Jerusalem

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Montag, 25. Februar 2013

„Blue Bay Palace“ von Nathacha Appanah


Das vermeintliche tropische Inselparadies Mauritius ist noch nicht allzu oft ein ernstzunehmender literarischer Schauplatz jenseits des weiten Feldes von im verlockend-unbekannten Reiz des Dunkel-Exotischen schwelgenden Liebes- oder Abenteuerromanen gewesen. Dabei könnte sowohl ihre faszinierende Geschichte in wechselndem kolonialem Besitz und als berüchtigtes Seeräubernest, als auch ihre ursprünglich weitgehend endemische Flora und Fauna sowie ihre multikulturelle Bevölkerungszusammensetzung ein dankbares, vielschichtiges Thema für große epische Romane sein.

Glücklicherweise vermag jede Kultur immer wieder aus sich selbst heraus großartige Schriftsteller hervorzubringen, denen es im besten Fall auch für ein größeres Publikum gelingen kann, die Stimme ihrer kulturellen Herkunft im Kanon der Weltliteratur hörbar zu machen. Hierfür bedarf es aber manchmal eines oder aber gleich mehrerer Glücksfälle: die 1973 auf Mauritius geborene frankophone Journalistin Nathacha Appanah lebt seit 1998 in Frankreich und durfte bei ihrem literarischen Debüt nicht zuletzt davon profitieren, dass ihr die französische Sprache sowie der Verlagsstandort Paris einen größeren Markt eröffneten als dies in ihrer Heimat mit einer der zahlreichen anderen dort verbreiteten Sprachen möglich gewesen wäre.

In deutscher Sprache erschien bereits im Jahr 2009 Appanahs großartiger, in Frankreich vielfach ausgezeichneter Roman „Der letzte Bruder“, der sich auf herzerreißend-schöne, melancholisch-tiefgreifende Art und Weise mit einem kaum bekannten Thema in der Geschichte der Insel Mauritius auseinandersetzt: der Internierung von Juden durch die britische Kolonialmacht während der Zeit des Zweiten Weltkriegs: der zehnjährige Aufsehersohn Raj lernt den gleichaltrigen Juden David kennen und befreit diesen aus dem Gefängnis; bei der gemeinsamen Flucht ereignet sich eine Tragödie, deren ganze Tragweite dem Protagonisten erst am Ende seines Lebens vollkommen bewusst wird.

Der kleine Schweizer Lenos Verlag, seit über vierzig Jahren eine der ersten deutschsprachigen Adressen für Literatur aus dem arabischen Kulturkreis, hat nun unter dem Titel „Blue Bay Palace“ einen ersten Roman von Nathacha Appanah aus dem Jahr 2007 in einer Taschenbuchausgabe neu herausgegeben, der bei seiner deutschen Erstveröffentlichung von der Literaturkritik zwar äußerst wohlwollend aufgenommen wurde, beim Publikum aber damals leider völlig zu Unrecht keinerlei nennenswerte Resonanz erzielen konnte.



Dabei erweist sich die Autorin bereits in diesem aufs Äußerste verknappten, aber dennoch höchst intensiven, ganze Lebenswelten eröffnenden kleinen Roman über eine unglückliche Liebe im Schatten der Fassade des europäischen Wohlstandstourismus als große und tiefgründige Erzählerin, die mit ihrem ungewöhnlich ausgeprägten Gespür für die zahlreichen Widersprüche der menschlichen Seele so überzeugende, lebensgesättigte und lebendige Charaktere zu erschaffen vermag, dass wir uns selbst in deren äußerster Fremdheit immer noch aufs Schmerzlich-Vertrauteste auch selbst wiederzuerkennen vermögen.

Die sechzehnjährige Maya ist in einer Elendssiedlung an der wilden Südostküste der tropischen Insel aufgewachsen:

Blue Bay ist der allerletzte Ort der Landzunge, der Ort, nach dem es nur noch Meere und Ozeane gibt. Eine kümmerliche Strasse, asphaltiert, doch von Schlaglöchern durchsetzt, führt durch Blue Bay hindurch und spaltet es auch. Links verbergen ebenmässige grüne Bambushecken schöne, in warmen Farben gehaltene Villen. Rechts, da wo die Strasse leicht abschüssig ist, als würde sie sich senken, geben in punktierten Linien gepflanzte Reihen von Roquettes, das sind diese Kakteen mit dem tödlich wirkenden Saft, den Blick frei auf rostige Blechhütten oder brüchige Backsteinbuden. Links die Reichen mit Sicht auf den Ozean. Rechts die Armen, mit Sicht auf gar nichts ausser ihresgleichen.

Anders als die meisten der Gleichaltrigen, die sich bestenfalls als Tagelöhner oder Prostituierte verdingen müssen, zum Teil der Drogensucht, jedoch allesamt einer träge-letharischen Hoffnungslosigkeit verfallen sind, scheint die lebenslustige Maya den ersten Schritt in ein vielversprechendes, eigenverantwortliches Leben geschafft zu haben: sie arbeitet als Rezeptionistin im nahegelegenen Blue Bay Palace, einem luxuriösen Hotel, das mit dezenter Perfektion reichen europäischen Touristen tropische Urlaubsträume erfüllt.

Als sie beim alljährlichen Jahrmarkt ihren neuen Vorgesetzten, den Hotelmanager Dave, kennenlernt und sich schnell eine unleugbar-intensive, über jeden irdischen Zweifel erhaben scheinende leidenschaftliche Liebe zwischen den beiden entwickelt, ist für Maya die endgültige Erfüllung ihrer Lebensträume nur noch eine Frage der Zeit. Umso schmerzhafter ihre bittere Erkenntnis nach mehr als drei Jahren unbeschwerten Zusammenseins und gemeinsamen Pläneschmiedens, dass der aus einer reichen Brahmanenfamilie stammende Dave einer „standesgemäßen“ Heirat mit einer anderen zugestimmt hat.

Maya, ich möchte deinen Schmerz auslöschen, ich möchte, du hättest mich nie kennengelernt, ich möchte dich heiraten, Kinder mit dir haben, dich schlafen sehen, ich möchte an deiner Seite gehen und alle Männer dieser Welt eifersüchtig machen, so schön, wie du bist, ich möchte nach Hause kommen und wissen, dass du auf mich wartest, ich möchte dich mit meinem Verlangen wecken, ich möchte mit dir im Meer baden, mich im Schatten deines Körpers erfrischen, mich in deinem langen Haar vergraben, weit weg fliehen mit dir [...].

