Jerusalem

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Dienstag, 24. September 2013

„Der Fluch der falschen Frage“ von Lemony Snicket

Der erste Band der neuen Buchreihe „Meine rätselhaften Lehrjahre“ des fiktiven Erzählers Lemony Snicket ist ein schmales Büchlein von gerade einmal 221 Seiten. Auf der Rückseite des vom kanadischen Comic-Künstlers Seth elegant dreifarbig gestalteten Umschlags ist ein Auschnitt aus einer überschwänglichen Rezension anlässlich des Erscheinens der amerikanischen Originalausgabe im renommierten Boston Globe abgedruckt, die besagt man müsse dieses Buch unbedingt zweimal lesen: „Das erste Mal für die Lacher und das zweite Mal, um die Spur zu verfolgen.

Diese Diagnose ist indes absolut korrekt, denn es gibt kaum einen anderen zeitgenössischen Schriftsteller, der es so geistreich versteht, falsche literarische Spuren für seine Leser auszulegen wie Daniel Handler (geboren 1970), der unter seinem bewährten Pseudonym Lemony Snicket bereits den großen internationalen Erfolg seiner ersten, zwischen 1999 und 2006 erschienenen dreizehnteiligen Kinderbuchreihe „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“ verantwortete, deren ersten drei Teile bereits im Jahr 2004 mit Jim Carrey eindrucksvoll für Hollywood verfimt wurden.



Schon diese erste Buchreihe um die drei ausdrücklich „bemitleidenswerten“, von ihrem raffgierigen Onkel, Graf Olaf, verfolgten steinreichen Baudelaire-Waisen erfreute sich besonders bei Erwachsenen großer Beliebtheit, weil Handler es darin virtuos verstand, ein surrealistisch-dunkles viktorianisches Setting mit ironisch-sarkastischem Humor und einer überbordenden kindlichen Fantasie zu mitreißend-skurrilen Geschichten zu verarbeiten, in denen er stets besonders pointierte, sprachlich wie philosophisch funkelnd-schöne Formulierungen für die verschiedensten Denkwürdigkeiten des menschlichen Alltags fand, wie sie im deutschen Sprachraum in dieser Dichte nur Wolf Haas zu schaffen vermag.

Ich folgte Theodora die Auffahrt entlang und eine lange Ziegeltreppe hinauf zur Eingangstür, wo sie sechsmal hintereinander Sturm klingelte. Alles sagte mir, dass das falsch war – dass wir am falschen Ort vor der falschen Tür standen. Aber das half mir nichts. Zu wissen, dass etwas falsch ist, ohne dass das etwas hilft, ist eine Erfahrung, die man im Leben häufig macht, und ich bezweifle, dass ich je wissen werde, warum.

Diese weise, bei gewöhnlichen Menschen sich erst am Ende eines langen, erfüllten Lebens einstellende Erkenntnis aus dem zweiten Kapitel seines neuen Buchs „Der Fluch der falschen Frage: Meine rätselhaften Lehrjahre, Teil 1“, welches den gelungenen Auftakt zur ebenfalls auf mehrere, bisher noch nicht exakt bezifferte Teile angelegten Vorgeschichte des Werdegangs von Lemony Snicket in einer obskuren kafkaesken Geheimorganisation namens V.F.D. erzählt, ist exemplarisch für ein schwer zu fassendes, von großer Originalität geprägtes Werk, das die komplexe, in vielerlei Hinsicht bereits vollendete, geradlinig-authentische kindliche Persönlichkeit auf eine Art und Weise feiert, wie es selbst im Bereich der pädagogischen oder kinderpsychologischen Fachliteratur nur ganz selten vorkommt.

Daniel Handler


Die Tatsache, dass Daniel Handlers Werke für den durchschnittlichen deutschen Spießbürger aufgrund des darin transportierten hellwachen, anarchischen Humors als probate zeitgemäße Weltanschauung und ihrer aus Kinder(alb)träumen sowie intuitiv zu unserer Seele sprechenden Märchen gespeisten dunklen Grundatmosphäre schwer einzuordnen sind, hat bisher leider einen angemessenen kommerziellen Erfolg im deutschen Sprachraum vnachhaltig erhindert. Dabei spricht der Autor auf wunderbare und versöhnliche Art und Weise in besonderem Maße auch das verdrängte oder beiseite geschobene Kind im erwachsenen Leser an.

Die Landkarte ist nicht das Gelände.“
Was soll das heißen?“
Das ist ein Erwachsenenausdruck für den Schlamassel, in dem wir stecken.“
Erwachsene erzählen Kindern nie irgendwas.“
Kinder Erwachsenen aber auch nicht“, sagte ich. „Die Kinder und die Erwachsenen dieser Welt sitzen in getrennten Booten und begegnen sich nur, wenn entweder wir wollen, dass sie uns mit dem Auto irgendwo hinfahren, oder wenn sie wollen, dass wir uns die Hände waschen.“

Am Anfang des Buches sitzt der zwölfjährige Erzähler Lemony Snicket nach Abschluss seiner theoretischen Grundausbildung mit seinen beiden Eltern vor einer giftig-dampfenden Teetasse in Schierlings Schreibwaren und Café gegenüber des Hauptbahnhofs einer namenlosen Großstadt, als eine Frau mit einer wilden, wallenden Haarmähne das heruntergekommene Etablissement betritt, schnell eine Postkarte kauft und, bevor sie den merkwürdigen Laden eilig wieder verlässt, dem angehenden Praktikanten im Vorübergehen heimlich einen Zettel mit einer geheimen Botschaft zusteckt:

KLETTER AUS DEM KLOFENSTER UND KOMM IN DIE
GASSE HINTER DEM LADEN. ICH WARTE IN DEM
GRÜNEN ROADSTER. DU HAST FÜNF MINUTEN.
S.

Roadster“, das wusste ich, war ein hochgestochenes Wort für Auto, und ich fragte mich unwillkürlich, welcher normale Mensch sich die Mühe machte, „Roadster“ zu schreiben, wenn das Wort „Auto“ vollkommen ausreichte. Ich fragte mich auch, welcher normale Mensch eine Geheimbotschaft signierte, und sei es nur mit einem S. Eine Geheimbotschaft war geheim. Wozu also die Unterschrift?

