Jerusalem

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Sonntag, 11. September 2016

Die Burka als geistige Herausforderung

In seinem faszinierenden Bestseller „Der Tuareg“, einem der meistverkauften Romane der achtziger Jahre, beschrieb der spanische Journalist und Schriftsteller Alberto Vazquez Figueroa die fundamentale Tragik, die sich für die Lebensentwürfe des Einzelnen aus dem Zusammenprall der westlichen Weltanschauung mit traditionellen Lebensweisen zwangsläufig ergeben muss. Sein enigmatischer Protagonist, ein stolzer und mutiger Krieger aus dem rätselhaften Volk der Tuareg, das der Saharahitze jahrhundertelang erfolgreich getrotzt und unter den lebensfeindlichen Bedingungen der Wüste eine sehr charakteristische, nomadisch geprägte Lebensweise sowie vollkommen eigenständige Sitten und Moralvorstellungen entwickelt hat, wird nach dem von ihm selbst in der Weite der Wüste gänzlich unbemerkt vonstattengegangenen Rückzug der Franzosen unverhofft mit der Realität eines neugegründeten arabischen Nationalstaats konfrontiert, der wie selbstverständlich seine neugewonnene Unabhängigkeit im besten Willen auch auf die innerhalb seines Territoriums lebenden Mitglieder der Tuareg-Stämme ausdehnen will, um ihnen, wie er meint, die Segnungen des Fortschritts zu bringen.

Tuareg in Libyen/Foto: David Stanley

Der stolze Titelheld, ein zeitgemäßes Idealbild des „edlen Wilden“, wie ihn Autoren des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts immer wieder mehr oder weniger geglückt beschrieben haben, zeigt jedoch an der von den neuen Herrschern propagierten Ordnung keinerlei Interesse und möchte um jeden Preis an der von seinen Vorfahren überlieferten, den Lebensbedingungen in der Sahara perfekt angepassten Lebensweise und seiner umfassenden persönlichen und geistigen Freiheit, festhalten. Zu den Dingen, die seiner Kultur absolut heilig sind, gehört die bedingungslose Gastfreundschaft gegenüber Fremden, und so gewährt er eines Tages zwei abgekämpften, dem Verdursten nahen Reisenden Unterschlupf in seinem Zelt. Am nächsten Tag steht eine Militärkolonne vor seinem Lager und fordert die Auslieferung seiner beiden Gäste, zweier geflohener Gefangener, die sich als der vor kurzem mit Hilfe eines Militärputschs gestürzte, ehemalige Staatspräsident und einer seiner Vertrauten herausstellen.

Wie kannst du dein ganzes Leben davon abhängig machen, was dir andere befehlen?“, fragte er. „Wie kannst du dich als ein freier Mann fühlen, wenn du dich einem fremden Willen unterwirfst? Wenn sie zu dir sagen: 'Verfolge einen Unschuldigen!', dann verfolgst du ihn. Und wenn sie dir befehlen: 'Lass diesen Hauptmann in Ruhe, auch wenn er ein Mörder ist!', dann lässt du ihn in Ruhe. Ich verstehe dich nicht!“
Das Leben ist nicht so einfach, wie es hier in der Wüste aussieht.“
Warum bleibt ihr denn nicht weg mit eurer Lebensart? Hier wissen wir immer, was gut, schlecht, gerecht oder ungerecht ist“, sagte Gacel.

