? Was glaubte ich? Stellt es euch als einen Dorn vor, einen langen, dicken Dorn, so groß, dass er sich tief in die Flanke der Welt gebohrt hat. Der sich selbst in die Welt injiziert. Von diesem gigantischen Dorn geht ein suchtartiger, vielleicht automatisierter Impuls aus, zu assimilieren und zu imitieren. Assimilat und Assimilant interagieren durch einen Katalysator, ein Worte-Skript, das der Motor der Transformation ist. Vielleicht ist es ein Lebewesen, das in perfekter Symbiose mit seinen Wirtskreaturen lebt. Vielleicht ist es auch „nur“ eine Maschine. Aber in beiden Fällen hat es Intelligenz, eine Intelligenz, die von unserer völlig verschieden ist. Sie schafft aus unserem Ökosystem eine neue Welt, deren Prozesse und Ziele uns völlig fremd sind – sie arbeitet auf einzigartige Weise mit Spiegelungen und indem sie auf vielfältigste Art im Verborgenen bleibt, und bei alldem gibt sie keinerlei Informationen über ihre Andersartigkeit preis, weil sie zu dem wird, auf das sie trifft.

Während die Biologin unverrichteter Dinge allein aufbricht, um auf eigene Faust den Leuchtturm zu erkunden, den sie für den einzig möglichen Fluchtpunkt der Expeditionsleiterin hält, verbleibt die militärisch ausgebildete Vermesserin mit dem einzigen funktionstüchtigen Sturmgewehr im Basislager, um die Stellung zu halten. Auf dem Weg zum Leuchtturm bemerkt die Biologin als weitere Auswirkung ihrer geheimnisvollen Sporeninfektion eine äußerst verfeinerte allumfassende Sinneswahrnehmung, die sie schließlich unfehlbar auch vor dem unerwarteten Mordversuch der Vermesserin mit ihrem Präzisionsgewehr bewahren soll. Und die sterbende Psychologin wird ihr wenig später sagen, dass sie sie selbst schon von weitem als lodernde Flamme auf den Leuchturm zuschreiten gesehen habe. In dem verlassenen, von einem erbitterten Kampf gezeichneten Gebäude findet sie außerdem die erschütternden schriftlichen Hinterlassenschaften sämtlicher früherer Expeditionen, deren fieberhafte stichprobenartige Auswertung sie schließlich unweigerlich zu einem erneuten Vorstoß in den umgekehrten Turm zwingt, um ihre furchtbare Theorie überprüfen zu können.

Jeff VanderMeer

Als sie schließlich aus tiefsten Tiefen an die Oberfläche zurückkehrt, hat sie aus ihrer erschütternd- qualvollen, überwältigenden Begegnung mit dem symbolträchtigen unterirdischen Wesen in treffender Analogie zum archetypischen psychischen Prozess einer Nachtmeerfahrt trotz ihrer fortschreitenden körperlichen Transformation neue seelische Stärke und eine frische, unverstellte Sicht auf die brüchig gewordene Realität gewonnen.

Diesen Teil werde ich allein absolvieren, ich lasse alles hinter mir. Folgt mir nicht. Ich bin euch inzwischen weit voraus und sehr schnell unterwegs. Hat es überhaupt jemals jemanden wie mich gegeben, der die Toten begräbt, bereut, weitermacht, nachdem alle anderen tot sind? Ich bin das letzte Opfer sowohl der elften als auch der zwölften Expedition. Ich werde nicht nach Hause zurückkehren.