Die geheimnisvolle Frau erweist sich nach geglückter Flucht als zukünftige, selbstgewählte Mentorin des Erzählers, die angeblichen Eltern als hinterhältige, heimtückische Unbekannte und der Tee als mit dem starken Opiat Laudanum versetztes Betäubungsgetränk.

Wenn ich meinen Tee getrunken hätte, wäre ich nicht in dem Roadster gelandet, und wenn ich nicht in dem Roadster gelandet wäre, dann wäre ich auch nie im falschen Baum gelandet oder im falschen Keller, dann hätte ich nie die falsche Bibliothek zerstört oder all die anderen falschen Antworten auf die falschen Fragen gefunden, die ich stellte. S. Theodora Markson hatte recht. Es gab niemanden hier, der mich an die Hand nahm.

Schon bald verschlägt es die beiden ungleichen Partner in eine fast gänzlich entvölkerte Stadt namens Schwarz-aus-dem-Meer, eine der schäumenden See durch Trockenlegung abgerungene armselige Enklave, deren ehemaliger Reichtum, die ganzen Kolonien von Tintenfischen mittels bizarrer spritzenartiger Maschinen industriell entfernte schwärzeste Tinte der Welt, längst versiegt ist. Hier sollen sie im Auftrag einer merkwürdigen alten Dame einen angeblich gestohlenen Gegenstand wiederbeschaffen, deren Wert laut Klientin auf eine „mehr als astronomische Summe“ geschätzt werde: eine abgrundtief hässliche Statuette der sogenannten Bordunbestie, einem furchterregenden Fabelwesen aus dem lokalen Sagenkreis.

"Lemony Snicket"


Das sich aus diesen Zutaten entspinnende köstlich-geniale Verwirrspiel, das von zahlreichen gelungenen Wort-Definitionen, einem konsequent durchexerzierten Running-Gag um den Namen S. Theodora Markson („Wofür steht das S?“), einer ganzen Reihe falscher Fragen, deren wichtigste „Wer kann das so spät noch sein?“ den englischen Originaltitel zitierend auf dem Rückumschlag abgedruckt ist, sowie zahllosen unvergesslich-skurrilen Charakteren mit bemerkenswerten Namen befeuert wird, die die jüdisch-deutsche Herkunft des Autors ebenso offenbaren wie seine umfangreiche klassische literarische Bildung, hinterlässt uns bis zum Ende geradezu atemlos amüsiert.

Die Motten umflatterten ein kleines Schild mit dem Aufdruck: DASHIELL QWERTZ, UNTER-BIBLIOTHEKAR. Er war jünger, als ich mir Bibliothekare im Allgemeinen vorstelle, zu jung, um der Vater von irgendwem zu sein, den ich kannte, und seine Frisur sah aus, als hätte er die Scherenattacke eines Geisteskranken überlebt.

Dass die Auflösung schließlich weniger spektakulär ausfällt als man möglicherweise erwarten möchte und viele unerwartete Pointen noch für die nächsten, sehnlichst erwarteten und hoffentlich bald folgenden Abenteuer offen lässt, unterstützt nur die bereits am Anfang gelernte Lektion – denn das „ist eine Erfahrung, die man im Leben häufig macht“. Es bleibt dennoch vollkommen unerlässlich, das Buch gleich nach Abschluss der Lektüre ein zweites Mal zu lesen, denn die Art und Weise wie Daniel Handler uns ein ums andere Mal an der Nase herumführt, ohne etwas Wesentliches zu verschweigen, ist einfach unnachahmlich.

Dabei kommt Handler allerdings in besonderem Maße die höchst signifikante Tatsache zugute, dass Kinder noch ganz anders, vor allem viel aufmerksamer und umfassender zu beobachten und zu formulieren vermögen als Erwachsene. Aus dieser vom Autor offenbar tief verinnerlichten Grundpannung bezieht „Der Fluch der falschen Frage“ einen großen Teil seiner wunderbaren, geistreich-witzigen Energie.

Lemony Snicket“, sagte ich und überreichte ihr einen Umschlag, der in meiner Tasche gesteckt hatte. Darin befand sich mein sogenanntes Empfehlungsschreiben – ein paar wenige Zeilen, die mich als einen herausragenden Leser, einen guten Koch, einen mittelmäßigen Musiker und einen miserablen Zänker auswiesen. Mir war verboten worden, mein Empfehlungsschreiben zu lesen, und ich hatte ziemlich lange gebraucht, um die Klebelasche zu lösen und neu zu versiegeln.

Das Buch ist vom vielfach ausgezeichneten Comic-Künstler Seth in einer kongenialen, dem Geist des Bandes absolut gerecht werdenden, hintergründig-ironischen Bildsprache durchgängig zweifarbig illustriert worden, was perfekt zum Charakter des Romans als immer wieder lesbares Lieblingsbuch passt, in dem man jedes Mal neue Details zu entdecken vermag. Eine schöne Idee, denn dadurch wird die Nähe zum nahe verwandten Genre des ambitionierten Comics oder der Graphic Novel besonders deutlich. Daniel Handler aber ist ein Genie, dem mit dem Auftakt zu seiner neuen Buchreihe ohne Zweifel ein weiterer großer Wurf gelungen ist.

„Der Fluch der falschen Frage“, aus dem Amerikanischen von Sabine Roth, erschienen bei Goldmann, 221 Seiten, € 10,-

Montag, 23. September 2013

„Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst“ von Shani Boianjiu

Immer wieder entpuppen sich scheinbar ambitionierte, an guter Literatur interessierte Verlage leider als das genaue Gegenteil dessen, als was sie sich dem feinsinnigen, interessierten Leser gegenüber nur allzu gern präsentieren, nämlich als knallhart kalkulierende Wirtschaftsunternehmen, die den möglichst schnellen kommerziellen Erfolg eines Buches deutlich über dessen literarische Qualitäten stellen, auf die sie doch mit den Mitteln eines guten Lektorats direkten Einfluss hätten nehmen können.

