Jerusalem

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Freitag, 21. Februar 2014

„Die Gottespartitur“ von Edgar Rai


Für seine unnachahmliche, dunkel-makabre Erbschleicher-Hymne „Tante Marie“ (1984) erfand der österreichische Sänger und Schauspieler Ludwig Hirsch, der sich im Herbst 2011 durch einen Sprung aus einem Fenster des Wiener Wilhelminenspitals das Leben nahm, wo er aufgrund einer frisch diagnostizierten Krebserkrankung in Behandlung war, ein kleines, auf hinterhältige Art und Weise simples Klaviermotiv, dessen ungewöhnliche Eigenschaft es war, dass es den nichts ahnenden fiktiven Hörer innerhalb kurzer Zeit und ohne sichtbare Spuren zuverlässig zu töten vermochte. Um in den Besitz des prächtigen Konzertflügels seiner Tante zu gelangen, spielt der im Text auftretende Virtuose der armen alten Dame diese teuflische kleine Melodie so oft vor, bis die Unglückliche schließlich erwartungsgemäß daran verscheidet. Am Ende des Liedes – und das ist die letzte, unerwartete Pointe – bricht der Instrumentalist indes voll Tatendrang zu einer weiteren betagten Verwandten auf: denn die besitzt eine schöne Orgel. Und so erklingt zum Schluss das Klaviermotiv noch einmal, diesmal als prächtiger Orgelchoral...


Es ist im Grunde nicht weiter von Belang, ob der in Berlin lebende Schriftsteller Edgar Rai, der bislang vor allem als Autor von Liebes- und Familienromanen der eher anspruchsvolleren Art hervorgetreten ist sowie (unter Pseudonym) für die sogenannten „Erdmännchen-Krimis“ verantwortlich zeichnet, das erwähnte Lied kennt: sein neuer, ausgesprochen spannend zu lesender Roman mit dem klangvollen Titel „Die Gottespartitur“ bedient sich allerdings eines frappierend ähnlichen Motivs als Grundthema einer atemlosen literarischen Jagd nach der Wahrheit, die stellenweise Dan Brown zur Ehre gereichen würde: Es soll, so geht die Kunde im Buch, im Zeitalter der Frühklassik ein geheimnisvolles Notenblatt mit einem anspruchsvoll-virtuosen Stück für Solo-Orgel gegeben haben, dessen musikalischer Inhalt als unwiderlegbarer Gottesbeweis fungiert habe – leider jedoch mit dem unangenehmen Nebeneffekt, dass jeder, der diese göttliche Musik gehört habe, augenblicklich habe sterben müssen; und so scheint sich eine historische Spur geheimnisvoller Tode unter seinerzeit berühmten Orgelvirtuosen durch ganz Europa zu ziehen, bis die Existenz der Partitur plötzlich nicht mehr nachweisbar ist.

Grundsätzlich“, beginnt er [ein anerkannter Neurologe und Hirnforscher] seine Ausführung, „scheint es so zu sein, dass Musik und Musikalität in jedem von uns angelegt sind. Entwicklungsgeschichtlich war die Musik dem Menschen wahrscheinlich noch vor der Sprache eigen. Zugleich ist der Hörsinn der letzte, der uns flöten geht – entschuldigen Sie die musikalische Anspielung –, wenn ein Mensch stirbt. Und dass bislang keine eindeutig identifizierbare Todesmusik gefunden wurde, bedeutet – zumindest theoretisch betrachtet – nicht, dass es keine geben kann...“

Vor dem Hintergrund dieses in der Tat faszinierenden Motivs ließen sich ohne Zweifel mühelos die unterschiedlichsten Bücher nahezu jeder Art und jeglichen Genres gestalten: eine Melodie, die tötet – das lässt unwillkürlich auch an den japanischen Horrorfilm „The Ring“ denken, in Verlauf dessen Handlung der surrealistisch-buñuelhafte Inhalt einer Videocassette jeden Betrachter unaufhaltsam innerhalb einer Woche in den Tod treibt – ja sogar Pferde haben nichts besseres zu tun, als zwanghafterweise spontan Selbstmord zu begehen. Edgar Rai, der an der Berliner Hochschule der Künste Kurse für kreatives Schreiben leitete und als Mitinhaber einer Berliner Buchhandlung sowie seit Jahren erfolgreicher Schriftsteller den Buchmarkt genauestens kennt, ist sich dieser Tatsache in höchstem Maße bewusst. Aus naheliegenden Gründen hat er seinen Roman sogar innerhalb des deutschen Verlagswesens als eine Art Schlüsselroman angelegt, in dem nicht nur nur sehr unzureichend verschleiert zahlreiche Prominente des Buchmarkts Gehässigkeiten und Körperflüssigkeiten austauschen, sondern sich auch wieder einmal erweist, wie langweilig, gewöhnlich und oberflächlich (und ungeeignet als Schauplatz eines Romans) das Literaturgeschäft leider ist.