Der absolut begeisternde Auftaktband zu Jeff VanderMeers Southern Reach Trilogie ist nicht nur die reizvollste literarische Beschreibung einer körperlichen Metamorphose seit Franz Kafka, sondern auch eine der gelungensten literarischen Abhandlungen seit langem über die Begegnung des menschlichem Individuums mit der fremdartigen Welt seines persönlichen sowie des kollektiven Unbewussten. Gleichzeitig weist der Autor aber auch auf den Reichtum des Lebens der diesseitigen Welt. Mit der bestechenden wissenschaftlichen Beschreibung und Analyse der vermuteten Biologie und Wirkungsweise der von seiner furchtlosen Protagonistin entdeckten Lebensform sowie deren beängstigender, unwiderstehlicher Interaktion mit der Umwelt, deckt der Autor wie nebenbei einen wesentlichen Mangel in unserer eigenen beschränkten Weltsicht auf. Das von Jeff VanderMeer so virtuos heraufbeschworene Konzept eines Wesens, das in perfektem Einklang mit sich und seiner Umwelt lebt, ist ein absolutes literarisches Ereignis, dessen übergeordneten Sinnfälligkeit sich kein Leser zu entziehen vermag. Mit den umfangreichen handlungsbezogenen Implikationen und vielschichtigen philosophischen Fragestellungen von „Auslöschung“ ist nun das dankbare, weite Themenfeld für die beiden im Verlauf des nächsten Frühjahrs erscheinenden Folgebände gegeben – von hier aus ist buchstäblich alles möglich.

„Southern Reach Trilogie, Band I: Auslöschung“, aus dem Amerikanischen von Michael Kellner, erschienen bei Antje Kunstmann, 240 Seiten, € 14,95

Freitag, 12. September 2014

„Auf der richtigen Seite“ von William Sutcliffe

Als sein wertvoller Lederfußball im Spiel über einen stark befestigten Bauzaun fliegt, der innerhalb der Siedlung als absolute No-go-Area gilt, lässt sich der dreizehnjährige Joshua auch von der offensichtlichen Panik seines gleichaltrigen Freundes nicht davon abhalten, in der beginnenden Abenddämmerung heimlich über die mehrere Meter hohe, massive Absperrung in das dahinter liegende verlassene Areal zu klettern, um sein heissgeliebtes Spielgerät zurückzuerlangen. Jenseits der Absperrung findet er einige nur wenige Jahre alte Mauerreste und einen von schweren Maschinen planierten, offenbar ehemals blühenden Garten. Und durch einen ungewöhnlichen Lichtblitz, der, wie er bald feststellt, von einer in spontanem Schrecken fallen gelassenen brennenden Taschenlampe herrührt, wird er auf den in den Ruinen verborgenen Eingang zu einem gut befestigten mannsengen Schacht aufmerksam, der mehrere Meter senkrecht in die Erde führt.



William Sutcliffes hoch intelligenter, ungewöhnlich handlungsreicher und absolut packender Jugendroman „Auf der richtigen Seite“ über eine verlorene Jugend in einer fiktiven, mit militärischen Mitteln gesicherten jüdischen Siedlung in der Westbank bedient sich eines durchaus zulässigen literarischen Tricks, um unsere unvoreingenommene Aufmerksamkeit zu erlangen: sein ebenso ernsthafter wie aufgeweckter junger Protagonist entspricht nicht annähernd dem Bild, das wir uns nicht ganz zu Unrecht gemeinhin von einem Jugendlichen zu machen pflegen, der innerhalb der radikalen, nationalistisch-verzerrten Weltanschauung der israelischen Siedlungsbewegung aufgewachsen ist, sondern scheint die liberalen Grundsätze des westeuropäischen Pluralismus intuitiv voll und ganz zu teilen. Aus diesem Grund vermag Joshua seinem natürlichen kindlichen Entdeckerdrang keinerlei ideologische Glaubenssätze oder sonstige Vorbehalte entegenzusetzen und gelangt durch den engen Schacht direkt in einen schmalen Tunnel, der ihn mit Hilfe der Taschenlampe direkt auf die andere Seite der Mauer führt, die bevölkerungsreiche Kerngebiete Israels seit 2003 von den palästinensischen Gebieten trennt.

David ist mein bester Freund in Amarias, aber er nervt total. Amarias ist ein seltsamer Ort. Würde ich an einem normalen Ort leben, wäre David bestimmt nicht mein Freund. [...] Ich sehe ihm hinterher. Sogar seine Art zu gehen nervt mich – er watschelt, als wären seine Schuhe aus Blei. Er will mal Kampfpilot werden; ich glaube allerdings, er kann niemals eine Maschine bedienen, die komplizierter ist als eine Fahradpumpe, so ungeschickt, wie er sich anstellt.