Anders jedenfalls lässt es sich kaum erklären, warum im Falle der jungen und talentierten, in englischer Sprache debütierenden israelischen Schriftstellerin Shani Boianjiu (geboren 1987) ein in Wahrheit lediglich aus einigen in der Tat sehr gelungenen, in Stimmung und Ton sehr präzise beobachteten, aber eben auch aus zahlreichen allenfalls mittelmäßigen Erzählungen bestehendes Buch mit dem prominenten Rückenwind der „5 Under 35“-Nominierung der New Yorker Autorin Nicole Krauss als Roman veröffentlicht werden musste, das – wenn man es um einiges gekürzt und um andere Themenkreise erweitert hätte – als großartige Sammlung von Kurzgeschichten einer viel versprechenden neuen Autorin hätte durchgehen können.



Am Anfang dieses Tages dachte ich, vielleicht würde etwas passieren, und ich könnte am Ende mit meiner Mutter zu Hause bleiben, aber am Ende passierte nichts. Am Vormittag kauften wir Socken und Schuhcreme. Am Nachmittag fuhren wir mit dem Bus zum Bus, der mich zur Zuteilungsstation fuhr. Wir stritten uns eine Weile. Dann sagte ich, ich würde schon klarkommen. Sie bürstete mir weiter die Haare und hatte die Haarbürste noch in der Hand, als ich in den Bus stieg. Durchs Busfenster sah ich, wie sie auf dem Gehweg stand und ihre dunklen Hände die Bürste festhielten. Dann gab der Fahrer Gas, und ich konnte sie nicht mehr sehen. Und das war der Anfang.

Shani Boianjius in den USA von Kritik und Publikum begeistert aufgenommenes, nach derzeitigem Stand in nicht weniger als 23 Ländern erscheinendes Buch mit dem anspielungsreichen, möglicherweise zynisch gemeinten, möglicherweise poetischen Titel „Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst“ erzählt mit von Kapitel zu Kapitel wechselnder Perspektive vom sinnlosen Weg dreier israelischer Mädchen, allesamt Schulfreundinnen aus einem namenlosen Industriestädtchen im Norden Israels, innerhalb der israelischen Armee im Rahmen ihres obligatorischen zweijährigen Militärdienstes nach dem Schulabschluss.

Sie nennen die anderen Soldatinnen „deine Freundinnen“. Ich hasse das. Das sind andere Soldatinnen, nicht meine Freundinnen. Sogar meine Mutter hat gesagt, zur Armee gehst du nicht, um Freundinnen zu finden. Lass dir nichts vormachen. Du siehst ja, was mit Dan passiert ist.

Die Autorin bedient sich dabei einer unverkennbar-eigenständigen, von jugendlichem Slang und Humor gleichermaßen getragenen Sprache, die in den besten Momenten, vor allem zu Beginn des Buches, unverbraucht-authentisch erscheint, sich dann aber bald im sprachlich nicht überzeugend vollzogenen Perspektivwechsel zwischen den einzelnen drei Rekrutinnen schnell abnutzt und sich später, im ständig mühseliger werdenden Leseeindruck, nach etwa hundert Seiten in einem unklaren, ärgerlichen und nicht angemessenen, beklagenswerten Grenzbereich zwischen Infantilität und Debilität einpendelt.

Das ist ausgesprochen schade, denn die Empathie der Autorin für ihre Protagonistinnen, die ohne jeden Zweifel individualisierte Spiegel einer unfreiwilligen kollektiven Erfahrung aller israelischen Frauen darstellen, ist von geradezu entwaffnender Ehrlichkeit und Tiefe. Die Überforderung der jungen Schulabgängerinnen in einem Staat, der charakterlich unreife junge Mädchen, anstatt sie in ein selbstbestimmtes eigenverantwortliches Leben zu entlassen, sie wie selbstverständlich dem militärischen Dienst an Checkpoints, an der Grenze oder in den besetzten Gebieten aussetzt, beginnt schon bei den Vorbereitungen auf die Abschlussprüfung im Fach Geschichte:

Benutzen Panzerfaust-Kinder die kleinen Panzerfäuste, die keinen Granatwerfer brauchen?“, fragt Avishag, bevor wir vom Handymast weggehen.
Nein“, sage ich. „Was du meinst, sind die sowjetischen Handgranaten, die auch Panzerfaust genannt werden, aber im 'Frieden für Galiläa'-Krieg wurden die schon nicht mehr verwendet. Du denkst an die Vergangenheit. Du kannst die ganzen Definitionen nachher bei mir abschreiben.“

Shani Boianjius Buch ist vor allem voller zitatwürdig-gelungener Abschnitte, die auf ebenso beiläufige wie eindrückliche Art und Weise verdeutlichen, wie die israelische Jugend im Rahmen ihres obligatorischen Militärdienstes systematisch mit Erfahrungen sowie mit obskurem militärischem Wissen konfrontiert wird, von denen man sich als geistig wacher und politisch denkender Mensch mit Recht wünscht, dass kein Bürger eines demokratischen Staates jemals damit belastet werden sollte – auch unter der wohl bekannten, richtigen Prämisse nicht, dass Israel ein bedrohtes Land ist. Ein Land aber auch, in dem der überwiegende Teil der Bevölkerung es ausdrücklich begrüßt, dass seit einer Gesetzesänderung im vergangenen Jahr ultraorthodoxe Juden den Militärdienst nicht mehr wie bisher aus religiösen Gründen verweigern dürfen.

Das Aufwachen war jeden Morgen eine Tragödie, als ob man die eigene Mutter umgebracht hatte, oder seine Jungfräulichkeit einem Jungen geschenkt hatte, der nur einmal mit einem schlief, und was man getan hatte, merkte man erst, wenn man gezwungen war, die Augen zu öffnen.

„Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst“ ist ohne jeden Zweifel ein Buch, das Augen zu öffnen vermag. Und die in dem zitierten Ausschnitt verwendete Metapher der Jungfräulichkeit ist allumfassend anwendbar, denn das israelische Militär ist für die jungen Rekruten eine gefährliche Spielwiese, sich erstmals unter dafür gänzlich ungeeigneten Rahmenbedingungen selbst zu erproben – und eine potenziell tödliche für sie selbst wie für andere. Zum selben Thema hat die israelische Autorin Michal Zamir übrigens unter dem Titel „Das Mädchenschiff“ schon vor sechs Jahren einen sehr viel reiferen und in vielerlei Hinsicht entschiedeneren Roman vorgelegt.

