Genau
neunzig Jahre nach der mutig-visionären Staatsgründung tut sich die
Türkei immer noch ausgesprochen schwer damit, die sich aus der
grundlegenden politischen und territorialen Struktur des Osmanischen
Reiches zwangsläufig ergebende muliethnische und multireligiöse
Zusammensetzung sowie die familiäre Verflechtung ihrer als
homogen-türkisch bezeichneten Bevölkerung offen anzuerkennen.
Immerhin
war das Kernland der modernen Türkei seit hunderten von Jahren nicht
nur die historisch gewachsene Heimat bedeutender, den Charakter des
Landes wesentlich mitprägender armenischer und griechischer
Minderheiten, sondern zu osmanischen Zeiten aufgrund der herrschenden
religiösen Toleranz auch ein wichtiges Auffangbecken für verfolgte
Juden, insbesondere für die wirtschaftlich wie kulturell
florierenden sephardischen Gemeinden, die ab 1492 vor der Spanischen
Inquisition von der iberischen Halbinsel fliehen mussten.
Darüber
hinaus bot der osmanische Staatsapparat von jeher Nichtmuslimen aus
seinem gesamten, sich während seiner Blütezeit weit bis nach
Mitteleuropa und Nordafrika hinein ausdehnenden Herrschaftsgebiet
stets bemerkenswert umfangreiche Karriere- und Aufstiegschancen. Mit
der im Gründungsjahr 1923 getroffenen und bis heute herrschenden
Definition als „türkisch“ aber konnte die Türkei den
zahlreichen multiethnischen familiären Verflechtungen ihrer Bürger
bis heute kaum jemals angemessen gerecht werden:
Derlei
Verwerfungen hatten sich aus dem Versuch ergeben, aus einem
Vielvölkerstaat wie dem Osmanischen Reich einen türkischen
Nationalstaat zu bilden, in dem alle einander möglichst gleich sein
sollten. Deshalb war auch die türkische Identität immer so ein
heikles Thema. Wie mein Bruder es einmal formuliert hatte, hatten wir
uns nicht wie die anderen Nationen einen Staat geschaffen, sondern
bei uns hatte der Staat sich eine Nation geschaffen. [...] Den Staat
zu kritisieren kam daher einer Beleidigung der Nation gleich und galt
als unverzeihlich. [...] Meine tatarische Großmutter hatte zwar
einem Turkvolk angehört, doch der Staat war mit ihr nicht weniger
zimperlich umgesprungen als mit meiner armenischen Großmutter.
Zülfü
Livaneli, 1946 geboren, mit zahlreichen nationalen wie
internationalen Preisen ausgezeichnet und seit 2007
Unesco-Botschafter, ist einer der wenigen großen universellen
Künstler unserer Zeit, der nicht nur als Komponist und Musiker,
Filmemacher und Romancier eine gleichermaßen hohe Begabung vorweisen
kann, sondern auch immer wieder durch sein humantitäres und
politisches Engagement, als „europäischer Weltbürger“ par
exellence sowie durch die zeitlos-gültige völkerverbindende
Aussagekraft seiner Werke hervorsticht.
In
seinem neuen begeisternden Roman „Serenade für Nadja“ gelingt
ihm das große Kunststück, ein der Öffentlichkeit kaum bekanntes,
spezifisch „türkisches“ Detail aus dem an solch erschütternden
Bruchstücken und schrecklichen Einzelschicksalen so überaus reichen
grundlegenden europäischen Drama, dem Zweiten Weltkrieg und der
Vernichtung des europäischen Judentums, mit uneingestandenen, noch
kollektiv aufzuarbeitenden Ereignissen aus der Geschichte der Türkei
zu verknüpfen.
Der
den Leser mit mit ihrer unverstellten Herzlichkeit sofort für sich
einnehmenden vierunddreißigjährigen Protagonistin von Livanelis
Roman „Serenade für Nadja“, der Literaturwissenschaftlerin Maya,
obliegt es als Pressesprecherin und Hauptverantwortliche für die
Öffentlichkeitsarbeit der Universität Istanbul, internationale
Gäste der Hochschule am Flughafen willkommen zu heißen und während
der Dauer ihres Aufenthalts stets mit zuvorkommender
Gastfreundlichkeit zu betreuen – für gewöhnlich ein von Routine
geprägter Job wie jeder andere.
Die
Begenung mit dem faszinierenden siebenundachtzigjährigen
deutschstämmigen Harvard-Professor Maximilian Wagner jedoch, der wie
zahlreiche andere namhafte deutsche und jüdische Wissenschaftler
(wie etwa Ernst Reuter, Paul Hindemith, Ernst Praetorius oder Erich
Auerbach) bereits in den Kriegsjahren eine ordentliche Dozentur an
der Universität Istanbul innegehabt hatte und nun für die Dauer
eines Fachkongresses an die alte Wirkungsstätte zurückkehrt, stellt
ihr Leben unerwartet vollkommen auf den Kopf.
Denn
schon während des überraschend anregenden Gesprächs mit dem
agilen, universell gebildeten Professor auf dem Weg vom Flughafen ins
Hotel bemerkt sie, dass ihnen ein verdächtiger Wagen folgt: der
türkische Geheimdienst, wie sich bald herausstellt, der die
fassungslose junge Frau um Mitarbeit in Form von Spitzeldiensten
bittet: was macht den harmlos wirkenden, traurigen alten Mann so
interessant für den Staatsschutz?