Doch trotz dieses ehrlichen emotionalen Bekenntnisses zu Maya und obwohl sich die beiden Liebenden auch nach Daves traditioneller Heirat weiterhin einmal wöchentlich in einem Stundenhotel zu leidenschftlichem Sex treffen, schafft es Dave es nicht, sich den starren Gesetzen der Tradition zu widersetzen. Als Maya endlich beginnt, sich den selbstquälerischen Treffen zu verweigern und eine neue Beziehung aufnimmt, empfindet sie endlich eine lange vermisste Ahnung von innerer Ruhe. Dann jedoch erfährt ihr neuer Liebhaber von der zerstörerisch-anhaltenden Natur von Mayas Beziehung zu Dave und wirft die zu Tode Verletzte zurück in tiefste Unbewussheit und den unkontrollierbaren Taumel rasender Wut.

In ihrer literarischen Fiktion gestattet die mutig-versierte Autorin ihrer Protagonistin den äußersten Gipfel des Aufbegehrens gegen die bestehenden Verhältnisse, der jedoch in allzu bitterster Konsequenz nur auf der poetischen Ebene einer umfassenden Befreiung gleichkommen kann:

Ich lasse mich mit ausgebreiteten Armen fallen, und am Himmel jagen die Wolken. Man möchte meinen, sie suchen etwas. Den Regen vielleicht. Die Sonne ist noch hinter mir. Rechts sehe ich das Hotel, und ich weiss nicht, warum mich das so freut. Das Paradies ist immer noch da, sage ich mir, und wiederhole das im Kopf, Das Paradies ist immer noch da...

„Blue Bay Palace“ ist ein ebenso beeindruckendes wie verstörendes literarisches Dokument des Aufbegehrens, für das Nathacha Appanah im Jahr 2004 völlig zu Recht mit dem Grand prix littéraire des océans Indien et Pacifique ausgezeichnet wurde.

„Blue Pay Palace“, aus dem Französischen von Yla M. von Dach, erschienen bei Lenos, 107 Seiten, € 9,95

Montag, 18. Februar 2013

„Der Himmel über Greene Harbor“ von Nick Dybek


Der mit naturgemäß ungleichen Mitteln und umso erbitterterer Vehemenz geführte Kampf des Menschen mit der unkontrollierbar-entfesselten Naturgewalt des Meeres ist in der Literaturgeschichte schon oft dankbar-episches Thema zahlreicher begeisternder Romane und dokumentarischer Sachbücher gewesen. Der begabte junge New Yorker Schriftsteller Nick Dybek, geboren 1980, aufgewachsen im denkbar seefernen Michigan, erzählt in seinem beeindruckend-reifen Debütroman „Der Himmel über Greene Harbor“ von diesem ewigen Ringen aus ganz ungewohnt distanzierter Perspektive. 



Allerdings ist die perspektivische Distanz nur eine scheinbare: denn der vierzehnjährige Erzähler Cal, geistig aufgeweckter einziger Sohn eines beinharten Seemanns und Fischers, der wie alle männlichen Bewohner des kleinen fiktiven Ortes Greene Harbor an der Küste Washingtons jeden Winter mit der Flotte des örtlichen Fischereimagnaten John Gaunt ins tosende Eismeer Alaskas hinausfährt, um mit saisonalem Krabbenfang den Lebensunterhalt fürs ganze Jahr zu verdienen, ist natürlich – obwohl er mit dem gefahrvollen Handwerk seines Vaters nicht unmittelbar zu tun hat – in seiner ganzen Existenz vollkommen geprägt und beeindruckt von dessen hartem, erwachsen-ernsthaftem Beruf: der monatelangen schmerzlichen Abwesenheit, der Angst um dessen Leben und den Depressionen seiner Mutter, einer gebildeten, kultur- und musikinteressierten hübschen jungen Frau, die es aus San Francisco in die regenverhangen-karge Landschaft des amerikanischen Nordwestens und die intellektuell trostlose Atmosphäre des einsamen Fischerstädtchens verschlagen hat.

Es war eine Aura der Einsamkeit. Wir behielten den Kalender im Auge und warteten auf das Chaos, das ausbrach, wenn die Funkgeräte knisterten und knackten, die Telefone läuteten und Reifen auf den Parkplätzen rund um Greene Harbor Staub aufwirbelten. Wir suchten den Horizont nach zurückkehrenden Fischern ab, die abgerissen und mit speckigen Klamotten an Land gingen, ihr Seemannsgarn spannen, ihre Geheimnisse aber für sich behielten.

Und natürlich ist Cals reiche Innenwelt sehnsuchtsvoll angefüllt bis zum Rand mit heroischen Geschichten über das Leben auf See, schaurigen Anekdoten über tragische Schiffsunglücke, tödliche Unfälle und wundersame einsame Heldentaten: die Geschichte von Stevensons berühmt-berüchtigtem Captain Flint aus dessen Generationen-Lieblingsroman „Die Schatzinsel“ hat sein Vater in Form zahlreicher abenteuerlicher Einschlafgeschichten fantasievoll für ihn ausgeschmückt und weitergesponnen. Mit nunmehr vierzehn Jahren ist der aufgeweckte Schüler allerdings auch alt genug um nicht nur zu ahnen, sondern bereits auch verstandesmäßig zu begreifen, dass er selbst möglicherweise niemals mit den anderen Männern hinausfahren und die ersehnten Abenteuer erleben wird.

Denn auch der linkisch-intellektuelle Sohn des von allen geachteten Arbeitgebers John Gaunt, Richard, hat bereits vor Jahren ein ganz ähnliches Schicksal erlitten:

Richard Gaunt verließ Loyalty Island, wie so viele andere, im Alter von achtzehn Jahren. Er hatte noch nicht ganz die Hoffnung aufgegeben, dass sein Vater ihm irgendwann einen Platz auf einem seiner Schiffe anbieten würde, dass er ihn die ganze Zeit über geprüft hatte und dass er, Richard, trotz dieser sauren Jahre die Prüfung bestanden hatte. Aber er war zu stolz, das Thema anzuschneiden, und am Tag der Abschlussfeier drückte John ihm einen Scheck über tausend Dollar in die Hand. Er schenkte Richard einen Blechkuchen und gab ihm die Autoschlüssel für den Volvo. Und er sagte ihm, wie gut er sich mit seinem Hut und dem Talar machte.

Doch wie sein Geistesverwandter Jim Hawkins, der kindliche Erzähler aus Stevensons unvergesslichem Roman, soll schließlich auch Cal ebenso unverhofft wie plötzlich in ein existenzielles Abenteuer hineingezogen werden, von dem er nie zu träumen gewagt hätte und von dem er sich am Ende wünschen wird, es wäre nie geschehen, weil es seine Realität auf eine Weise verändern wird, die am Ende nichts mehr so sein lässt wie es war: weder seine Identität noch seine moralischen Maßstäbe. Denn eines Tages geschieht das Undenkbare: John Gaunt stirbt, sein kauzig-zynischer Sohn wird zum Alleinerben bestellt und verkündet mit unversöhnlich scheinendem Hass auf das fragile soziale Gefüge, dass er die ganze Flotte an japanische Investoren verkaufen werde, womit er hochmütig und bewusst die Existenz der gesamten Region aufs Spiel setzt, die bereits seit Generationen auf die unternehmerische Verantwortung seiner Vorfahren zählen darf.