Um einen unmittelbaren Eindruck zu bekommen, was der Militärdienst mit der Psyche und der Persönlichkeit der davon betroffenen jungen Menschen in Israel anzurichten vermag, ist Shani Boianjius Buch eine gute literarische Ergänzung zu politischen Büchern wie dem authentischen „Breaking the Silence“ (2012) gelungen. Bei allen Vorbehalten gegenüber der vom amerikanischen Verlag verantworteten, nicht fertig ausgearbeiteten und sich letztlich mit viel zu wenig zufrieden gebenden Form ihres „Romans“ lässt ihr Debüt dennoch deutlich aufhorchen und darf durchaus als kapitales literarisches Versprechen aufgefasst werden.

„DasVolk der Ewigkeit kennt keine Angst“, aus dem Englischen von Maria Hummitzsch und Ulrich Blumenbach, erschienen bei Kiepenheuer &Witsch, 332 Seiten, € 19,99

Freitag, 13. September 2013

"Ein gutes Herz" von Leon de Winter


In seinem möglicherweise besten und unterhaltsamsten Roman bislang verblüfft der streitbare niederländische Schriftsteller Leon de Winter mit zwei höchst erfreulichen erzählerischen Neuerungen, die für sein bisheriges, eher von selbstbezogenem Zynismus geprägtes Werk nicht gerade charakteristisch scheinen: zum einen beweist er darin ein ungewohnt hohes Maß an schmerzensreicher, altersmilder Selbsterkenntnis, was andererseits offensichtlich ursächlich dazu führte, dass er nun – wie er wiederholt im Verlauf seines neuen Buches betont – nicht mehr davor zurückschreckte das zu tun, was er sich insgeheim schon immer gewünscht habe, aber was ein literarisch ambitionierter Autor niemals tun dürfe, nämlich einen (beinahe) lupenreinen Thriller zu schreiben – für dieses Genre habe er, auch in seinem pathologischen Leseverhalten, schon immer ein öffentlich bewusst uneingestandene Schwäche gehabt.



Natürlich ist „Ein gutes Herz“ am Ende doch kein konventioneller Thriller geworden, was wiederum eine gute Nachricht ist: nicht nur für den Leser, sondern ganz besonders auch für die Reputation Leon de Winters. Virtuos schlüpft der aufgrund seiner rechtskonservativen Positionen umstrittene Autor dabei in die Perspektive zahlreicher real existierender und fiktiver Personen und macht sich als frisch von seiner Frau, der bekannten Schriftstellerin Jessica Durlacher, Verlassener selbst zu einer der prominentesten Nebenfiguren seines Buches. Wem wir das alles zu verdanken haben, unterstreicht er dabei unmissverständlich im exklusiven Nachwort zur deutschen Ausgabe:

Ich wollte eigentlich ein anderes Buch schreiben, einen regelrechten Thriller, aber Theo machte mir einen Strich durch die Rechnung. Er dirigierte mich zu dem Roman, der schließlich das Licht der Welt erblickte. Dafür danke ich Theo (wo immer er auch sein mag).

Gemeint ist sein jahrzehntelanger Intimfeind, der ebenfalls höchst umstrittene Filmemacher Theo van Gogh, der am 2. November 2004 auf offener Straße in Amsterdam von dem marrokanisch-niederländischen Islamisten Mohammed Boujeri gleich auf dreifache Weise hingerichtet wurde: denn nachdem dieser den Regisseur des kurz zuvor erschienenen, bewusst polarisierenden, sogenannten „islamkritischen“ Films „Submission“ vom Fahrrad geschossen hatte, schnitt er ihm anschließend die Kehle durch und befestigte sein fünfseitiges Bekennerschreiben mit einem Messer am Körper seines Opfers.

Boujeri rief: „Was guckst du?“
Der Passant war zwar ein bescheidener Salaryman, aber er traute sich, einen Kommentar abzugeben:
Das kannst du doch nicht machen!“
So sagte ein Amsterdamer das. Der rief nicht: Du Schuft, du Nichtswürdiger, du Teufel! Nein, der rief: „Das kannst du doch nicht machen“, als ginge es um einen Akt von Vandalismus, der ihn irritierte.

Van Gogh hatte über Jahrzehnte einen mit großer Vehemenz ausgetragenen öffentlichen Privatkrieg gegen de Winter und Jessica Durlacher geführt, unter anderem im Rahmen einer Fernseh-Talkshow geschmackloserweise behauptet, jener sammele Stracheldraht aus den ehemaligen deutschen Konzentrationslagern, ja lasse sich diesen sogar beim „Treblinka-Liebesspiel“ von seiner Frau um den Penis wickeln. Den haltlosen Vorwurf, de Winter vermarkte in seinen Büchern lediglich publikumswirksam sein Judentum, wiederholte er im Verlauf von Jahrzehnten immer wieder.

Es ist Scheiße, aber es ist auch Stoff für ein Buch.“

Nun also, und das ist das erstaunlichste an Leon de Winters Wandlung, ist Theo van Gogh nicht nur der direkte Auslöser eines wirklich gelungenen Romans, sondern auch einer dessen wesentlicher Protagonisten: denn mit seinem Ableben, Aufsteigen der Seele und jahrelangen körperlosen Verharren bei Zigaretten und Whiskey im trostlosen kasernenhaften Wartesaal zum Einlass ins Himmelreich christlich-jüdischer Ausprägung lässt Leon de Winter sein Buch auf unnachahmliche Art und Weise beginnen.

Theo van Gogh


Da enfant terrible Theo sich über Jahre hinweg als absolut resistent dagegen erweist, sein irdisches Leben loszulassen und zu einer neuen Stufe des Bewusstseins vorzudringen, bekommt er im Vorsaal zum Himmel einen persönlichen Coach zugewiesen, der ihm von Gottes Gnaden eine gewisse grundsätzliche Herzensbildung und menschliche Empathie einimpfen soll.