Edgar Rai/Foto: Markus Schädel


Sein nicht gerade einnehmender, dandyhafter Protagonist, der zynisch-lebenssatte Gabriel Pfeiffer, trotz seines offensichtlichen Erfolgs bei gebildeten Frauen zu keinerlei menschlichem Mitgefühl fähig und mit Anfang Fünfzig, nach einem glücklich überwundenen plötzlichen Herzstillstand, in einer kapitalen psychischen Krise, ist äußerlich immer noch der strahlend-erfolgreiche Besitzer einer der wichtigsten literarischen Agenturen Deutschlands, obwohl er innerlich unweigerlich auf den totalen Zusammenbruch zusteuert. Auf der gerade stattfindenden Frankfurter Buchmesse überreicht ihm ein schmalbrüstiger angehender Priester unter merkwürdigen Umständen einen wirr klingenden Brief, in dem er ihn auf die historische Todesserie berühmter Organisten und das denkwürdige Notenblatt mit dem angeblichen Gottesbeweis aufmerksam macht – und dafür gehörig belächelt und fachmännisch-versiert abgefertigt wird.

Sie haben miteinander geschlafen, haben für einen zeit- und schwerelosen Moment die Welt asugesperrt und sich in einem Zwischenreich versteckt. Hat funktioniert, sogar für Gabriel, wenn auch nur kurz. Jetzt ist die Leere da, tief und weit. Er liegt neben ihr, ohne Zweck und Ziel, nimmt an ihr geht es ähnlich. [...] Welchen Sinn hat das? Nun, sobald Gabriel darüber nachdenkt, was im Leben wirklich Sinn hat, kommt er schnell zu der Erkenntnis, dass das, was er im Augenblick tut, auf jeden Fall nicht dazuzählt.

Als Pfeiffer jedoch nach Tagen anstrengender Geschäftstermine und stoisch ertragener Repräsenationsaufgaben sowie dem traditionellen, seit fünfzehn Jahren alljährlich pflichtgemäß zelebrierten Buchmessen-Sex mit der Suhrkamp-Chefin zufällig auf die Todesnachricht des Seminaristen stößt, der leblos und ohne sichtbare Fremdeinwirkung auf der Orgelempore einer kleinen Kirche in Oberbayern aufgefunden worden sei, erwacht in ihm ein unwiderstehlich-selbstzertörerisches Fieber, das Geheimnis um die verschollene Partitur zu lösen, befeuert noch von seiner durch schmerzhaft-handgreifliche Jugenderfahrungen in einem streng-katholischen Internat ins Gegenteil verkehrten Gottessehnsucht: wenn er diesen angeblichen musikalischen Gottesbeweis finden sollte, ist der überzeugte lebensmüde Atheist auf einmal nur allzu gern bereit, für diese Erfahrung zu sterben und diktiert seinem Notar nachts um halb zwei am Telefon noch schnell sein Testament.

Ganz blöd ist die Idee nicht. Würde Gott auf jeden Fall ähnlich sehen. Die Bibel ist voll von Geschichten, in denen ER den Menschen das Leben nimmt, weil sie sein Missfallen erregt haben. Der Tod als letztes Mittel seiner Liebe und Heiligkeit. Gabriel hat schon schlechtere Storys verkauft.

Charles Burney: ein Opfer der "Gottespartitur"?


Obwohl sich der Autor im Text vollkommen zu Recht mehrmals namentlich über Spannungsromane im Stile Dan Browns lustig macht, offenbart er gerade in seiner intelligenteren Version des Stoffes dennoch das grundsätzliche Dillemma der Theorie von der technischen Machbarkeit des sogenannten kreativen Schreibens: zwar gelingt es dem belesenen und oftmals überaus geistreich räsonnierenden Edgar Rai die Spannung seines Romans bis zum Schluss auf höchstem Niveau zu halten; mit der Rettung in letzter Minute sowie der kathartischen, lange überfälligen emotionalen Öffnung seines Protagonisten platzt jedoch die handwerklich virtuos hergestellte Blase der Lesererwartung ähnlich effektlos wie bei jedem anderen trivialen Spannungsroman auch: der Autor bleibt inhaltlich zu sehr an der Oberfläche und hat natürlich weder die dichterischen Möglichkeiten zum Versuch eines literarischen Gottesbeweises noch eines Gegenbeweises. Mit etwas weniger Vertrauen in die eigenen technischen Fähigkeiten und etwas mehr Mut zur inneren Flussüberschreitung hätte „Die Gottespartitur“ ein außergewöhnlicher Roman im Stile von „Die neun Pforten“ („Der Club Dumas“) werden können – vielleicht sogar mehr.

„Die Gottespartitur“, erscheint am 10. März 2014 im Berlin Verlag, 302 Seiten, € 19,99


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