In der Nacht nach Richards geschmacklosem Auftritt vor der zu diesem Zeitpunkt noch hoffnungsfrohen Versammlung der betroffenen Familien belauscht Cal an der Wohnzimmertür des elterlichen Hauses ein verschwörerisches Gespräch seines Vaters mit zwei seiner Kollegen, das ihn zutiefst verunsichert und Schlimmes ahnen lässt:

Und was passiert, wenn Richard sein Erbe niemals antritt?“ [...]
Es wäre ganz einfach“, sagte Sam.
Es?“, fragte Don.
Da draußen kommen immer irgendwo Leute ums Leben. Sie werden nie gefunden.“
Mir stockte der Atem. Schließlich hörte ich die Stimme meines Vaters. „Wir müssen mit Richard reden. Ich glaube, er wird es irgendwann begreifen. Er muss es.“

Am nächsten Morgen ist überraschenderweise nicht nur die komplette Fangflotte samt Richard in See gestochen, sondern auch seine erneut schwangere Mutter abgereist, um – wie sie selbst verlauten lässt – sich im heimatlich-sonnigen Kalifornien auf die bevorstehende Geburt vorzubereiten. Cal hingegen soll für die Zeit der Abwesenheit seines Vaters bei der Familie von dessen Arbeitskollegen Sam Quartier beziehen. Dessen gleichaltriger filmbegeisterter Sohn Jamie entwickelt sich zu ihrer beider Überraschung zu einem echten Freund und Vertrauten.

Als sie schließlich, nach langem Zögern, gemeinsam Cals schrecklichem Verdacht nachgehen, werden sie von den dunklen, tief-verborgenen Geheimnissen des Meeres mit aller Macht eingeholt und wie von einer mächtigen Welle einfach überspült. „Der Himmel über Greene Harbor“ ist nicht nur einer der beeindruckendsten, spannendsten und bildmächtigsten Romane über die schmerzvolle Ambivalenz des Erwachsenwerdens seit langem, sondern auch ein überwältigendes literarisches Zeugnis dafür, wie das extreme Leben, Überleben und Sterben auf See auch die nächste Generation sowie die sonstigen an Land Gebliebenen unentrinnbar zu prägen vermag.

„Der Himmel über Greene Harbor“, aus dem Amerikanischen von Frank Fingerhuth, erschienen bei mare, 319 Seiten, € 19,90

Freitag, 15. Februar 2013

„Meinen Sohn bekommt ihr nie“ von Isabelle Neulinger

Religiöser Fundamentalismus kann für den Einzelnen – sofern er diese Wahl wirklich aus freien Stücken trifft und sich der daraus ergebenden Konsequenzen bewusst ist sowie diese vorbehaltlos annimmt – durchaus eine wesentliche spirituelle Bereicherung sein und sich somit auch als guter, sinnvoller individueller Lebensweg erweisen, wenn er denn zu innerem, idealerweise auch äußerem Frieden führt. Der Schrecken gelebten Fundamentalismus', ganz gleich welcher konfessioneller Ausrichtung, ergibt sich immer erst aus den Auswirkungen auf Außenstehende oder den erheblichen Einschränkungen, die diese durch die rücksichtslose Ausübung desselben ausgesetzt werden.

In den kulturell und wirtschaftlich hoch entwickelten, jedoch ökonomisch tief verunsicherten, latent fremdenfeindlichen westlichen Gesellschaften gilt religiöser Fundamentalismus seit Jahrhunderten als ausgemachtes Feindbild, strenge, gesetzlich fest verankerte Einschränkungen gelten hier völlig zu Recht dem der Gesellschaft zumutbaren Ausmaß der jeweiligen praktischen Religionsausübung.

Auf dem deutschen Buchmarkt ist das sogenannte Genre der „Erfahrungsberichte“ seit Jahren ungebrochen populär: „Nicht ohne meine Tochter“, „Die weisse Massai“ - nur zwei erfolgreiche Bestseller der letzten dreißig Jahre, die den Weg einer außer Kontrolle gelaufenen, einstmals romantisch-naiven bi-kulturellen Liebesbeziehung zum unwägbaren zwischenmenschlichen Horrortrip als reißerisch-identitätsstiftende Achterbahnfahrt durch die zwangsläufigen Untiefen kultureller Unterschiede gestalten.

Nicht erst seit dem 9. September 2011 wird in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch fast ausschließlich islamistischer Fundamentalismus problematisiert, obwohl gleichartige sektiererische Tendenzen auch in anderen Religionen, esoterischen Zirkeln, politischen Parteien, mitunter sogar in gänzlich harmlos scheinenden Gesellschaftsbereichen zum Problem werden können.

Dass jüdisch-orthodoxer Fundamentalismus in der deutschen Öffentlichkeit nicht kontrovers diskutiert wird, hat allerdings gute Gründe; nicht nur verbietet sich eine unnötige Problematisierung aufgrund der deutschen Vergangenheit ganz von allein, vor allem stellt er aufgrund der übergeordneten deutschen säkularen Rechtsordnung keine öffentliche Gefahr dar, auch wenn während der absurden Beschneidungs-Debatte im vergangenen Jahr von einzelnen Stimmen aus Medien und Politik diese Auffassung vermittelt wurde, sondern darf sich völlig zu Recht des guten Grundsatzes der persönlichen Religionsfreiheit erfreuen.

Die Schweizerin Isabelle Neulinger berichtet in ihrem soeben erschienenen spannenden Buch „Meinen Sohn bekommt ihr nie“ von ihrer Emigration nach Israel im Jahr 1999, ihrer dortigen Liebesheirat und der graduellen, schmerzhaften Entfremdung von ihrem israelischen Mann nach dessen religiösem Erweckungserlebnis und den damit eingergehenden massiven Persönlichkeitsveränderungen, insbesondere aber von ihren langjährigen spektakulären Gerichtsprozessen, die sie – letztlich erfolgreich vor der höchsten europäischen Instanz: der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs – nach der eigenhändigen Entführung ihres gemeinsamen Sohnes aus Israel zu führen gezwungen war.



Nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes war die Emigration nach Israel eine Herzensangelegenheit für Isabelle Neulinger gewesen. In der lebendigen, der Gegenwart aufs Äußerste zugewandten elektrisierenden Atmosphäre von Tel-Aviv hoffte sie ein neues unbeschwertes Leben anfangen zu können. Nachdem sie die Hürden der berühmt-berüchtigten israelischen Bürokratie überwunden hatte, gelang es ihr schnell, einen gut dotierten Job zu finden. Und nach über einem Jahr Tür an Tür „funkte“ es plötzlich zwischen ihr und ihrem israelischen Nachbarn, dem charmanten, theaterbegeisterten Sportlehrer Shai.