Es ist William Sutcliffe absolut hoch anzurechnen, dass er nicht der durchaus naheliegenden Versuchung erlegen ist, seine spannende Geschichte als abstrakten Science Fiction mit lediglich verschlüsselten Bezügen zur aktuellen Wirklichkeit des israelisch-palästinensischen Konflikts zu inszenieren, sondern dass er stattdessen eine konkret denkbare Handlung innerhalb des festen Rahmens jener Möglichkeiten entworfen hat, die die schmerzvollen Grenzen der Realität seinem literarischen und politischen Anliegen setzen. Im überaus reichen, versteckten Gehalt der metaphorischen Ebene entspricht die Handlung seines Romans überraschenderweise einer modernen Froschkönig-Geschichte, in deren Verlauf der jugendliche Protagonist die von der israelischen Mehrheitsgesellschaft verdrängte „andere Seite“ der unterdrückten Palästinenser zu integrieren lernt, um im Sinne einer gelungenen Individuation auf die „richtige Seite“ seines Selbst zu gelangen.


Fuck the wall/Die Mauer in Bethlehem

Am Ausgang des Tunnels stolpert Joshua direkt in die verwinkelten Gassen einer unübersichtlich strukturierten, ärmlichen palästinensischen Stadt, wo er von einer Meute hasserfüllter Jugendlicher sofort als offensichtlicher Fremdkörper erkannt und in spontaner, unbegreiflicher Mordlust bis zur Erschöpfung durch das labyrinthisch-verzweigte Viertel gejagt wird. Ein gleichaltriges Mädchen rettet ihn, indem es ihn in ihr Elternhaus einlässt und die Verfolger in eine falsche Richtung schickt. Der Weg zurück nach Hause gelingt schließlich unter Führung des Mädchens in traditioneller arabischer Kleidung. Trotz seiner offensichtlichen und kaum zu leugnenden Verletzungen verschweigt Joshua seinen lebensgefährlichen Ausflug vor seinen Angehörigen, da er die unversöhnliche Haltung seines verhassten, fanatischen Stiefvaters kennt, der seine Mutter und ihn nach dem gewaltsamen Tod seines leiblichen Vaters während dessen Reservediensts in die isolierte israelische Siedlung „verschleppt“ hat.

Manchmal, wenn ich mir die Soldaten angucke“, sagt er, „kann ich es kaum erwarten. [...] Bis wir endlich dran sind. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlen wird? Die Uniform tragen. Ein Gewehr. Und dann gehst du auf die andere Seite, und alle Leute haben Angst vor dir und tun alles, was du ihnen sagst.“ - Ich wende mich ab. Ich kann es mir nicht vorstellen. Selbst wenn ich versuche, mir ein Bild davon zu machen, dann schaffe ich es nicht, es realistisch aussehen zu lassen. Das erste Gesicht, das mir einfällt, ist das des Mädchens. Und als das Bild in meinem Kopf klarer wird und ich sie vor einem Maschinengewehr sehe – vor meinem Maschinengewehr –, zerstört es David mit seiner aufgeregten Quikstimme: „Und wenn irgendwer dich ärgert oder nicht tut, was du sagst...“ Er wirft mir den Fußball zu, reißt sich das eingebildete Gewehr von der Schulter und feuert drei unsichtbare Schüsse ab. „Duff! Duff! Duff!“

Die intensive persönliche Begegnung mit der anderen Seite beginnt Joshua inzwischen nachhaltig zu verändern: sein zum überstürzten Abschied dem hilfreichen Mädchen – Leila! – gegebenes Versprechen, sich bei ihr mit Lebensmitteln für die unverhoffte Rettung zu bedanken, lässt ihn nicht mehr los. Während sich die häusliche Situation im Verhätnis zu seiner Mutter und seinem Stiefvater aufgrund seines offensichtlichen Schweigens und seiner vermeintlichen Unzuverlässigkeit in zermürbenden Auseinandersetzungen stetig verschärft, reift in ihm der heimliche Plan, noch ein einziges Mal in die Westbank zurückzukehren, um der palästinensischen Familie die bitter entbehrten Grundnahrungsmittel zu bringen. Dieser in höchstem Maße riskante Besuch verläuft zwar noch dramatischer und verhängnisvoller als der erste, doch als Joshua schließlich nach Hause zurückkehrt, besitzt er ganz unverhofft eine neue Aufgabe, der er sich nach wochenlangem Hausarrest schließlich mit leidenschaftlicher Begeisterung widmen kann, nämlich der liebevollen Pflege des isoliert auf israelischer Seite liegenden Olivenhains von Leilas Familie, für das diese nur einmal im Monat einen Passierschein besitzt.


