Es ist wohl das
zweifelhafte Verdienst des amtierenden russischen Präsidenten, eine
längst überwunden geglaubte Politikkultur wiederbelebt und zur
Nachahmung vorgelebt zu haben, die nicht auf gleichberechtigtem
Dialog und ehrlicher Übereinkunft beruht, sondern allein auf
Vortäuschung derselben mit dem durchschaubaren, aber niemals offen
artikulierten Motiv der Zementierung eigener subjektiver politischer
Zielsetzungen. Der politische Gegner mit seinen antagonistischen
Zielen dient dabei nicht als Gradmesser für den eigenen
Realitätsbezug oder die eigene Kompromiss- und Geschäftsfähigkeit,
sondern als ultimative Bestätigung der Unvereinbarkeit eigener
Positionen mit jedweden differierenden äußeren Einflüssen. Diese
Art der Politik ist die gelebte Selbstisolation aus eigenem Antrieb,
die unlauterer Weise jedoch zur gleichen Zeit frech behauptet,
lediglich eine notwendige Reaktion auf die als extrem gebrandmarkten
Ziele des politischen Gegners zu sein. Auf diese Weise wird der
politische Gegner nicht nur öffentlich zum Feindbild erklärt,
sondern dient gleichzeitig als allgemeine unmittelbare Rechtfertigung
für das eigene Beharren auf extremen Positionen bzw. deren
Implementierung gegenüber dem politischen Gegner.
Sir Wilfrid an the Extremists/Historische Karikatur, 1911 |
Zwei aktuelle Beispiele
für diese Art der Politikführung sind das Verhältnis des
Präsidenten der Türkei zur EU sowie die Einstellung der AfD zum
Zentralrat der Muslime in Deutschland. Der türkische Präsident hat
seit Beginn seiner politischen Karriere und schon während seines
ersten bedeutenden Amtes als Bürgermeister von Istanbul nie ein
Geheimnis daraus gemacht, dass er die Türkei (anders als viele
maßgebliche türkische Politiker sowie ein nicht geringer Teil der
Bevölkerung seines Landes) weder kulturell noch politisch als Teil
von Europa begreift. Für ihn ist Europa ein dankbares Mittel zur
Profilierung seiner Person sowie der Türkei als bedeutende regionale
politische Macht. Dass sein Bestreben, in der Türkei ein auf seine
Person zugeschnittenes Päsidialsystem zu schaffen, ihn und sein Land
lang- und mittelfristig von Europa isolieren muss, ist dabei sein
grundlegendes Kalkül: Europa wird den umstrittenen Flüchtlingsdeal
ebenso aufkündigen müssen wie alle anderen Assoziierungsabkommen.
Wenn Europa diesen Schritt aus diplomatischen Erwägungen nicht wagt,
wird der Präsident ihn selber beschreiten. Dabei befindet er sich in
der komfortablen Situation, in jedem Fall behaupten zu können, es
läge am elitären Dünkel Europas, welches die Türkei nicht als
gleichberechtigten Partner akzeptiere. Hier hat Europa möglicherweise
eine kapitale Chance vertan, als die geeigneten Ansprechpartner auf
türkischer Seite noch existierten.
Exakt dieselbe Strategie
verfolgt die AfD – nicht nur im Verhältnis zum Zentralrat der
Muslime in Deutschland, mit dem ein „Gesprächsversuch“ gestern
erwartungsgemäß medienwirksam scheiterte. Die absurde Behauptung
der AfD, mit Vertretern einer Religionsgemeinschaft, die sie selbst
mit all ihren spezifischen Äußerungsformen per se ablehnt, zu einer
gleichberechtigten Gesprächsgrundlage finden zu wollen, entsprach
von Anfang an ihrem negativen politischen Kalkül der umfassenden
kulturellen und politischen Selbstabgrenzung. Der Zentralrat hingegen
nutzte die willkommene Gelegenheit ebenso medienwirksam, die AfD
nicht zu Unrecht in die geistige Nähe der Nationalsozialisten und
ihrer Politik der Ausgrenzung zu setzen. Mit diesem Vergleich
wiederum fühlte sich die AfD nicht wohl und beklagte sich wenig
überzeugend, dass der Gegner ihr „auf demokratischem Wege
entstandenes“ Wahlprogramm ablehne, ohne gleichzeitig die
entscheidende Frage zu beantworten, was an einem undemokratischen
Programm einer der Verfassung grundsätzlich ablehnend gegenüber
stehenden Partei demokratisch sein soll. Das Wahlprogramm der AfD
besteht fast ausschließlich aus einer bösartigen
Instrumentalisierung des ihrer Meinung nach Anderen im Hinblick auf
eine negative Selbstabgrenzung zur Schaffung einer zweifelhaften
„pseudodeutschen“ Identität, die realistischerweise nicht einmal
mit den verbrecherischen Methoden der Nationalsozialisten erreichbar
wäre.
Paul Manship: "Zyklus des Lebens"/Foto: Elizabeth Thomsen |
Abgesehen davon, dass sich
eine kollektive Selbstisolation meist als wesentlich verhängnisvoller
erweist als eine rein private, ist vor allem eine Frage interessant:
was führt einflussreiche politische Führer ebenso wie ganz normale,
sich in ihrem Selbstbild ohnmächtig fühlende Durchschnittsbürger
gleichermaßen dazu, ihr vermeintliches Heil ausgerechnet in der
selbstgewählten Isolation zu suchen? Es ist zweifellos für jeden
Menschen wichtig, seine eigenen Grenzen selbst zu bestimmen und im
Alltag nicht kontinuierlich zum Überschreiten dieser Grenzen
gezwungen zu sein. Er muss sich aber auch bewusst sein, dass er umso
weniger fähig ist, in einer ihrem Charakter nach unvorhersehbaren
oder gar chaotischen Realität zu leben, je enger er seine
persönlichen Grenzen definiert. In der aktuellen Entwicklung
scheinen nicht nur auf der abstrakten politischen sondern auch auf
der unmittelbaren konkreten persönlichen Ebene für viele Menschen
Rückzug und Isolation probate Auswege aus ihrem generellen
kulturellen Unbehagen zu sein, obwohl ihnen bewusst sein muss, dass
diese als typischer Merkmale der Regression letztlich zu nichts
anderem als zu persönlicher und gesellschaftlicher Stagnation führen
können. Die ursprüngliche kindliche Weltsicht äußert sich in
einem vorurteilslosen, von Neugier getriebenen Streben nach Einheit
mit allen Erscheinungsformen des Lebens, das lediglich vorübergehend
durch etwaige entwicklungsbedingte Beschränkungen des Kindes
begrenzt wird. Das oben beschriebene Phänomen der Selbstisolation
hingegen ließe sich am einfachsten als kindische Weltsicht
beschreiben, als selbstauferlegte Beschränkung aus Angst vor dem
Unbekannten, Chaotischen und Neuen und als unzulängliche Flucht in
die unerreichbare Behaglichkeit des Vergangenen: die Verweigerung,
aktiv am Leben teilzunehmen. Was könnte es Traurigeres geben?