Während eines Ausflugs nach Galiläa arrangiert Shai eine kleine romantische Zeremonie, an deren Ende er ihr einen Ring an den Zeigefinger der rechten Hand steckt:

Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass es sich hier um eine Verlobungsfeier handelt. Doch in Wirklichkeit hat Shai, ohne die geringste Andeutung zu machen, alles für eine jüdische Hochzeit arrangiert: die Chuppa, den Hochzeitsbaldachin, in Form des Blechdachs, die Trauzeugen, den Ring, die Wahl des Tages. Gültigkeit hat eine jüdische Heirat auch dann, wenn sie nicht von einem Rabbiner vollzogen wird. Lediglich die Trauzeugen sind vorgeschrieben. Ohne dass ich überhaupt begreife, was hier vor sich geht, und ohne dass Shai mich um meine Zustimmung ersucht hätte, bin ich nach jüdischem Recht seine Ehefrau geworden.

Zwar holen die beiden die Hochzeit später noch offiziell nach, aber bereits in dieser zunächst harmlos scheinenden Episode wird das weitreichende Grundproblem deutlich, auf das die Autorin mit ihrem die Fakten stets sachlich referierenden Buch mit aller Vehemenz aufmerksam machen möchte: Familienrecht darf in einem modernen säkularen Staat niemals und unter keinen Umständen religiösen Instanzen überlassen werden. Aber genau das ist in Israel bis heute der Fall: um im Zuge der Staatsgründung im Jahr 1948 eine breite Basis zu schaffen, hatte man dieses in jeder Hinsicht unzeitgemäße und fatale Zugeständnis dem ultrareligiösen, bis heute antizionistisch eingestellten Lager gemacht.

Noch aber führen Isabelle und Shai eine liebevolle, harmonische Beziehung und dürfen sich über die Geburt ihres gesunden Sohnes Noam freuen. Als Shai sich jedoch nach und nach vom an theologischen Fragen Interessierten zum religiösen Eiferer und überzeugten Anhänger der Lubawitscher Chassidim entwickelt und das Leben seiner lebenslustigen Frau mehr und mehr einzuschränken beginnt, sieht diese in der größten Not ihrer wachsend-schemrzhaften Selbstverleugnung nur noch die Chance, hinter seinem Rücken die Scheidung zu betreiben.

Von Respekt, Offenheit und Toleranz ist keine Rede mehr, und dass ich so lebe, wie ich es für richtig halte, ist völlig ausgeschlossen. Mein Mann diktiert mir pausenlos seine neuen Vorschriften. [..] Eines Abends, als ich aus der Dusche komme, fährt er mich an „Zieh dir was über.“ - „Bitte?“, frage ich. - „Du hast mich schon verstanden. Das ist kein passender Aufzug. Von jetzt an möchte ich, dass du mir geziemend unter die Augen trittst.“ Ich denke, er scherzt, und fange an zu lachen. Doch Shai verlässt wütend die Wohnung, indem er die Tür zuknallt. Als er kurz darauf im Ehebett nur mit dem Tzitzit, seinem Gebetsschaal, bekleidet Annäherungsversuche unternimmt, kann ich mir das Lachen nicht verkneifen. Diese Episode wird das Ende unserer intimen Beziehung einläuten.

Isabelle Neulingers anschließende nervenzehrende illegale Flucht mit ihrem zweijährigen Sohn über die ägyptische Grenze ist nur scheinbar der Höhepunkt des Buches. Denn die vermeintliche Sicherheit ihrer Schweizer Heimat erweist sich als ausgesprochen trügerisch: zwar wird dem israelischen Auslieferungsantrag in erster Instanz widersprochen, alle anderen angerufenen Instanzen bis hoch zum Europäischen Gerichtshof bestätigen diesen jedoch. Bei einer Rückkehr nach Israel müsste die Autorin allerdings mit einer Gefängnisstrafe von mindestens fünfzehn Jahren rechnen.

In einer Nacht träume ich, dass ich mit meinem Sohn zum Baden in die Türkei fliege. Als wir zum Anflug ansetzen, verkündet die Flugbegleiterin jedoch, dass die Maschine in Tel Aviv landen werde. Das ist ein abgekartetes Spiel, das Reisebüro steckt mit den israelischen Behörden unter einer Decke, ich sitze in der Falle! Auf dem Rollfeld warten Militärjeeps, doch statt Soldaten in Uniform steigen ultraorthodoxe Juden aus und stürmen auf uns zu, um mich festzunehmen und Noam fortzuschaffen. In diesem Moment erwache ich, die Angst sitzt mir in allen Gliedern, mein Haar ist nassgeschwitzt. Ich renne ins Kinderzimmer, wo Noam friedlich wie ein Engel schläft.

Dieses Bild kindlichen Friedens, das um jeden Preis zu erhalten ist, bleibt die wichtigste Motivation der verzweifelten Mutter während der endlosen Jahre der Prozesse, niemals nachzulassen, keinerlei Kosten zu scheuen und sämtliche legalen rechtlichen Mittel bis zum Ende auszuschöpfen. Anders als die üblichen Erfahrungsberichte ist ihr an Handlung ausgesprochen reiches, atemlos zu lesendes Buch ein herausragendes Beispiel für objektive Augewogenheit in der Darstellung der Fakten und in der trotz aller verständlichen Betroffenheit neutralen Beurteilung der zu Grunde liegenden Problemstellung. Isabelle Neulingers Buch ist ein großartiges, flammendes Plädoyer für die strikte Trennung von Privat- und Religionsangelegenheiten in allen Lebensbereichen.

„Meinen Sohn bekommt ihr nie – Flucht aus dem gelobten Land“, aus dem Französischen von Ulrike Frank, erschienen bei Nagel & Kimche, 208 Seiten, € 17,90

Dienstag, 12. Februar 2013

„Verdächtige Geliebte“ von Keigo Higashino


Kühle Logik und mathematische Berechnung sind von jeher wichtige Elemente des klassischen Kriminalromans gewesen – dessen prominentester Vertreter Sherlock Holmes begeistert bis heute mit seinem obskur-verschrobenen logischen Sachverstand ein Millionenpublikum, zuletzt als moderner Mensch unserer Zeit in der großartigen BBC-Fernsehserie „Sherlock“. Der japanische Schriftsteller und studierte Ingenieur Keigi Higashino, geboren 1958 in Osaka, hat diesem faszinierenden Motiv nun einen weiteren, ebenso überraschenden wie emotional-aufrüttelnden literarischen Höhepunkt hinzugefügt, den man mit seiner tiefgründig-empathischen Innerlichkeit und großstädtischen Prägung mit einigem Recht als „spezifisch japanisch“ bezeichnen könnte.