Als eines Tages Joshuas Stiefvater dessen prächtig heranwachsendes, zukunftsweisendes Geheimnis herausfindet und ihn mit brutaler körperlicher Gewalt zur Rede stellt, setzt er damit blindwütig eine verhängnisvolle Kettenreaktion in Gang, an deren Ende den Jugendlichen eine schreckliche kathartische Erfahrung erwartet, die sein eigenes Leben sowie das seiner Angehörigen für immer verändern wird. Dem Briten William Sutcliffe ist aus der nützlichen Perspektive des Außenseiters die vermutlich packendste Schilderung der gegenwärtigen Lage in den israelisch-besetzten Gebieten gelungen, die es bislang gegeben hat. Dabei erweist es sich als großer Vorteil, dass der Autor nicht intensiver als notwendig auf die historischen und politischen Hintergründe eingeht, die die beklagenswerte Situation ausgelöst haben, sondern stattdessen unmittelbar die untragbaren Lebensumstände vor Ort für den Leser identifizierbar macht, welche es zu bereinigen gilt. Gleichzeitig erzählt das Buch, losgelöst von seinem konkreten, real existierenden Bezugsrahmen, auch eine wunderbar-optimistische Geschichte einer ganz persönlichen, individuellen Befreiung, die uns unmissverständlich aufzeigt, wie der Einzelne durch eine mutige, offene Auseinandersetzung selbst noch mit den widrigsten äußeren Umständen dennoch zu großem inneren Frieden zu gelangen vermag: Denn nur dann ist er auf der richtigen Seite.

„Auf der richtigen Seite“, aus dem Englischen von Christiane Steen, erschienen bei Rowohlt Rotfuchs, 349 Seiten, € 16,99

Freitag, 5. September 2014

„Der Attentäter“ von Henrik Rehr

In der weiterhin eskalierenden politischen und militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine wird selbst für den unbeteiligtsten Beobachter von außen eine so offensichtlich die völkerrechtlich fest verankerte territoriale Integrität eines unabhängigen Staates missachtende, stattdessen auf eigenen Raumgewinn und Ausweitung der eigenen Machtsphäre ausgerichtete Rücksichtslosigkeit deutlich, wie wir sie in West- und Mitteleuropa seit dem Zeitalter des Imperialismus und dem daraus resultierenden Ersten Weltkrieg sowie Hitlers schon damals im Grunde anachronistischen raumgreifenden Invasionen nicht mehr beobachten konnten. Die in solchen Fällen vorherrschende Rhetorik bemühte sich schon damals meist nur sehr halberzig um schlüssige Argumentationketten: die vom jeweiligen Aggressor vorgebrachte, vorgeblich auf rationalen Entscheidungen beruhende Beweisführung vermochte jeder aufmerksame Zuhörer recht mühelos als reinen Vorwand zum machtpolitischen Handeln zu identifizieren.


Der seit 1995 mit seiner Familie in unmittelbarer Nähe zum späteren Ground Zero in New York City lebende dänische Illustrator, Comickünstler und Autor Henrik Rehr (geboren 1964) begibt sich in seiner bildmächtigen, düster-beeindruckenden neuen Graphic Novel in jenen bedeutsamen Moment in der europäischen Geschichte, der die jahrzehntelange fragile Ordnung des europäischen Imperialismus mit ihren zahlreichen Geheimabsprachen, Militärbündnissen und Drohgebärden schließlich indirekt zum Einsturz bringen sollte: die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz-Ferdinand und seiner Ehefrau Sophie am 26. Juni 1914 in Sarajevo durch den fanatischen serbischen Nationalisten Gavrilo Princip, den der amerikanische Sozialwissenschaftler Steven Pinker als vermeintlichen Auslöser einer direkt und unvermeidlich zum Weltenbrand des Ersten Weltkrieg führenden Kettenreaktion als vermutlich „wichtigste Person des Zwanzigsten Jahrhunderts“ identifiziert haben will.