Theos jetziger Berater hieß Jimmy Davis. Er war hartnäckiger als die ganze Batterie von Vorgängern, die Theo schon verschlissen hatte. Jimmy Davis. Ein attraktiver Schwarzer. Immer hübsch postmodern in Schwarz gekleidet – so zumindest hätte Theos Urteil gelautet, wenn er sich denn einen optischen Eindruck von ihm hätte verschaffen können.
Gestern hatte Jimmy Davis gefragt: „Was willst du, Theo?“
Meinen Körper“, hatte Theo geantwortet.
Das schwere Ding mit all dem Fett?“

Der ehrwürdige Engel Jimmy Davis wiederum ist ein erst vor Jahresfrist an einem Hirntumor verstorbener amerikanischer Franziskanermönch, der seinem klösterlichen Gelübde auf sexuelle Abstinenz stets mit libidinöser Leidenschaft untreu gewesen ist und dessen Herz nun im Leib des ehemaligen Gangsters Max Kohn schlägt, welcher einst mit seinem marokkanischen Partner und Handlanger Kicham Ouaziz den gesamten Rauschgifthandel der Niederlande kontrolliert hatte, nach einem Deal mit der niederländischen Regierung aber freies Geleit ins Ausland zugesichert bekam und sich nun, inspiriert durch das in jeder Hinsicht gute Herz seines Organspenders, auf dem Weg der irdischen Läuterung befindet.

So weit, so kompliziert: Kohns große unvergessene Liebe und langjährige Lebensgefährtin Sonja Verstraet ist seit allerneuestem mit dem ersten Finanzier seiner krummen Geschäfte, dem Schriftsteller Leon de Winter liiert, hatte aber – auf der unsteten, panikartigen Flucht vor Max – auf der karibischen Insel Hispaniola auch eine monatelange unbeschwerte Affäre mit Jimmy Davis. Als Max bei der Beerdigung von Jimmys Schwester nun auf diese merkwürdige, allein durch Zufall kaum zu erklärende Dreiecksverbindung aufmerksam wird, begibt er sich unverzüglich in seine alte Heimat, um die verschreckte Sonja um eine Unterredung zu bitten.

Eines wußte Kohn mit Sicherheit: Er hatte das Herz nicht verdient.

Währenddessen wird Amsterdam von einer perfiden Serie von drei zeitlich so präzise synchronisierten islamistisch motivierten Anschlägen heimgesucht, dass die überrumpelten Behörden kaum eine Chance haben, die Fäden selbst wieder in die Hand zu bekommen: die Attentäter, eine komplette Fußballmannschaft von marrokanischstämmigen Jugendlichen, polizeilich bislang nicht auffällig geworden und unumstrittene Tabellenführer ihrer Spielklasse, sprengen zunächst eine Tiefgarage unter der Oper in die Luft, bringen wenig später ein Passagierflugzeug in ihre Gewalt und besetzen anschließend, schwer bewaffnet, eine Grundschule im Amsterdamer Prominentenviertel.

Natürlich gibt es im faszinierenden Kosmos von Leon de Winters geradezu fiebererregend spannendem literarischen Thriller auch eine überraschende Querverbindung in das obskure Milieu der Attentäter: deren Anführer, Mannschaftskapitän und Mastermind Sallie entpuppt sich nämlich als der fehlgeleitete Sohn von Max Kohns Freund und Geschäftspartner Kicham Ouaziz, einem sich vom Islam und allem Arabischen bewusst distanzierenden Berber, der derzeit noch für einen doppelten Rachemord an Konkurrenten im Rauschgiftgeschäft im Gefängnis sitzt.

Würde Sallie mit den Folgen seiner Wut leben können? Denn alles drehte sich um Wut, das wurde ihm jetzt bewusst. [...] Man hatte ihm hier zwar Chancen eröffnet, er hatte eine passable Ausbildung erhalten, aber dieses Land war ihm zutiefst fremd. Die Brücke war prächtig. Er würde sie zerstören.

Da Max' und Sonjas gemeinsamer zehnjähriger Sohn Natan zu den Geiseln in der besetzten Schule gehört, können die Behörden Max und Kicham dazu bewegen, einen verzweifelten, in höchstem Maße riskanten Rettungsversuch zu wagen, der auf wundersame Weise von der nützlichen Tatsache begünstigt zu sein scheint, dass Jimmy Davis den widerspenstigen Theo van Gogh mittlerweile offiziell zum Schutzengel Max Kohns erhoben hat, damit er sich in dieser ungewohnten Position für die höheren Weihen des Eintritts ins Himmelreich bewähren könne.

Aber er liebte! Siddharta lernte durch die Liebe zu seinem Sohn, was Liebe war. Vielleicht hätte Theo ein liebevoller Künstler werden können wie der entfernte Onkel Vincent, wenn ihm etwas mehr Zeit vergönnt gewesen wäre. Aber Boujeri hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Scheißmarokkaner mit dem Messer.

Leon de Winter spielt auf virtuose, äußerst humorvolle und deutlich erkennbar gut aufgelegte Art und Weise mit dem Genre des Thrillers. Dabei überrascht er besonders mit seiner neu gewonnenen empathischen Menschenfreundlichkeit und sarkastischen Selbstreflexion, die am Beispiel der meisten seiner zahlreichen, höchst unterschiedlichen Protagonisten gemeinsam zu ebenso fesselnden wie treffenden Charakterzeichnungen führen. Was aber fast ebenso wichtig erscheint: gleichsam geschützt durch die genretypischen Mechanismen kann der Autor ungestört seine berühmt-berüchtigten rechtslastigen Theorien vorm Leser ausbreiten, ohne dass sich dieser davon gestört fühlen muss, kann er sie doch als spannenden Hintergrund und Mittel zum Zweck seiner Unterhaltung abtun, wie man auch die gefährliche Weltsicht eines allerdings in der Tat eindimensionalen Tom Clancy einfach ignoriert.