Der geniale Mathematiker Ishigami, dem noch zu Studienzeiten eine glänzende akademische Karriere vorherbestimmt zu sein schien, ist an den widrigen Umständen seines Lebens gescheitert und verdient seit Jahren seinen Lebensunterhalt als gewöhnlicher Mathematiklehrer an einem unbedeutenden kleinen Gymnasium, während er privat weiter fieberhaft an seiner selbst gestellten Lebensaufgabe arbeitet, einer komplizierten mathematischen These, für deren engültige Berechnung er nach eigenen Schätzungen noch zwanzig Jahre benötigen wird, möglicherweise sogar noch länger.

Was mache ich hier eigentlich, fragte sich Ishigami. Ich lasse Arbeiten schreiben, die nichts mit richtiger Mathematik zu tun haben, nur damit die Schüler ihre Punkte bekommen. Völlig sinnlos. So etwas ist doch keine Mathematik. Und auch keine Pädagogik. Er erhob sich und atmete tief ein und aus. „Ihr braucht nicht weiterzumachen“, sagte er den Schülern. „Ich möchte, dass ihr in der verbleibenden Zeit auf die Rückseite eurer Blätter schreibt, was Ihr im Augenblick denkt.“

Ishigami erweist sich trotz seiner Isolation und berufsbedingten Weltfernheit als origineller, mitfühlender und tiefgründiger Mensch. Dennoch ist er fest davon überzeugt, dass sein einziger Vorzug seine mathematische Begabung sei und seine sozialen Kontakte beschränken sich auf den täglichen Unterricht, wenige oberflächliche Begegnungen im Lehrerzimmer und das sportliche Training im Judoclub. Als er eines Tages das Gefühl hat, auch bei der Lösung seines mathematischen Problems nicht mehr voranzukommen, trifft er alle Vorbereitungen, um sich in seiner ärmlichen Zwei-Zimmer-Wohnung aufzuhängen.

Als er auf dem Hocker stand und im Begriff war, sich die Schlinge um den Hals zu legen, läutete es an der Tür. Ein schicksalhaftes Läuten. Dass er es nicht ignorierte, hatte nur den einen Grund, dass er später nicht mehr gestört werden wollte. [...] Es waren zwei Frauen. Augenscheinlich Mutter und Tochter. Die Mutter stellte sich als neue Nachbarin vor. Auch das junge Mädchen verbeugte sich ein wenig. Der Anblick löste ein nie gekanntes Gefühl in Ishigami aus. Sie hatten so wunderschöne Augen. Bisher hatte ihn Schönheit nie berührt. Auch für Kunst fehlte ihm jegliches Verständnis. Doch in diesem Moment begriff er, dass es sich hier um die gleiche Schönheit handelte, die sich ihm bei der Lösung mathematischer Aufgaben offenbarte.

Die Begegnung gibt Ishigami unverhofft neuen Lebensmut: „Der Gedanke an Selbstmord war wie weggeblasen“. Und obwohl er weiß, dass er keine Chance haben wird, jemals die Liebe seiner neuen Nachbarin, Yasuko, zu gewinnen, wird er sich ihr und ihrer Tochter Misato gegenüber immer von ganzem Herzen verpflichtet fühlen. Die diskrete dankbar-liebevolle Anteilnahme Ishigamis an deren Leben von Ferne schildert Keigo Higashino ebenso überzeugend wie verständnisvoll und ohne seinen Protagonisten je in die Nähe des Stalking zu rücken. Die einzige regelmäßige Begegnung mit Yasuko, die sich Ishigami selbst gestattet, ist der tägliche Einkauf seines Mittagessens in einem kleinen Bento-Imbiss, in dem seine Nachbarin arbeitet.

Als eines Tages unverhofft Yasukos seit Jahren arbeitsloser gewalttätiger Ex-Mann auftaucht, um Geld aus ihr herauszupressen und schließlich sogar gewaltsam in ihre Wohnung eindringt, schlägt die geistesgegenwärtige Misato ihn im Affekt hinterrücks mit einer Vase nieder, woraufhin ein verzweifelt geführtes Handgemenge entsteht, in dessen Verlauf die beiden Frauen den verhassten Eindringling mit vereinten Kräften erdrosseln. So bietet sich Ishigami, der den Kampf durch die Wand verfolgt hat, endlich die erhoffte Chance, seinen „Lebensretterinnen“ seinen tief empfundenen Dank zu erweisen, indem er ihnen hilfreich zur Seite steht.

Und hier erst beginnt nun die eigentliche, absolut fesselnde und angesichts der sonst üblichen Plots von Kriminalromanen höchst ungewöhnlich scheinende Handlung des Romans – wir kennen bereits den Tathergang, wir kennen Opfer und Täter, doch Ishigami hat einen genialen mathematisch-ausgeklügelten Plan, der den unbeabsichtigten und vollkommen unkontrolliert ausgeführten Mord nachträglich zum perfekten Verbrechen ohne jegliche auf die Mörderin hinweisende Spuren macht. Leider – und das müssen wir aufgrund unserer unbestreitbaren tiefen Sympathien für Ishigami, Yasuko und Misato ohne jegliche Abstriche konstatieren – konnte der Mathematiker kaum mit dem überraschenden Umstand rechnen, dass der ermittelnde Kommissar im Verlaufe des Falls ausgerechnet denjenigen seiner früheren Kommilitonen um kriminalistischen Rat bitten wird, der Isgigami intellektuell das Wasser reichen kann.

So entwickelt sich zwischen den beiden seit Studientagen freundschaftlich miteinander verbundenen sympathisch-verschrobenen Wissenschaftlern ein packendes, stets mit fairen Mitteln geführtes, kameradschaftliches Ringen um die Wahrheit. Wie weit Ishigami in seinem ehrlichen Bestreben, Yazuko um jeden Preis zu schützen, schließlich gehen wird, nimmt uns am Ende völlig den Atem. „Verdächtige Geliebte“ ist mit seiner überzeugenden Milieu- und Charakterzeichnung einer der besten und berührendsten schon-fast-nicht-mehr Kriminalromane seit Jahren, weil er mit ehrlichem emotionalem Tiefgang den genreüblich-unverzichtbaren Mord nur als Initialzündung der Handlung benutzt, um auf literarisch höchst anspruchsvolle Weise Irrwege und Glücksmomente des menschlichen Lebens ebenso kunstvoll wie glaubwürdig abzubilden.

