Für seine unnachahmliche,
dunkel-makabre Erbschleicher-Hymne „Tante Marie“ (1984) erfand
der österreichische Sänger und Schauspieler Ludwig Hirsch, der sich
im Herbst 2011 durch einen Sprung aus einem Fenster des Wiener
Wilhelminenspitals das Leben nahm, wo er aufgrund einer frisch
diagnostizierten Krebserkrankung in Behandlung war, ein kleines, auf
hinterhältige Art und Weise simples Klaviermotiv, dessen
ungewöhnliche Eigenschaft es war, dass es den nichts ahnenden
fiktiven Hörer innerhalb kurzer Zeit und ohne sichtbare Spuren
zuverlässig zu töten vermochte. Um in den Besitz des
prächtigen Konzertflügels seiner Tante zu gelangen, spielt der im
Text auftretende Virtuose der armen alten Dame diese teuflische
kleine Melodie so oft vor, bis die Unglückliche schließlich
erwartungsgemäß daran verscheidet. Am Ende des Liedes – und das
ist die letzte, unerwartete Pointe – bricht der Instrumentalist
indes voll Tatendrang zu einer weiteren betagten Verwandten auf: denn
die besitzt eine schöne Orgel. Und so erklingt zum Schluss das
Klaviermotiv noch einmal, diesmal als prächtiger Orgelchoral...
Es ist im Grunde nicht
weiter von Belang, ob der in Berlin lebende Schriftsteller Edgar Rai,
der bislang vor allem als Autor von Liebes- und Familienromanen der
eher anspruchsvolleren Art hervorgetreten ist sowie (unter Pseudonym)
für die sogenannten „Erdmännchen-Krimis“ verantwortlich
zeichnet, das erwähnte Lied kennt: sein neuer, ausgesprochen
spannend zu lesender Roman mit dem klangvollen Titel „Die
Gottespartitur“ bedient sich allerdings eines frappierend ähnlichen
Motivs als Grundthema einer atemlosen literarischen Jagd nach der
Wahrheit, die stellenweise Dan Brown zur Ehre gereichen würde: Es
soll, so geht die Kunde im Buch, im Zeitalter der Frühklassik ein
geheimnisvolles Notenblatt mit einem anspruchsvoll-virtuosen Stück
für Solo-Orgel gegeben haben, dessen musikalischer Inhalt als
unwiderlegbarer Gottesbeweis fungiert habe – leider jedoch mit dem
unangenehmen Nebeneffekt, dass jeder, der diese göttliche Musik
gehört habe, augenblicklich habe sterben müssen; und so scheint
sich eine historische Spur geheimnisvoller Tode unter seinerzeit
berühmten Orgelvirtuosen durch ganz Europa zu ziehen, bis die
Existenz der Partitur plötzlich nicht mehr nachweisbar ist.
„Grundsätzlich“,
beginnt er [ein anerkannter Neurologe und Hirnforscher] seine
Ausführung, „scheint es so zu sein, dass Musik und Musikalität in
jedem von uns angelegt sind. Entwicklungsgeschichtlich war die Musik
dem Menschen wahrscheinlich noch vor der Sprache eigen. Zugleich ist
der Hörsinn der letzte, der uns flöten geht – entschuldigen Sie
die musikalische Anspielung –, wenn ein Mensch stirbt. Und dass
bislang keine eindeutig identifizierbare Todesmusik gefunden wurde,
bedeutet – zumindest theoretisch betrachtet – nicht, dass es
keine geben kann...“
Vor dem Hintergrund dieses
in der Tat faszinierenden Motivs ließen sich ohne Zweifel mühelos
die unterschiedlichsten Bücher nahezu jeder Art und jeglichen Genres
gestalten: eine Melodie, die tötet – das lässt unwillkürlich
auch an den japanischen Horrorfilm „The Ring“ denken, in Verlauf
dessen Handlung der surrealistisch-buñuelhafte
Inhalt einer Videocassette jeden Betrachter unaufhaltsam innerhalb
einer Woche in den Tod treibt – ja sogar Pferde haben nichts
besseres zu tun, als zwanghafterweise spontan Selbstmord zu begehen.
Edgar Rai, der an der Berliner Hochschule der Künste Kurse für
kreatives Schreiben leitete und als Mitinhaber einer Berliner
Buchhandlung sowie seit Jahren erfolgreicher Schriftsteller den
Buchmarkt genauestens kennt, ist sich dieser Tatsache in höchstem
Maße bewusst. Aus naheliegenden Gründen hat er seinen Roman sogar
innerhalb des deutschen Verlagswesens als eine Art Schlüsselroman
angelegt, in dem nicht nur nur sehr unzureichend verschleiert
zahlreiche Prominente des Buchmarkts Gehässigkeiten und
Körperflüssigkeiten austauschen, sondern sich auch wieder einmal
erweist, wie langweilig, gewöhnlich und oberflächlich (und
ungeeignet als Schauplatz eines Romans) das Literaturgeschäft leider
ist.