Als der Tuareg sich gemäß seiner Stammesethik weigert, seine beiden Gäste auszuliefern, werden diese auf Befehl des kommandierenden Offiziers kurzerhand mit Gewalt aus den Zelten gezerrt. Einer von ihnen, der jüngere, wird auf der Stelle erschossen, während man den ehemaligen Präsidenten erneut gefangen nimmt und in der Kolonne abtransportiert. Alberto Vazquez Figueroas Buch beschreibt die abenteuerliche Rache des Tuareg-Kriegers, die die willentliche, brutale Missachtung der Tuareg-Moralvorstellungen durch die neuen Herrscher unaufhaltsam heraufbeschworen hat und die mit Blutrache nur unzureichend beschrieben wäre. Nach einem nervenzehrenden Versteckspiel im unwirtlichen Territorium des Jägers, in dem der Tuareg seine schwer bewaffneten und motorisierten Feinde ein ums andere Mal düpiert, muss sich dieser zum Showdown schließlich in die Landeshauptstadt wagen. Zu seiner vertrauten Ethik gehört es, niemals seinen Gesichtsschleier abzulegen, denn sein Stolz verbietet es ihm, Fremden sein Gesicht zu zeigen.


Tuareg in Algerien/Foto: Akly

Im städtischen Umfeld erkennt er jedoch schnell, dass er hier auf seinen gewohnten Gesichtsschleier verzichten muss, um in der Menge nicht aufzufallen – nicht zuletzt ist sein Schleier das einzige Charakteristikum, das den nach ihm fahndenden Behörden bislang bekannt ist. Ohne seinen Schleier fühlt er sich jedoch vollkommen entblößt und angreifbar, und auch seine vertraute, traditionelle Ethik hilft ihm hier nicht weiter. Nachdem eine Polizeistreife ihn angeschossen hat, braucht er Wochen, um wieder zu Kräften zu kommen. Er ist bereits nahe daran aufzugeben und in seine Heimat zurückzukehren, da bietet sich ihm eine unverhoffte, von ihm als schicksalhaft erkannte Chance, seine als notwendig empfundene Vergeltung doch noch umsetzen. Sein tragisches, fundamentales Scheitern ist jedoch so umfassend und endgültig, dass es schließlich nur noch Verlierer gibt, nicht nur in individueller, sondern auch in kollektiver Hinsicht, denn beide Kulturen stehen am Ende ärmer da, weil sie nicht bereit waren, einander zu verstehen zu lernen.

Manchmal frage ich mich, wie wir zusammen in demselben Land leben können, wo uns doch so wenig verbindet.“ Als er fortfuhr klang es, als redete er mit sich selbst: „Das ist wohl ein Teil der Erbschaft, die uns die Franzosen hinterlassen haben. Sie haben willkürlich bestimmt, dass wir ein einziges Volk zu sein hätten. Jetzt, zwanzig Jahre danach, sitzen wir da und versuchen vergeblich, uns gegenseitig zu verstehen.“
Das wissen wir schon lange“, meinte Hassan-ben-Koufra mit müder Stimme. „Wir alle wissen seit langem Bescheid, aber niemand von uns kam auf den Gedanken, auf etwas zu verzichten, das uns nicht zustand. Niemand gab sich mit einem kleineren, stabileren Land zufrieden...“ Er öffnete und schloss mehrmals beide Hände, verzog dabei vor Schmerz das Gesicht. „Der Ehrgeiz machte uns blind. Wir wollten immer mehr Land, obwohl wir wussten, dass wir es nicht regieren konnten. So erklärt sich unsere Politik: Da wir es nicht schafften, die Beduinen zur Anpassung an unsere Lebensweise zu zwingen, mussten wir sie vernichten. Aber was hätten wir getan, wenn die Franzosen wenige Jahre zuvor angefangen hätten, uns auszurotten, weil wir uns weigerten, ihre Lebensform zu übernehmen?“