„Verdächtige Geliebte“, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, erschienen bei Klett-Cotta, 320 Seiten, € 19,95

Sonntag, 10. Februar 2013

„Wanderungen in Palästina“ von Raja Shehadeh

Der Begriff der sarha umschreibt im Sprachgebrauch des palästinensischen Arabisch eine vornehmlich von jungen Männern unternommene ziellose Wanderung durch unberührte Natur, die manchmal nur wenige Stunden, in der Regel einen Tag, unter Umständen aber auch mehrere Wochen oder Monate dauern kann. „Auf eine sarha zu gehen bedeutet, nach Belieben umherzuschweifen, ohne Beschränkungen“, erläutert der palästinensische Menschenrechtsanwalt und Schriftsteller Raja Shehadeh, geboren 1951, in seinem großartigen, in Großbritannien mit dem renommierten Orwell-Preis für politisches Schreiben ausgezeichneten Buch „Wanderungen in Palästina“.

Ein Mann, der auf die sarha geht, wandert, [...] wohin ihn seine Stimmung treibt, um seine Seele zu nähren und sich zu regenerieren. Auf eine sarha zu gehen, bedeutet loszulassen. Es ist ein drogenfreier Höhenflug auf palästinensische Art.



Auch der Extrembergsteiger und lebenslange Abenteurer des Geistes Reinhold Messner beschreibt das einsame Wandern gern als vermutlich älteste Art der Meditation. Dass jedoch in einem Land wie Israel/Palästina unterwegs zwangsläufig auch über Politik meditiert werden muss, darf keinesfalls verwundern. Denn der für eine sarha charakteristische grenzen- und schrankenlose Charakter dieser Wanderung, im Einklang mit sich selbst und der Natur, ist im heutigen, von zahllosen Kontrollpunkten, Straßen und jüdischen Siedlungen zerschnittenen Palästina schon allein aus geopolitischen Gründen kaum noch möglich.

Als ich vor einem Vierteljahrhundert mit meinen Wanderungen durch die Hügel Palästinas begann, war ich mir nicht im Klaren darüber, dass ich durch eine verschwindende Landschaft reiste. Die Hügel waren damals ein einziges großes Naturreservat von einer unberührten Pracht und Freiheit, wie sie solchen Gegenden eigen ist. Sie waren für mich immer so etwas wie mein Privatgarten, sei es für Spaziergänge, Picknicks oder Ausflüge zum Blumenpflücken. Ich habe die Veränderung ihrer Farben sowohl während der verschiedenen Tages- und Jahreszeiten als auch während der endlosen Abfolge der Kriege beobachtet.

 Neben zauberhaften Beschreibungen der besonders im Frühling berückend schönen Natur des Landes, wird Shehadeh inhaltlich immer wieder auf die ernüchternden Folgen der israelischen Siedlungspolitik zurückgeworfen, die er, wie er unumwunden zugibt, von ganzem Herzen verachtet. Seine auch in der Chronologie letzte Wanderung des Buches unternahm der Autor im Jahr 2006 – mittlerweile war es gänzlich unmöglich geworden, einfach drauflos zu laufen, erstmals musste der bereits seit 1967 engagierte Verfechter einer Zweistaatenlösung eine topografische Karte zur Hilfe nehmen, um eine gangbare Route ausarbeiten zu können.

Unterwegs trifft er auf einen etwa fünfundzwanzigjährigen israelischen Siedler, der in der Abgeschiedenheit der Natur aus einer Wasserpfeife Haschisch raucht. In der sich unwillkürlich entwickelnden, zunehmend hitzig und unversöhnlich geführten Grundsatzdiskussion zwischen den beiden entlarvt Shehadeh geradezu beispielhaft die ganze Absurdität und Ausweglosigkeit des politischen Status Quo und beklagt die traurige Perspektivlosigkeit beider Völker.

Als alles gesagt scheint und die Positionen umso unvereinbarer, lenkt der Siedler ein und lädt den sich bereits abwendenden Shehadeh zum gemeinsamen Rauchen ein. So schließt das Buch mit einem wunderbaren Moment vorläufigen, höchst zerbrechlichen Friedens:

Ich war mir völlig im Klaren über die sich abzeichnende Tragödie und den Krieg, die uns beide bevorstanden. Aber jetzt konnten wir beide hier für eine kurze Atempause zusammensitzen, eine nergile rauchen, vorübergehend verbunden in unserer beidseitigen Liebe zu diesem Land.  In der Ferne waren Schüsse zu hören, die uns beide schaudern ließen.

„Wanderungen inPalästina“, aus dem Englischen von Jürgen Heiser, erschienen im Unionsverlag, 251 Seiten, € 9,90

Dienstag, 5. Februar 2013

„Wurde Amerika in der Antike entdeckt?“ von Hans Giffhorn

Ein heute fast vergessener Mythos über einen rätselhaften Exodus in der Antike, den zeitgenössische Schriftsteller immer wieder aufwarfen, betrifft den möglicherweise ungeklärten Verbleib eines Teils der mächtigen karthagischen Kriegs- und Handelsflotte nach der Eroberung und Zerstörung jenes einflussreichen phönizischen Stadtstaates an der Nordküste des heutigen Tunesiens durch seinen nach der absoluten Vorherrschaft im Mittelmeer strebenden römischen Reiches im Jahr 146 v. Chr. Wie historische Berichte von als zuverlässig eingestuften antiken Autoren nahelegen, verfolgte eine römische Expedition die Spuren der Flotte unmittelbar bis an die afrikanische Westküste, wo sie offenbar ohne Ergebnis abdrehen musste und nach Hause zurückkehrte.

Eine ebenso überraschende wie mutige Hypothese, jedoch gegründet auf zahlreiche, bei eingehender Betrachtung der bisherigen Fakten durchaus stichfest scheinende, in enger Zusammenarbeit von Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen aufgeworfener Indizien, hat nach mehr als fünfzehn Jahren intensiver Forschung der Hildesheimer Kulturwissenschaftler Hans Giffhorn aufgestellt. Da diese zugegeben sensationelle Hypothese an ein wissenschaftliches Tabu rührt, ist nicht nur ein großes Medienecho auf seine Veröffentlichung zu erwarten, sondern auch erbitterten Widerspruch aus der Fachwelt.



In der Tat wagt sich der Kulturwissenschaftler und renommierte Dokumentarfilmer (ARD, ZDF, arte) mit seiner erstaunlichen Theorie auf ein vielfach vermintes Gebiet vor, das sonst so begabte pseudowissenschaftliche Entertainer wie Erich von Däniken oder Johannes von Buttlar für sich reklamieren, die in ihren besten Momenten bestenfalls als Spezialisten für mutige Fragen gelten können, während sie überzeugende Antworten oder gar stichhaltige Beweise in aller Regel schuldig bleiben müssen. So hat Hans Giffhorn, wie er in seinem nun vorliegenden Buch mehrfach bekennt, im Verlauf seiner Forschungen sich selbst immer wieder zu widerlegen versucht und mit Rücksicht auf kulturelle oder politische Befindlichkeiten lange gezögert, seine bisherigen Ergebnisse zu veröffentlichen.