Leon de Winter


Die größte, möglicherweise sogar beabsichtigte Irritation bei der Lektüre von Leon de Winters neuem Roman ergibt sich jedoch aus dem Missverhältnis zwischen der Charakterisierung der Mitglieder unserer westlichen Gesellschaft auf der einen Seite sowie der islamistischen Täter auf der anderen Seite. Während de Winter die Protagonisten aus unserem Kulturkreis treffend als widersprüchliche, jedoch aufgeklärte Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen beschreibt, bleiben die größtenteils ebenfalls in unserer Kultur aufgewachsenen islamischen Migrantenkinder seltsam blutleer und in ihren Motiven für den Leser kaum verständlich.

Das gilt vor allem für die eifrig-disziplinierten Fußballer des Amsterdamer Vorstadtklubs, die teilweise vor vielversprechenden Profikarrieren stehen und dennoch ihr Leben aufs Spiel setzen, aber auch für den verurteilten van-Gogh-Attentäter Mohammed Boujeri, in dessen Kopf sich de Winter gleich mehrfach dokumentarisch einzunisten versucht: zwar bedient er sich dazu verbürgt-authentischer Formulierungen aus dessen wahnsinnigem Bekennerschreiben, vermag uns dabei tatsächlich auch immer wieder intellektuell zu packen, bleibt aber dennoch im Ergebnis wenig überzeugend. Hier wäre ein wissenschaftlich fundiertes Psychogramm nicht nur hilfreicher, sondern vermutlich auch die einzig zulässige Herangehensweise gewesen.

Allahu akbar. Darum geht es. Darum kreist das Universum. Alles. Das Leben. der Tod. Alles ist dem unterworfen. Allahu akbar.“
Kichie dachte: Er ist verrückt. Boujeri kann nicht leben. Er weiß nicht, wie man lebt. Er weiß nicht, wie man mit Glück und Unglück umgeht. Er weiß nicht, wie man sich zu entscheiden und die Frückte zu ernten und sein Wort einzulösen hat. Er hat ein Buch. Das Buch trifft die Entscheidungen für ihn und hat ihn zu dem Mord an diesem komischen van Gogh angetrieben.

Am Ende überwiegt jedoch der glänzende Eindruck eines überdurchschnittlich spannenden, in hohem Maße ungewöhnlichen, geistreichen und unkonventionellen Thrillers, eines mutigen Gedankenspiels um die aktuellen Herausforderungen unserer westlichen Demokratien – und des möglicherweise ersten überzeugenden Esoterik-Thrillers der Literaturgeschichte. Ist es zuviel gesagt, der ehrgeizige Autor habe hier, indem er von seinen höheren literarischen Ansprüchen einen Schritt zurück tritt, zu seiner eigentlichen schriftstellerischen Bestimmung gefunden? Die Art jedenfalls, wie er seinen einstigen Feind Theo van Gogh, auf dessen Tod er dereinst „ein gutes Glas Wein“ zu trinken versprach, am Ende seines Romans in einer bewegenden, geradezu poetischen Szene literarisch zu umarmen vermag, ist eine große, kaum zu ermessende persönliche Leistung, für die man ihm gar nicht genug Lob ausprechen kann.

„Ein gutes Herz“, aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers, erschienen bei Diogenes, 505 Seiten, € 22,90

Mittwoch, 11. September 2013

„Heute bin ich“ von Mies van Hout

Es ist in unserer stets um Selbstkontrolle ringenden Gesellschaft für den Einzelnen bei weitem keine Selbstverständlichkeit, sich der gesamten Bandbreite seiner möglichen Emotionen und Affekte nicht nur vollauf bewusst zu sein, sondern diese – sofern sie keinem anderen Menschen zu schaden vermögen – ganz unbefangen auch offen auszuleben: unserer ureigenen individuellen Menschlichkeit können wir auf diese Weise, ohne eine hinderliche Ahnung von Peinlichkeit oder Schuldgefühlen, nur umso deutlicher Ausdruck verleihen.

So ist es kein Zufall, dass ausgerechnet ein Kinderbuch – denn Kinder wollen wir doch umso mehr vor den eigenen Fehlern bewahren –, welches im Übrigen völlig zu Recht mit einem prominenten Eintrag auf der Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2013 in der Kategorie „Sachbuch“ geadelt wurde, den bewundernswerten, hochauf gelungenen Versuch unternimmt, diese einfache Binsenweisheit, nämlich dass es „okay ist, sich so oder so zu fühlen“, mit äußerst verfeinerten, aber absolut kindgerechten künstlerischen Mitteln genau so umzusetzen, dass man als naiver Betrachter intuitiv die tiefe, fundamentale Schönheit in den einzelnen darin porträtierten Emotionen zu entdecken vermag.



Die niederländische Künstlerin Mies van Hout hat in ihrem bereits im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung erschienenen wunderbar verspielten Bilderbuch „Heute bin ich“ mit auf schwarzem (Meeres-)Grund besonders verheißungsvoll leuchtenden bunten Pastellkreiden die gemeinhin eher als beispiellos unterkühlt-emotionslos verrufene Spezies der Fische in Szene gesetzt, die bei ihr in zwanzig verschiedenen „Stimmungsbildern“ in allen Regenbogenfarben enigmatisch schillern und auf geradezu genial verspielte Art aufs treffendste ihre jeweilige Stimmung offenbaren dürfen.

Laut Begründung der gewohnt sachlich formulierenden Jury vermitteln van Houts Zeichnungen „viele Impulse, um mit kleineren Kindern über die dargestellten Gefühle ins Gespräch zu kommen“. Dabei ist es ein offenes, ausgesprochen leicht zu durchschauendes Geheimnis, dass insbesondere Erwachsene sehr positiv auf dieses außergewöhnliche Buch reagieren, da diese – anders als Kinder – insbesondere in ihrem beruflichen Alltag in viel stärkerem Maße dazu neigen, essentielle Gefühle wie Neugierde, Zorn oder Langeweile nicht frei zu äußern.

So scheint es in letzter Konsequenz nur überaus folgerichtig, dass der Verlag – beflügelt vom verdienten Erfolg des Buches – nun auch ein schmuckes Briefkartenset mit den zwanzig einzelnen Bildmotiven des Buches herausgebracht hat, das neben seinem offensichtlichen Nutzen als künstlerisch-schönes Gebrauchsobjekt, mit dem man seine Mitmenschen auf wunderbare Art und Weise zu trösten, ermutigen oder zu überraschen vermag, nun ohne Zweifel auch mit großem Gewinn für therapeutische Zwecken bei Kindern wie auch bei Erwachsenen eingesetzt werden kann.