Bevor wir auseinandergehen, möchte ich dem Wunsch Ausdruck verleihen, dass Sie uns verstehen und uns nicht für Kriminelle halten. [...] Wir hassten die Habsburger nicht. Ja, ich hegte anarchistische Ideale, ja, ich hasste alles, doch mit keinem Gedanken wünschte ich seiner Majestät Franz Joseph etwas Böses. [...] Wir sind keine Übeltäter, wir sind anständige Menschen, ehrliche Idealisten. Wir wollten Gutes bewirken, wir haben unser Volk geliebt und wir werden für unsere Ideale in den Tod gehen. [...] Unser Volk schreit, es lebt im Elend, es hat keine Schulen, keine Kultur. Das tut uns weh; wir spürten das Leid unseres Volkes.

Henrik Rehr, der neben konventionellen Bilderbüchern und Comics auch zwei viel beachtete Alben zum Thema des 11. September 2001 veröffentlicht hat („Tirsdag“, „Tribeca Sunset“), interessiert sich vor allem für die heute wieder ganz besonders aktuell scheinende Frage, was einen Menschen zu Mord und Terror als legitime Mittel zum Erreichen seiner vermeintlicherweise „höheren“ Ziele im Dienste der Gemeinschaft bewegt. Sein soeben in deutscher Übersetzung erschienenes bedrückendes Schwarzweiß-Album „Der Attentäter – Die Welt des Gavrilo Princip“ wird von zahlreichen tuberkulös hustenden, verschwörerisch dreinblickenden, und rein äußerlich aufgrund ihrer dunklen Haarfarbe und nahezu identischen dünnen Oberlippenbärtchen für den Leser nur aufgrund ihrer jeweiligen Charaktereigenschaften voneinander unterscheidbaren jungen Männern bevölkert, die in Belgrader Straßencafés lebhafte politische Diskussionen führen – ob die scheinbare äußerliche Austauschbarkeit seiner Protagonisten künstlerisches Kalkül des Zeichners ist, bleibt indes bis zum Ende offen. Unter den diskussionsfreudigen Studenten befindet sich auch der junge Gavrilo Princip, ein Serbe bosnischer Herkunft, der nach einem geeigneten Ventil für seine Wut und sein Minderwertigkeitsgefühl zu suchen scheint.

Die Verschwörer Princip (re.), Grabež und Čabrinović in Belgrad 1914

Während seine bis dahin noch zum endgültig im Niedergang begriffenen Osmanischen Reich gehörende bosnische Heimat im Jahr 1908 per Annexion von Österreich-Ungarn vereinnahmt wurde, war Serbien bereits 1878 auf dem Berliner Kongress von den europäischen Großmächten als unabhängiger Staat anerkannt worden. Da Gavrilo Princip, Sohn eines armen Postmitarbeiters aus der Krajina, durch gute Leistungen in der Schule auffiel, konnte er nach der Übersiedlung in den Haushalt des Familienpatriarchen, seines älteren Bruders Jovo in Hadžići, auch gegen den Willen des Vaters nach der Grundschule die Handelsschule in Tuzla und anschließend sogar das Gymnasium in Sarajevo sowie die Universität in Belgrad besuchen. Im Comic begegnen wir einem schüchternen, jedoch vor unterdrückter Wut geradezu überkochenden jungen Mann, der zunächst mit der ihm eigenen Intelligenz vor allem gegen das ärmlich-dumpfe Milieu seiner eigenen Herkunft rebelliert, der aber durch entsprechende persönliche Kontakte schon bald mit nationalistischem und anarchistischem Gedankengut in Berührung kommt, mit dem er seine Affekte ideologisch stärker zu kanalisieren vermag.

