Jerusalem

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Donnerstag, 30. Mai 2013

„Serenade für Nadja“ von Zülfü Livaneli

Genau neunzig Jahre nach der mutig-visionären Staatsgründung tut sich die Türkei immer noch ausgesprochen schwer damit, die sich aus der grundlegenden politischen und territorialen Struktur des Osmanischen Reiches zwangsläufig ergebende muliethnische und multireligiöse Zusammensetzung sowie die familiäre Verflechtung ihrer als homogen-türkisch bezeichneten Bevölkerung offen anzuerkennen.

Immerhin war das Kernland der modernen Türkei seit hunderten von Jahren nicht nur die historisch gewachsene Heimat bedeutender, den Charakter des Landes wesentlich mitprägender armenischer und griechischer Minderheiten, sondern zu osmanischen Zeiten aufgrund der herrschenden religiösen Toleranz auch ein wichtiges Auffangbecken für verfolgte Juden, insbesondere für die wirtschaftlich wie kulturell florierenden sephardischen Gemeinden, die ab 1492 vor der Spanischen Inquisition von der iberischen Halbinsel fliehen mussten.

Darüber hinaus bot der osmanische Staatsapparat von jeher Nichtmuslimen aus seinem gesamten, sich während seiner Blütezeit weit bis nach Mitteleuropa und Nordafrika hinein ausdehnenden Herrschaftsgebiet stets bemerkenswert umfangreiche Karriere- und Aufstiegschancen. Mit der im Gründungsjahr 1923 getroffenen und bis heute herrschenden Definition als „türkisch“ aber konnte die Türkei den zahlreichen multiethnischen familiären Verflechtungen ihrer Bürger bis heute kaum jemals angemessen gerecht werden:

Derlei Verwerfungen hatten sich aus dem Versuch ergeben, aus einem Vielvölkerstaat wie dem Osmanischen Reich einen türkischen Nationalstaat zu bilden, in dem alle einander möglichst gleich sein sollten. Deshalb war auch die türkische Identität immer so ein heikles Thema. Wie mein Bruder es einmal formuliert hatte, hatten wir uns nicht wie die anderen Nationen einen Staat geschaffen, sondern bei uns hatte der Staat sich eine Nation geschaffen. [...] Den Staat zu kritisieren kam daher einer Beleidigung der Nation gleich und galt als unverzeihlich. [...] Meine tatarische Großmutter hatte zwar einem Turkvolk angehört, doch der Staat war mit ihr nicht weniger zimperlich umgesprungen als mit meiner armenischen Großmutter.

Zülfü Livaneli, 1946 geboren, mit zahlreichen nationalen wie internationalen Preisen ausgezeichnet und seit 2007 Unesco-Botschafter, ist einer der wenigen großen universellen Künstler unserer Zeit, der nicht nur als Komponist und Musiker, Filmemacher und Romancier eine gleichermaßen hohe Begabung vorweisen kann, sondern auch immer wieder durch sein humantitäres und politisches Engagement, als „europäischer Weltbürger“ par exellence sowie durch die zeitlos-gültige völkerverbindende Aussagekraft seiner Werke hervorsticht.

In seinem neuen begeisternden Roman „Serenade für Nadja“ gelingt ihm das große Kunststück, ein der Öffentlichkeit kaum bekanntes, spezifisch „türkisches“ Detail aus dem an solch erschütternden Bruchstücken und schrecklichen Einzelschicksalen so überaus reichen grundlegenden europäischen Drama, dem Zweiten Weltkrieg und der Vernichtung des europäischen Judentums, mit uneingestandenen, noch kollektiv aufzuarbeitenden Ereignissen aus der Geschichte der Türkei zu verknüpfen.



Der den Leser mit mit ihrer unverstellten Herzlichkeit sofort für sich einnehmenden vierunddreißigjährigen Protagonistin von Livanelis Roman „Serenade für Nadja“, der Literaturwissenschaftlerin Maya, obliegt es als Pressesprecherin und Hauptverantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit der Universität Istanbul, internationale Gäste der Hochschule am Flughafen willkommen zu heißen und während der Dauer ihres Aufenthalts stets mit zuvorkommender Gastfreundlichkeit zu betreuen – für gewöhnlich ein von Routine geprägter Job wie jeder andere.

Die Begenung mit dem faszinierenden siebenundachtzigjährigen deutschstämmigen Harvard-Professor Maximilian Wagner jedoch, der wie zahlreiche andere namhafte deutsche und jüdische Wissenschaftler (wie etwa Ernst Reuter, Paul Hindemith, Ernst Praetorius oder Erich Auerbach) bereits in den Kriegsjahren eine ordentliche Dozentur an der Universität Istanbul innegehabt hatte und nun für die Dauer eines Fachkongresses an die alte Wirkungsstätte zurückkehrt, stellt ihr Leben unerwartet vollkommen auf den Kopf.