Es ist eine wahre Freude, selbst noch den verwackelten Strich der Nervosität, die zerzausten Schuppen des Neids, aber auch die gespitzten Lippen der Zufriedenheit, die weit geöffneten, fokussierten Augen der Neugier und die erhabene, selbstentrückte Pose des reinen persönlichen Glücks zu betrachten. Ein Porträt jedoch unterscheidet sich von allen anderen: hier dominiert der undurchdringlich-schwarze Untergrund des unbekannten Meeres, in das ein kleiner, besonders unauffällig aussehender Fisch mit sehniger, deutlicher Körperspannung unbeirrt und MUTIG hineinschwimmt. Eine solche nachhaltige Ermutigung, uns der gesamten Bandbreite unserer Gefühle immer wieder aufs Neue zu stellen, ist Mies van Hout mit ihrem einzigartiges Bilderbuch auf kongeniale Weise gelungen.

„Heute bin ich“, erschienen bei Aracari, 42 Seiten, € 13,90
Kunstkartenset „Heute bin ich“, 20 Bildkarten mit Umschlägen, erschienen bei Aracari, € 18,-

Dienstag, 10. September 2013

Offener Brief von Rafik Schami

In einem soeben veröffentlichten offenen Brief hat Rafik Schami deutliche Worte zur Lage in Syrien sowie zur Rolle der westlichen Demokratien gefunden:

Es ist mir ein Bedürfnis und es ist meine Pflicht gegenüber meinen Leserinnen und Lesern mein Verstummen zu erklären. Ich lehne jedes Gespräch mit der Presse über Syrien ab, denn das ist meine einzige Möglichkeit mit Trauer und Enttäuschung umzugehen. Es ist mein Recht aus Protest gegen den Journalismus in diesem Land, mich nicht an diesem Verdummungsspiel zu beteiligen.

Nicht erst seit dem Tag, an dem Präsident Obama beschlossen hat, das Assadregime anzugreifen, regnete es Einladungen zu Talkshows, Interviews, Podiumsdiskussionen und Vorträgen. 

Ein kleines, lebendiges hochkultiviertes Volk wird seit zweieinhalb Jahren vor den Augen der Welt bekriegt und vernichtet. Hilfe zu erwarten von unseren europäischen Nachbarn wäre utopisch, Neutralität wäre realistisch, aber die westlichen Regierungen beteiligen sich alle bis heute an diesem Verbrechen. Deren marktgenormten Herrschern sind Waffenexporte wichtiger als das Leben Unschuldiger. Ist das Moral? Nein, es handelt sich hier um den Verrat an Freiheit und Demokratie. Es ist die Entwürdigung der Menschen in der westlichen Welt, die gezwungen werden ungerührt zuzusehen, wie friedliche Menschen umgebracht werden. Ein jüdischer Intellektueller hat den Vergleich dieser Stupidität mit der Gleichgültigkeit gegenüber der Ermordung von sechs Millionen Juden mitten in Europa angestellt.

Das syrische Volk wollte nur frei atmen, nur ohne Angst leben. Vierzig Jahre hat der Assadclan das Land geknechtet und ausgeraubt. Der Westen schaute nicht nur zu, sondern half mit technischen und militärischen Mitteln, damit das Regime so blieb wie es war. Giftgas, Internettechnik, Horchgeräte, Raketen und modernste Waffen wären ohne Russland, China und den Westen niemals in die Hände des Regimes gekommen.

Seit dem ersten Schuss auf Demonstranten sind zweieinhalb Jahr vergangen. Inzwischen ist die Revolution in einen Bürgerkrieg übergegangen. Revolutionen kommen plötzlich zur Welt aber sie sterben langsam. Erst rebellierten die Menschen sechs Monate lang friedlich, dann spalteten sich Soldaten von der syrischen Armee ab und beschützten die Demonstranten, dann strömten verschiedene Gruppen von Islamisten hinzu, um den Gunst des Augenblicks auszunutzen, die größte Gruppe hat das Regime selbst dazu beigesteuert. Gefangene Islamisten wurden freigelassen und über den Geheimdienst bewaffnet, damit sie zu Verwirrung, Spaltung und zu Chaos führen. Im Chaos ist die Diktatur die bestorganisierte Kraft. 

Der Westen, und nicht nur Deutschland, unterhielt bis zum letzten Tag beste Beziehungen zum Regime. Obama, Merkel, Hollande sind keinen Deut besser als Putin. Öffentlich haben sie ihre Litanei bis zum Erbrechen wiederholt „Assad solle doch bitte abtreten“ und hofierten ihn durch die Hintertür mit Waffen und Elektronik. Sie sprachen von der „roten Linie“, die jetzt übertreten sei und übersahen das rote Blut von über 100.000 unschuldigen Menschen, die schon zuvor vom Regime ermordet wurden, sie sprachen von Freiheit und fragten nicht einmal nach dem Schicksal der über 250.000 Gefangenen. 

Und bis zum letzten Augenblick, bis zum Einsatz des Giftgases gewährten sie dem Regime Zugang zu ihren Waffen und Informationen, teils heimlich, teils offen, wie der Besuch des deutschen Geheimdienstchefs Schindler zeigte, der den mörderischen syrischen Geheimdienst aufwertet als „Partner im Kampf gegen den Terrorismus“, als ob es einen größeren Terror gibt als die eigene Städte mit Scud-Raketen zu beschießen, Frauen zu vergewaltigen und Kinder zu ermorden. Nicht einen einzigen Tag hätten Russland und der Iran dem Regime beistehen können, wenn der Westen es entschieden nicht gewollt hätte.