Wenn die Bourgeoisie der Menschheit wirklich noch einen letzten Dienst erweisen möchte, wenn es ihr ernst ist mit der Liebe zur wahren, vollständigen und weltweiten Freiheit, kurz, wenn sie wünscht, nicht länger reaktionär zu sein, dann bleibt ihr nur eins, was sie tun kann: in Würde zu sterben, und zwar so schnell wie möglich.

In direktem Kontrast zu Princips Werdegang gibt uns der Autor aber auch einen erstaunlich unvoreingenommenen detaillierten Einblick in die Persönlichkeit, individuellen Wertvorstellungen und persönlichen Lebensumstände Franz Ferdinands sowie in die grundsätzliche politische, soziale und weltanschauliche Situation am Vorabend des Ersten Weltkriegs – so zitiert er etwa die Otto von Bismarck aus Anlass des Berliner Kongresses von 1878 in den Mund gelegten prophetischen Worte:

Europa ist heute ein Pulverfass, und seine Regenten agieren wie Männer, die in einer Munitionsfabrik rauchen. Ein einziger Funke kann eine Explosion auslösen, die uns alle verschlingt... Ich weiß nicht, wann es zur Explosion kommt, aber ich kann sagen, wo. Irgendetwas Verrücktes auf dem Balkan wird der Beginn der Katastrophe sein.

Ebenso irrational wie eigensinnig und ebenso rücksichtslos wie unversöhnlich zu agieren, sich aus dem reichen Schatz der Gebrauchsphilosophie eine mehr oder weniger schlüssige, aber umso prägnanter formulierte Rechtfertigung dafür zu wählen – das scheint für alle Staaten des europäischen Imperialismus die eigentliche Triebfeder ihres Handelns. Was aber bei der fesselnden und aufgrund der düster-stimmungsvollen Bildsprache nachhaltig verstörenden Lektüre von Henrik Rehrs Graphic Novel zwischen den Zeilen deutlich wird, ist die zunächst überraschende grundlegende Erkenntnis, wie sehr Gavrilo Princip in der vermutlich realistischen Sichtweise des Autors ein geistiges Kind seiner Zeit zu sein scheint, indem er diesem verhängnisvollen und menschlich im Grunde unreifen Muster nahezu vollkommen entspricht.

Erzherzog Franz Ferdinand und Sophie unmittelbar vor ihrer Ermordung

Überaus gelungen ist vor allem die Szene unmittelbar vor seinen tödlichen Schüssen auf Franz Ferdinand und Sophie, nachdem ein erstes Bombenattentat durch Nedeljko Čabrinović bereits gescheitert ist und dabei zahlreiche unbeteiligte Passanten verletzt worden sind: der österreichische Thronfolger hat sich gegen den ausdrücklichen Rat seiner Generäle dazu entschlossen, den frisch Verletzten im Krankenhaus einen persönlichen Besuch abzustatten, und Gavrilo Princip, der zuvor an der Straße gewartet hatte, hat ernüchtert einen Feinkostladen betreten, um sich – im festen Bewußtsein, dass er keine Chance zum Attentat mehr haben werde – ein Sandwich zu kaufen. Als er aus dem Ladengeschäft heraustritt, erblickt er zu seiner großen Überraschung die kaiserliche Limousine, die soeben irrtümlich von der offiziellen Route abgewichen ist und nun langsam wieder zurücksetzt. Princip schießt unverzüglich, seine Revolverschüsse zerfetzen Franz Ferdinands Halsvene und Sophies Bauchaorta; das kaiserliche Paar stirbt noch vor Erreichen der Klinik in der davonpreschenden Limousine, während der Attentäter von österreichischen Sicherheitskräften vor einer wie entfesselt auf ihn einprügelnden Menschenmenge gerettet wird.