„Sind
Sie eine Türkin, die ihr Vaterland liebt?“, fragte er dann.
„Wie
bitte? Ich verstehe nicht.“
„Was
gibt es da nicht zu verstehen? Ich frage Sie, ob Sie bereit sind,
Ihrem Vaterland zu dienen?“
„Inwiefern
dienen?“
„Beantworten
Sie erst meine Frage. Lieben Sie Ihr Vaterland oder nicht?“
Für den 24. Februar, einen
freien eiskalten Wintertag ohne Programmpunkte, bittet Wagner seine
Begleiterin um einen gemeinsamen Ausflug in die Nähe des kleinen
Badeorts Şile an der türkischen
Schwarzmeerküste. Dort angekommen bittet der Professor Maya und den
gemeinsamen Chauffeur, ihn am Strand alleinzulassen. Aus der Ferne
beobachtet sie, wie er einsam in sich versunken im dichten
Schneegestöber Violine spielt.
Als ich beim Professor ankam, erschrak ich. Sein Gesicht war ganz
violett und sah furchtbar aus, wie das einer Leiche. Die Lippen waren
blutleer, aus den Augen flossen ihm Tränen, und seine Wangen wirkten
wie vereist. Knochenweiß umklammerten seine Finger den Geigenhals.
Hätte er dort nicht gestanden, sondern gelegen, so hätte ich
schwören können, der Mann sei erfroren.
Es gelingt ihr mit Hilfe des Fahrers, den mittlerweile kaum noch
ansprechbaren prominenten Gast der Universität in eine nahe
gelegene, während der Wintersaison jedoch stillgelegte und
dementsprechend ungeheizte Pension zu schaffen. Während der
Chauffeur Hilfe holt, rettet sie Maximilian Wagner durch einen
unkonventionellen, in höchstem Maße zärtlich-barmherzigen
Gnadenakt selbstlos das Leben, zerstört damit aber schließlich –
ohne es zu ahnen – ihre bürgerliche Existenz.
Gleichzeitig
eröffnet der sich ihr in seinem lebenslangen Schmerz über den Tod
seiner Frau während eines nachtlangen Gesprächs nun volkommen
offenbarende Wagner Maya jedoch unverhofft auch eine neue
Lebensaufgabe, die sie im weiteren Verlauf des Buches mit ganzer
Kraft weiterverfolgen wird.
Dazu
muss sie sich nicht nur in Details der nationalsozialistischen
Machtübernahme in Deutschland und der dadurch ausgelösten
internationalen Verwerfungen auseinandersetzen, sondern auch den
Hintergrund der unseligen Versenkung des mit 768 Passagieren
hoffnungslos überladenen jüdischen Flüchtlingsschiffs Struma
zu recherchieren, das von den türkischen Behörden nach fruchtlosen
Verhandlungen mit den Engländern über eine Passage nach Palästina
am 24. Februar 1942 manövrierunfähig ins Schwarze Meer geschleppt,
dort seinem Schicksal überlassen und sodann von einem russischen
U-Boot torpediert wurde – es gab damals lediglich vier Überlebende,
darunter drei Besatzungsmitglieder.
Zülfü
Livaneli verknüpft in seinem fesselnden Roman über den mutigen
Neubeginn einer jungen Frau vor dem dankbar-naiven Hintergrund eines
dynamischen Landes, das wenig Erfahrung damit hat, sich den
schmerzvollen Ereignissen seiner Vergangenheit aktiv zu stellen, auf
virtuose Art und Weise verschiedenste Zeit- und Handlungsebenen, in
denen noch einmal unmissverständlich deutlich wird, wie sehr die
Schoah nicht einmal aus dem Blickwinkel eines scheinbar
unbeteiligten, neutralen Landes als zeitlich und geographisch
begrenztes Ereignis betrachtet werden kann, sondern selbst in der
äußersten Peripherie als universelles seismisches Beben des
Schmerzes unweigerlich wahrgenommen werden muss.
Gegen
Ende des Romans zitiert Maya den von ihr zu übersetzenden
Literaturwissenschaftler Erich Auerbach (1892-1957) aus dessen in
Istanbul entstandenem Essay „Der Triumph des Bösen“ über Blaise
Pascals politische Theorie:
[Die
Theoretiker der Staatsraison] fragten nach dem Staat um des Staates
willen, sie sahen im Staat einen Wert; sie hatten, wie Macchiavelli,
Freude an seiner lebendigen Dynamik, oder doch wenigstens, wie
Hobbes, energisches Interesse an dem Nutzen, den er dem hier und
jetzt lebenden Menschen zu bringen imstande ist, wenn man ihn richtig
aufbaut. Das alles ist Pascal völlig gleichgültig. Ein inneres
dynamisches Leben des Staates existiert für ihn nicht, und wenn es
existierte, so würde er es für urböse halten; Interesse am Staat
hat er nicht, denn alle sind für ihn gleich schlecht.
Dieser
Diagnose schließt sich Livaneli ohne Vorbehalt an. Auch wenn sein
Wunsch nach einer Welt, in deren Mittelpunkt das Glück des Menschen
sowie die zahlreichen widersprüchlichen Ausdrucksformen menschlichen
Lebens stehen, letztlich eine Utopie bleiben muss – in seinem neuen
Roman scheint sie, wie in seiner Musik, absolut greifbar.
„Serenade für Nadja“, aus dem Türkischen von Gerhard Meier, erschienen bei
Klett-Cotta, 336 Seiten, € 21,95