© Root Leeb 


Das verlogene Argument war, man wolle den Revolutionären nicht helfen, nicht einmal mit Lebensmitteln und Medikamenten, damit die Islamisten nicht noch stärker würden. Ja die Amerikaner erpressten sogar alle Länder der Gegend, damit diese jedwede Hilfe stoppten. Dieselbe westliche Welt arbeitet jedoch mit dem schlimmsten Islamisten in Saudi-Arabien Hand in Hand. Dabei wurden diese Fundamentalisten von den engsten Verbündeten des Westens, nämlich Katar und Saudi-Arabien mit reichlichen Waffen, Lebensmitteln und Dollars beschenkt. 

Und wo waren die Journalisten? Wie haben die Medien ihre Aufgabe und Pflicht wahrgenommen, die Menschen in diesem Land aufzuklären? 

Die Presse sollte nach dem Verständnis von Freiheit und Demokratie die vierte Macht im Staat sein. Sie soll in deren Sinne kontrollieren und aufklären. Unser Journalismus wirft ein schlechtes Licht auf unseren Staat. Er ist, abgesehen von einzelnen tapferen Journalistinnen und Journalisten, die viel zu wenig beachtet werden, zu einem Schatten der Macht geworden. Nicht nur bei der Aufklärung der Umstände des NSU- und NSA-Verbrechen ist er gescheitert, sondern das große Scheitern heißt Syrien.

Nun, seitdem Obama öffentlich erklärt hat, er wolle Assad angreifen, regnete es hier an Anfragen. Und alle sind inzwischen überzeugt, dass es Zeit wäre Assad zu stürzen. 

Ich war, bin und werde immer gegen jeden Militärschlag von außen sein. Ich nehme es aber keinem Syrer übel und verstehe gut, wenn viele leidende Syrer dafür sind. Ich bin dagegen, weil damit die Revolution zu Grabe getragen wird. Syrien sollte nach dem amerikanischen Plan ein zweites Afghanistan werden, diesmal sollten die Iraner und ihr Handlanger Hisbollah auf syrischem Boden geschwächt werden. 

Assad wird stürzen, aber ersetzt werden durch einen Militärrat, der vom CIA und anderen westlichen Geheimdiensten installiert wird und der dafür sorgt, dass Syrien ein zweiter Irak wird. 

Mein Protest gegen diese Verdummung wird hoffentlich eine Diskussion anstoßen über die schlechte Rolle, die der Journalismus hier spielt. Wir haben wirklich einen besseren verdient. „Wie können wir Euch helfen?“ fragte ein Europäer einen Syrer, „Indem ihr bei euch das macht, was wir hier machen, für Freiheit und Demokratie stehen.“

Freitag, 6. September 2013

"Befreiung kommt nie von außen" - Das Syrien Rafik Schamis


In seinem erstmals im Jahr 1987 veröffentlichten Buch „Märchen aus Malula“ schildert der in nahezu allen Altersgruppen gleichermaßen beliebte syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami eine fiktive Belagerungssituation aus der wehrhaften zweitausendjährigen Geschichte seines überwiegend von Christen bewohnten Heimatdorfes, das in einem schroffen abgelegenen Bergtal nordöstlich von Damaskus auf 1500 m Höhe liegt und eine der letzten verbliebenen Sprachinseln des biblischen Aramäisch darstellt:

Über achthundert Männer zogen einen festen Ring um das Dorf. Sie konnten von Norden anrücken und die Felsen besetzen, doch die Malulianer kämpften mutig. Mehrere [Angreifer] fielen gleich am ersten Tag. Die Botschaft des Anführers verwirrte das Dorf: „Wir wollen euch nur befreien, doch wenn ihr nicht wollt, so müssen wir euch umbringen.“ Einige wollten aufgeben, doch ein junger Mann rief: „Eine Befreiung kommt nie von außen!“

Diese auf den ersten Blick eher satirisch anmutende Anekdote besitzt in ihrer reinen philosophischen Essenz ohne Zweifel geradezu talmudische Dimensionen; gleichzeitig drückt sie auf höchst scharfsinnige Art und Weise auch genau jene zahlreichen Widersprüche aus, die den unbefangenen Beobachter angesichts des seit mittlerweile zwei Jahren von allen Parteien gleichermaßen unbarmherzig geführten syrischen Bürgerkriegs und besonders vor dem nun offenbar kurz bevorstehenden „zeitlich begrenzten Militärschlag“ der USA am meisten bewegen.



Rafik Schami hat es mit seinen zahlreichen Büchern geschafft, dem Leser eine Art „ideales Damaskus“ in die Herzen einzupflanzen, indem er das Syrien seiner Kinder- und Jugendzeit zum literarischen Schauplatz unvergänglicher Werte des Humanismus macht. Unwillkürlich kommen einem die unvergesslichen Helden seiner Bücher in den Sinn, der begnadete Märchenerzähler Salim etwa oder der Überlebenskünstler Milad, und man fragt sich, wie sie – denen man es am meisten zutraut – wohl die Herausforderungen eines Lebens unter den Unwägbarkeiten eines brutalen Bürgerkriegs bestehen würden?


In Syrien sind derzeit über vier Millionen Menschen auf der Flucht, die Anzahl der bisherigen Todesopfer beträgt nach UN-Angaben mindestens 100.000, und mehr als zwei Millionen syrische Flüchtlinge stellen die unmittelbaren Nachbarländer vor kaum zu bewältigende Herausforderungen. Hat der Einzelne in diesem Konflikt überhaupt noch die Möglichkeit, individuelle eigenständige Entscheidungen zu treffen? Darf dieser blutige Bürgerkrieg überhaupt ohne Abstriche als Freiheitskampf einer unterdrückten Bevölkerungsmehrheit verstanden werden?

In Interviews bezieht Rafik Schami ungewohnt scharf Stellung gegenüber der Indifferenz des Westens, scheinheiligen „Prominenz-Journalisten“ wie Jürgen Todenhöfer oder Peter Scholl-Latour und der Machtlosigkeit der arabischen Welt. Seine konkreten politischen Hoffnungen bleiben dabei auf eher bescheidene, realistischerweise zu erreichende Ziele wie Linderung der Not der Flüchtlinge sowie eine nachhaltige Befriedung und allmähliche Demokratisierung des Landes beschränkt. Damit ist er ganz nahe bei seinen Protagonisten – auch den zukünftigen: „Eine Befreiung kommt nie von außen!“