Zeitgenössische Illustration aus "Le Petit Journal"

Gerade in der Beiläufigkeit dieser einen unvergesslichen Szene zeigt sich auf exemplarische Art und Weise, wie fragwürdig die Behauptung ist, dass sich der Erste Weltkrieg allein aus einer unkontrollierbaren Dynamik heraus entwickelt habe, die unweigerlich zur Katastrophe führen musste, weil ein Ereigniss unwiderruflich ein anderes in Gang gesetzt habe und das wiederum das nächste und keines davon für sich zu stoppen gewesen sei. Denn diese Argumentation bestreitet vehement, dass Personen oder Institutionen die Fähigkeit besitzen, Ereignisse und Situationen objektiv und in einem größeren Zusammenhang zu analysieren und sich bei Bedarf auch in vermeintliche oder tatsächliche politische Gegner sowie deren offensichtliche oder verborgene Motive einzufühlen. Sie bestreitet außerdem, daß der Einzelne die Möglichkeit hat, sich bewusst zu entscheiden, mitunter sogar gegen ausdrückliche Befehle, offizielle Paradigmen oder unausgesprochene Leitlinien. Es ist überdies dieselbe Logik, die insbesondere Nazi-Täter immer wieder gern instrumentalisiert haben, indem sie behaupteten, sie hätten lediglich Befehle ausgeführt.

Ich bin jugoslawischer Nationalist und glaube an die Vereinigung aller von der österreichischen Herrschaft befreiten Südslawen. Ich habe versucht, dieses Ziel mit dem Mittel des Terrors zu erreichen. [...] Ich bin kein Krimineller, weil ich zerstört habe, was böse war. Ich glaube, ich bin ein guter Mensch.[...] Die Idee ist in uns gewachsen. Deshalb haben wir das Attentat ausgeführt.[...] Wir haben unser Volk geliebt. Ich will nichts weiter zu meiner Verteidigung vorbringen.

Es gibt in Henrik Rehrs lesenswerter Graphic Novel historisch korrekt auch Mitverschwörer, die vor der Tat zurückschrecken, sie sogar zu verhindern versuchen. Gavrilo Princip konnte innerhalb der habsburgischen Rechtsprechung aufgrund seines jugendlichen Alters nicht zum Tode verurteilt werden. Das Gericht verurteilte ihn zu zwanzig Jahren schwerer Zwangsarbeit in der Festung Theresienstadt, wo er am 28. April 1918 unter katastrophalen Haftbedingungen seiner langjährigen Tuberkuloseerkrankung erlag. Während seine Tat im jungen Jugoslawien lange Zeit ideologisch verklärt wurde, distanzieren sich heute nahezu alle unabhängigen Staaten gleichermaßen deutlich davon. In seiner Person, so wie der Autor sie zeichnet, wird vor allem eine furchtbare Kontinuität fehlgeleiteten Denkens und einer damit einhergehenden Unfähigkeit zu menschlicher Empathie deutlich, die von der Tat Gavrilo Princips über linken Terror der 1960er und 70er Jahre bis zum islamistischen Terror unserer Zeit führt und zeigt, dass nachhaltige Befreiung weder im individuellen noch im kollektiven Sinne durch Mord erreicht werden kann.

Henrik Rehr

Henrik Rehrs virtuoses Graphic Novel ist ein überaus eindrucksvoller künstlerischer Nachweis der nahezu unerschöpflichen Möglichkeiten dieses hierzulande immer noch allzu verkannten hoch intelligenten und vielschichtigen Mediums. Mit seiner ebenso empathischen wie rationalen Arbeitsweise, die auf sorgfältiger historischer Recherche beruht, sowie dem sich aus einem umsichtigen Faktenvergleich ergebenden organisch scheinenden aufklärerischen Ansatz kann „Der Attentäter“ auch für den Schulunterricht ein dankbarer Anknüpfungspunkt für lebhafte und kontroverse Diskussionen sein, die nicht nur eine absolute Bereicherung für das sonst oft vermittelte abstrakte Geschichtsbild darstellen könnten, sondern uns viel leichter auch gemeinsame grundsätzliche Strömungen innerhalb bestimmter geschichtlicher Prozesse identifizieren lassen, so dass wir am Ende auch den politischen und gesellschaftlichen Anforderungen unserer Gegenwart wachsamer und aufmerksamer zu begegnen vermögen.

„Der Attentäter – Die Welt des Gavrilo Princip“, aus dem Englischen von Edmund Jacoby, erschienen bei Jacoby & Stuart, 224 Seiten, € 28,-