Diesen ursprünglichen wissenschaftlichen Geist merkt man seinem fesselnden, im renommierten Verlag C.H. Beck erschienenen Buch jederzeit an, auch wenn hierin Archäologie, Mythos und kriminalistischer Eifer eine komplizierte wechselseitige Verbindung miteinander eingehen, deren Grenzen zum Teil nur noch schwer auseinander zu halten sind, sobald man als Leser einmal Feuer gefangen hat – und Giffhorns Buch ist in der Tat eine äußerst spannende und geistig anregende, in hohem Maße inspirierende Lektüre. Darüber hinaus kann dieser wissenschaftlich „schwierige“ Befund für viele originäre archäologische Entdeckungen in der Wissenschaftsgeschichte gelten.

Wesentlicher Gegenstand der über fünfzehnjährigen intensiven Studien und Feldforschungen des Autors ist die selbst von einheimischen Wissenschaftlern bislang im systematischen Sinne weitgehend unerforscht gebliebene Chachapoya-Kultur Zentralperus. Diese etwa von der Zeitenwende bis kurz vor der Eroberung Südamerikas durch die spanischen Konquistadoren nachzuweisende frühe Hochkultur gibt der Wissenschaft mit ihren zahlreichen kulturellen Eigenheiten bis heute Rätsel auf. So berichten bereits Inka-Chronisten, dass die von ihnen erst nach jahrzehntelangem Kampf unterworfenen kriegerischen Chachapoya ungewöhnlich hellhäutig seien, zum Teil sogar rote oder blonde Haare trügen.

Als einzige Kultur Südamerikas bauten die Chachapoya runde Häuser aus Stein, ihre Festung Kuelap gehört zu den beeindruckendsten Großbauten des Kontinents, sie bedienten sich bei Kopfverletzungen einer besonders charakteristischen Art der Schädeltrepanation und auch ihre Hauptwaffe, die Steinschleuder, weist Eigenheiten auf, die in der gesamten Neuen Welt keinerlei Parallelen hat. Im Vergleich mit archäologischen Funden im europäischen Mittelmeerraum hat das Team von Hans Giffhorn jedoch sehr erstaunliche und ausgesprochen überraschende Übereinstimmungen mit verschiedenen antiken Völkern gefunden, die nachweislich zu den letzten verbliebenen Verbündeten der Karthager gehörten und traditionell als geübte Berufssoldaten jahrhundertelang in deren Sold standen.



Die angesichts der von uns heute vermuteten seefahrerischen Fähigkeiten der Antike nahezu unglaublich klingende Theorie, die Hans Giffhorn in seinem fesselnden Buch erzählt: nämlich die eines breit angelegten karthagischen Exodus an die Küste Brasiliens und die anschließende Besiedlung des peruanischen Kernlandes sowie Fortbestand dieser Kultur über hunderte von Jahren, ist – in literarischer Hinsicht – zuallererst eine großartige, absolut fesselnde Geschichte, die unsere Fantasie in einzigartiger Weise zu beflügeln vermag, weil sie unbewusst verschiedenste Formen mythischer Geschichtsauffassung und sogar antagonistische Kontinente auf wunderbar-tröstliche Art und Weise miteinander zu versöhnen scheint.

Dabei wendet sich Giffhorn vehement auch gegen rassistisch motivierte Theorien aus der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, die eine Abstammung der Chachapoya von den Wikingern delirierten. Auch die aus ihrem indigenen Selbstverständnis verständlichen Vorbehalte südamerikanischer Wissenschaftler gegenüber möglichen präkolumbischen europäischen Kultureinflüssen behandelt der Autor mit dem dringend gebotenen Einfühlungsvermögen und großer politischer Sensibilität. Ob sich die zahlreichen von ihm präsentierten überzeugenden Indizien letztlich als tragfähig genug erweisen werden, um seine fantastische Theorie zu untermauern oder gar zu beweisen, kann nur weitere intensive Forschung vor Ort in Peru leisten. Eine großartige Geschichte ist dies allemal.

„Wurde Amerika in der Antike entdeckt?“, erschienen bei C.H. Beck, 288 Seiten, € 18,95

Samstag, 2. Februar 2013

„Moabiter Sonette“ von Albrecht Haushofer


Siebzehn Tage vor Kriegsende, in der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945, einen Tag bevor sich der Belagerungsring der russischen Armee endgültig um Berlin schloss, wurde eine von der Gestapo gezielt ausgewählte Gruppe siebzehn sogenannter „politischer Häftlinge“, fast ausnahmslos Beteiligte oder Mitwisser des misslungenen Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944, bei einer vorgeblichen Überführung vom Zellengefängnis „Moabit“ zum nahe gelegenen SD-Hauptamt auf einem weitläufigen Trümmerfeld nahe des Potsdamer Bahnhofs von einem Trupp der SS mit besonderer Heimtücke ermordet, die Leichen einfach an Ort und Stelle liegengelassen.

Wie durch ein Wunder überlebte einer der unglücklichen Häftlinge das Blutbad und konnte so Wochen später Vetreter der siegreichen alliierten Truppen zum Tatort führen, so dass die sterblichen Überreste sämtlicher Opfer zweifelsfrei identifiziert und standesgemäß bestattet werden konnten. Zu den prominentesten Ermordeten gehörte auch der 1903 in München geborene Geograph, Schriftsteller und Diplomat Albrecht Haushofer, in dessen Manteltasche sich, auf fünf eng beschriebenen, blutdurchtränkten DIN-A-4-Seiten, ein beeindruckendes literarisches Vermächtnis von achtzig Sonetten in streng-gereimterer klassischer Form fand, das ohne Zweifel zu den aufrüttelndsten lyrischen Dokumenten des Widerstands gegen das NS-Regimes gezählt werden muss.



Jetzt ist im Rahmen der dringend wiederzuentdeckenden kleinen Kostbarkeiten der Weltliteratur gewidmeten kleinen Reihe textura im Münchener Beck-Verlag eine wunderbare Neuausgabe letzter Hand der „Moabiter Sonette“ mit einem ebenso kenntnisreichen wie erhellenden Kommentar von Ursula Laack erschienen, die diesem einzigartigen Dokument poetischer Weltdurchdringung endlich auch eine buchkünstlerisch ansprechende Form verleiht. Allein die Entstehungs- und Editionsgeschichte dieser achtzig Sonette von beeindruckender Intensität und Strahlkraft ist so voller erzählenswerter Geschichten, dass es mitunter schwer fällt, sich wieder auf den Text zu besinnen, dessen reiches assoziatives Umfeld nicht nur im metaphorischen Sinne weit über die Erfahrung der unschuldigen Haft hinausweist:

Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt,
Ist unter Mauerwerk und Eisengittern
Ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern,
Das andrer Seelen tiefe Not enthüllt.