Die sogenannte Burka-Debatte, ein klassisches Scheingefecht populistischer kultureller Hegemonie, ist ein so dankbares Thema für unsere Gesellschaft in ihrem aktuellen Stadium, zu dem offenbar jeder etwas beizutragen weiß, ob AfDler, Feministin oder „normaler“ Bürger, weil sie unser Selbstverständnis anzugreifen scheint, dass nur ein Mensch, der möglichst alles von sich zeigt, ein vollständiger, „guter“ Mensch sein kann. In unserer blinden Wut, sogar mittels Tattoos oder Piercings selbst jenes als Schrammen unserer Seelen für jedermann sichtbar nach außen zu kehren, was die natürliche Oberfläche normalerweise verbirgt, scheint es vollkommen undenkbar, dass es Menschen geben könnte, die aus freiem Willen in der Öffentlichkeit eine Vollverschleierung anzulegen bereit sind und sich auch sonst lieber ins Private zurückziehen, aus welchen Gründen auch immer. Plötzlich gibt es Menschen in unserer Mitte, die dadurch auffallen, dass sie nicht „alles“ zeigen, sondern es vor unseren gelangweilten Blicken verbergen. Dies wird offensichtlich unbewusst als Vorwurf empfunden. Könnte es gar bedeuten, dass wir nicht alle gleich sind? Wollen sich die Burkaträgerinnen von „uns anderen“ abheben, möglicherweise sogar bewusst?

Orthodoxe Juden in Wien, 1915/Foto: Wikimedia

Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts gab es kaum etwas Schlimmeres für den aufgeklärten Westeuropäer, als die osteuropäischen Chassidim mit ihren schwarzen Gewändern, merkwürdigen Pelzhüten und langen Bärten, die ein ärmliches, rückständig scheinendes, vermeintlich arbeitsscheues Leben in den Vorstädten führten. Diese wurden zum großen Teil selbst von den gut integrierten Juden als weltanschauliche Bedrohung empfunden, denn sie sahen nicht nur „anders“ aus, sondern waren auch in ihren Verhaltensweisen und ethischen Überzeugungen „anders“. Sie lehnten die weltlichen Anschauungen ihrer Aufenthaltsländer ab, sondern wollten lediglich von den stabilen politischen Verhältnissen profitieren, hier in Frieden und ohne Verfolgung leben zu können. Ein halbes Jahrhundert später, war diese Kultur von den Nationalsozialisten und ihren Helfern europaweit nahezu vollkommen vernichtet worden. Die rein gefühlsmäßige Ablehnung der Burka als Ausdruck der Angst vor dem Fremden ist mit der historischen Ablehnung der „Ostjuden“ durchaus vergleichbar.

Ich bin ein Targi, kein Dummkopf! Der Unterschied zwischen uns und euch besteht darin, dass wir Tuareg eure Welt zwar aus der Nähe betrachten, uns aber von ihr abwenden, sobald wir sie verstanden haben. Ihr hingegen nähert euch unserer Welt nicht und versteht sie darum auch nicht. Aus diesem Grund werden wir euch immer überlegen sein!

Im Bestreben, ein rationales Ventil für die instinktive Ablehnung der Burka zu finden, wird naturgemäß philosophisch tief geschürft, denn eine rein affektive Ablehnung wäre laut unserer Weltanschauung inakzeptabel. Die Burka wird hierzulande vorwiegend als Instrument männlicher Unterdrückung interpretiert, was sie in vielen Fällen zweifellos auch ist. Sie wird als Symbol des politischen Islam, gar als islamistische Provokation gedeutet. Das mag sie in manchen Fällen auch sein, aber das heißt nicht, dass sie „weg“ muss. Es passt nicht zu einer pluralistischen Gesellschaft, etwas abzulehnen oder gar zur verbieten, nur weil es „anders aussieht“ als „wir“. Die Herausforderung, der wir uns stellen müssen, ist den Anblick einer vollverschleierten Frau in der Öffentlichkeit nicht nur zuzulassen, sondern auch verstehen zu wollen, warum sie das tut. Einer Gesellschaft, die gelernt hat, öffentlich zur Schau gestellten Ganzkörpertattoos gegenüber indifferent zu sein, sollte das nicht schwerfallen. Wer die Burka verbieten will, weil darunter Bomben versteckt werden könnten, sollte auch Kinderwagen und Daunenjacken verbieten – ein sachliches Argument dafür wird sich sicher finden lassen. Sicher ist sicher.