Sein nicht gerade
einnehmender, dandyhafter Protagonist, der zynisch-lebenssatte
Gabriel Pfeiffer, trotz seines offensichtlichen Erfolgs bei
gebildeten Frauen zu keinerlei menschlichem Mitgefühl fähig und mit
Anfang Fünfzig, nach einem glücklich überwundenen plötzlichen
Herzstillstand, in einer kapitalen psychischen Krise, ist äußerlich
immer noch der strahlend-erfolgreiche Besitzer einer der wichtigsten
literarischen Agenturen Deutschlands, obwohl er innerlich
unweigerlich auf den totalen Zusammenbruch zusteuert. Auf der gerade
stattfindenden Frankfurter Buchmesse überreicht ihm ein
schmalbrüstiger angehender Priester unter merkwürdigen Umständen
einen wirr klingenden Brief, in dem er ihn auf die historische
Todesserie berühmter Organisten und das denkwürdige Notenblatt mit
dem angeblichen Gottesbeweis aufmerksam macht – und dafür gehörig
belächelt und fachmännisch-versiert abgefertigt wird.
Sie haben miteinander
geschlafen, haben für einen zeit- und schwerelosen Moment die Welt
asugesperrt und sich in einem Zwischenreich versteckt. Hat
funktioniert, sogar für Gabriel, wenn auch nur kurz. Jetzt ist die
Leere da, tief und weit. Er liegt neben ihr, ohne Zweck und Ziel,
nimmt an ihr geht es ähnlich. [...] Welchen Sinn hat das? Nun,
sobald Gabriel darüber nachdenkt, was im Leben wirklich Sinn hat,
kommt er schnell zu der Erkenntnis, dass das, was er im Augenblick
tut, auf jeden Fall nicht dazuzählt.
Als Pfeiffer jedoch nach
Tagen anstrengender Geschäftstermine und stoisch ertragener
Repräsenationsaufgaben sowie dem traditionellen, seit fünfzehn
Jahren alljährlich pflichtgemäß zelebrierten Buchmessen-Sex mit
der Suhrkamp-Chefin zufällig auf die Todesnachricht des Seminaristen
stößt, der leblos und ohne sichtbare Fremdeinwirkung auf der
Orgelempore einer kleinen Kirche in Oberbayern aufgefunden worden
sei, erwacht in ihm ein unwiderstehlich-selbstzertörerisches Fieber,
das Geheimnis um die verschollene Partitur zu lösen, befeuert noch
von seiner durch schmerzhaft-handgreifliche Jugenderfahrungen in
einem streng-katholischen Internat ins Gegenteil verkehrten
Gottessehnsucht: wenn er diesen angeblichen musikalischen
Gottesbeweis finden sollte, ist der überzeugte lebensmüde Atheist
auf einmal nur allzu gern bereit, für diese Erfahrung zu sterben und
diktiert seinem Notar nachts um halb zwei am Telefon noch schnell
sein Testament.
Ganz blöd ist die Idee
nicht. Würde Gott auf jeden Fall ähnlich sehen. Die Bibel ist voll
von Geschichten, in denen ER den Menschen das Leben nimmt, weil sie
sein Missfallen erregt haben. Der Tod als letztes Mittel seiner Liebe
und Heiligkeit. Gabriel hat schon schlechtere Storys verkauft.
Obwohl sich der Autor im
Text vollkommen zu Recht mehrmals namentlich über Spannungsromane im
Stile Dan Browns lustig macht, offenbart er gerade in seiner
intelligenteren Version des Stoffes dennoch das grundsätzliche
Dillemma der Theorie von der technischen Machbarkeit des sogenannten
kreativen Schreibens: zwar gelingt es dem belesenen und oftmals
überaus geistreich räsonnierenden Edgar Rai die Spannung seines
Romans bis zum Schluss auf höchstem Niveau zu halten; mit der
Rettung in letzter Minute sowie der kathartischen, lange überfälligen
emotionalen Öffnung seines Protagonisten platzt jedoch die
handwerklich virtuos hergestellte Blase der Lesererwartung ähnlich
effektlos wie bei jedem anderen trivialen Spannungsroman auch: der
Autor bleibt inhaltlich zu sehr an der Oberfläche und hat natürlich
weder die dichterischen Möglichkeiten zum Versuch eines
literarischen Gottesbeweises noch eines Gegenbeweises. Mit etwas
weniger Vertrauen in die eigenen technischen Fähigkeiten und etwas
mehr Mut zur inneren Flussüberschreitung hätte „Die
Gottespartitur“ ein außergewöhnlicher Roman im Stile von „Die
neun Pforten“ („Der Club Dumas“) werden können – vielleicht
sogar mehr.
„Die Gottespartitur“,
erscheint am 10. März 2014 im Berlin Verlag, 302 Seiten, € 19,99
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.