Ich bin der erste nicht in diesem Raum,
In dessen Handgelenk die Fessel schneidet,
An dessen Gram sich fremder Wille weidet.

Der Schlaf wird Wachen wie das Wachen Traum.
Indem ich lausche, spür ich durch die Wände
Das Beben vieler brüderlicher Hände.

Aus heutigem Blickwinkel erscheint Albrecht Haushofer eher als widersprüchlich-gebrochene Persönlichkeit: ausgegrenzt als „Vierteljude“ aufgrund der verblendeten Rassen-Terminologie des Nationalsozialismus, konnte er ausgerechnet durch die Protektion von Rudolf Hess, einem ehemaligen Studenten seines Vaters, nicht nur als odentlicher Professor für Geographie an der Berliner Universität Karriere machen, sondern wurde bis zu seiner endültigen Desillusionierung Ende der 30er Jahre darüber hinaus auch mit Zahlreichen diplomatischen Aufgaben für das Außenministerium Ribbentrops betraut. Sein Vater Karl Haushofer (1869-1946) gilt als einer der Begründer der Geopolitik, der auf naive Art und Weise, wenn auch ohne es zu wollen, Hitlers hegemoniale Großmachtsfantasien wissenschaftlich befeuerte:

Für meinen Vater war das Los gesprochen.
Es lag einmal in seines Willens Kraft,
den Dämon heimzustossen in die Haft.

Mein Vater hat das Siegel aufgebrochen.
Den Hauch des Bösen hat er nicht gesehn.
Den Dämon ließ er in die Welt entwehn.

Obwohl er sich der aktiven Verfehlungen und Unterlassungssünden seines Vaters schon sehr frühzeitig nur allzu bewusst war, hat Albrecht Haushofer noch lange die idealistisch-motivierte Illusion gehegt, er selber könne, indem er in verantwortungsvoller Position im System der Nationalsozialisten Einfluss zu nehmen versuche, möglicherweise Schlimmeres verhindern. Schon im März 1933 schrieb er an seine Mutter:

Der einzige Trost ist ein sehr negativer – nämlich die Überzeugung, dass wir einer so grossen allgemeinen Katastrophe entgegengehen, dass es auf die persönliche bald nicht mehr ankommen wird.

Spätestens jedoch die Erfahrung rücksichtslos-entfesselter brutaler Gewalt während der unseligen Pogromnacht vom 9. November 1938, die Haushofer als unmittelbare Reaktion der Machthaber auf die während der Münchener Konferenz wegen der nachlässig-unentschlossenen Haltung Großbritanniens unerfüllt gebliebenen sofortigen Kriegshoffnungen beurteilte, ließ ihn die Vergeblichkeit seiner Bemühungen engültig erkennen. Ribbentrop selbst hatte eines seiner letzten Dossiers über eine Mission in London mit dem Kommentar „Secret-Service-Propaganda“ quittiert.

Nach Rudolf Heß' rätselhaftem Englandflug am 10. Mai 1941 wurde Haushofer für mehrere Wochen interniert, da man ihn (nicht völlig zu Unrecht) verdächtigte, an den Vorbereitungen beteiligt gewesen zu sein. Und nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler im Sommer 1944 verhaftete ihn die Gestapo in der Bergeinsamkeit seiner seit Kindheitstagen geliebten, bereits seit Generationen in Familienbesitz befindlichen Partnachalm bei Garmisch-Partenkirchen, auf die er auch in einem seiner „Moabiter Sonette“ wehmütig zurückblickt.

Man hat mich über meine Flucht befragt,
Warum ich nicht den Weg zum Rhein genommen,
Zur nahen Schweiz den jungen Strom durchschwommen,
Bevor man gründlich erst nach mir gejagt.

Ich wollte nicht aus meiner Heimat gehn.
Sie schien mir lange guten Schutz zu gönnen.
Dann hat auch sie mich nicht mehr bergen können.
Ich werde lebend kaum sie wiedersehn.

In der zwangsweisen, klösterlich nach innen gekehrten Isolation der Gefängnishaft vollzieht sich eine beeindruckende geistige und spirituelle Vervollkommnung der Persönlichkeit Haushofers. Seine „Moabiter Sonette“ offenbaren eine ebenso intensive wie schonungslose Selbstanalyse sowie eine weitreichende philosophische und politische Durchdringung der Realität mit allen Mitteln der Poesie. Sie sind nicht nur die hellwach-gefasste Bilanz eines von zahlreichen Irrtümern geprägten und dem Ideal einer zu schaffenden Einheit von Lebensrealität, Kunst und Politik gewidmeten Lebens, sondern auch Ausdruck der geistigen Überwindung der beklagenswerten politischen und gesellschaftlichen Umstände.

Die einzelnen Sonette sind untereinander durch eine geradezu traumwandlerisch-leichte, von zahlreichen nur scheinbar unbewussten Assoziationen geleiteten, reichhaltigen Kette von Einzelmotiven aufs engste miteinander verbunden. Wie wir heute wissen, kursierten einzelne Sonette auch unter Haushofers Mitgefangenen, gaben diese nicht nur Hoffnung und geistige Beschäftigung in der jeweiligen Zelleneinsamkeit, sondern zweifellos auch das Gefühl einer gemeinsamen Identität als unrechtmäßig Verfolgte: Solidarität. Den sicher erwarteten Tod gelingt es Haushofer am Ende seines Manuskripts sogar zu umarmen und das Motiv der gebundenen Hand zu einem der Hoffnung zu verwandeln:

Dann weiss ich, aus dem Träumen aufgestört,
Wie einer fühlt in seinen letzten Stunden,
Der, an ein ruderloses Boot gebunden,

Den Fall des Niagara tosen hört.
Die Wasser schlagen an des Bootes Rand.
Sie strömen rasch. Gebunden – ist die Hand.

Dass ein System der Despotie lediglich den Körper zu knechten vermag, während der Geist frei bleibt, erscheint als wesentliche künstlerische Aussage angesichts der unvorstellbaren Grausamkeiten, die der Nationalsozialismus zu verantworten hat, beinahe schon trivial. Doch die Tatsache, dass diese achtzig handwerklich perfekten Sonette von unbezwingbar scheinendem Widerstandsgeist und unbestreitbarer moralischer Lauterkeit blutbefleckt in der Tasche eines unschuldig Ermordeten gefunden wurden und bis heute vernommen werden können, scheint diese hoffnungsvolle Einschätzung nicht nur zu bekräftigen, sondern auf möglicherweise zukunftsweisende Art und Weise sogar zu beweisen.

„Moabiter Sonette“, erschienen bei C.H. Beck, 128 Seiten, € 16,95