Denn schon während des überraschend anregenden Gesprächs mit dem agilen, universell gebildeten Professor auf dem Weg vom Flughafen ins Hotel bemerkt sie, dass ihnen ein verdächtiger Wagen folgt: der türkische Geheimdienst, wie sich bald herausstellt, der die fassungslose junge Frau um Mitarbeit in Form von Spitzeldiensten bittet: was macht den harmlos wirkenden, traurigen alten Mann so interessant für den Staatsschutz?

Sind Sie eine Türkin, die ihr Vaterland liebt?“, fragte er dann.
Wie bitte? Ich verstehe nicht.“
Was gibt es da nicht zu verstehen? Ich frage Sie, ob Sie bereit sind, Ihrem Vaterland zu dienen?“
Inwiefern dienen?“
Beantworten Sie erst meine Frage. Lieben Sie Ihr Vaterland oder nicht?“

Für den 24. Februar, einen freien eiskalten Wintertag ohne Programmpunkte, bittet Wagner seine Begleiterin um einen gemeinsamen Ausflug in die Nähe des kleinen Badeorts Şile an der türkischen Schwarzmeerküste. Dort angekommen bittet der Professor Maya und den gemeinsamen Chauffeur, ihn am Strand alleinzulassen. Aus der Ferne beobachtet sie, wie er einsam in sich versunken im dichten Schneegestöber Violine spielt.

Als ich beim Professor ankam, erschrak ich. Sein Gesicht war ganz violett und sah furchtbar aus, wie das einer Leiche. Die Lippen waren blutleer, aus den Augen flossen ihm Tränen, und seine Wangen wirkten wie vereist. Knochenweiß umklammerten seine Finger den Geigenhals. Hätte er dort nicht gestanden, sondern gelegen, so hätte ich schwören können, der Mann sei erfroren.

Es gelingt ihr mit Hilfe des Fahrers, den mittlerweile kaum noch ansprechbaren prominenten Gast der Universität in eine nahe gelegene, während der Wintersaison jedoch stillgelegte und dementsprechend ungeheizte Pension zu schaffen. Während der Chauffeur Hilfe holt, rettet sie Maximilian Wagner durch einen unkonventionellen, in höchstem Maße zärtlich-barmherzigen Gnadenakt selbstlos das Leben, zerstört damit aber schließlich – ohne es zu ahnen – ihre bürgerliche Existenz.

Gleichzeitig eröffnet der sich ihr in seinem lebenslangen Schmerz über den Tod seiner Frau während eines nachtlangen Gesprächs nun volkommen offenbarende Wagner Maya jedoch unverhofft auch eine neue Lebensaufgabe, die sie im weiteren Verlauf des Buches mit ganzer Kraft weiterverfolgen wird.

Dazu muss sie sich nicht nur in Details der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland und der dadurch ausgelösten internationalen Verwerfungen auseinandersetzen, sondern auch den Hintergrund der unseligen Versenkung des mit 768 Passagieren hoffnungslos überladenen jüdischen Flüchtlingsschiffs Struma zu recherchieren, das von den türkischen Behörden nach fruchtlosen Verhandlungen mit den Engländern über eine Passage nach Palästina am 24. Februar 1942 manövrierunfähig ins Schwarze Meer geschleppt, dort seinem Schicksal überlassen und sodann von einem russischen U-Boot torpediert wurde – es gab damals lediglich vier Überlebende, darunter drei Besatzungsmitglieder.

Zülfü Livaneli verknüpft in seinem fesselnden Roman über den mutigen Neubeginn einer jungen Frau vor dem dankbar-naiven Hintergrund eines dynamischen Landes, das wenig Erfahrung damit hat, sich den schmerzvollen Ereignissen seiner Vergangenheit aktiv zu stellen, auf virtuose Art und Weise verschiedenste Zeit- und Handlungsebenen, in denen noch einmal unmissverständlich deutlich wird, wie sehr die Schoah nicht einmal aus dem Blickwinkel eines scheinbar unbeteiligten, neutralen Landes als zeitlich und geographisch begrenztes Ereignis betrachtet werden kann, sondern selbst in der äußersten Peripherie als universelles seismisches Beben des Schmerzes unweigerlich wahrgenommen werden muss.

Gegen Ende des Romans zitiert Maya den von ihr zu übersetzenden Literaturwissenschaftler Erich Auerbach (1892-1957) aus dessen in Istanbul entstandenem Essay „Der Triumph des Bösen“ über Blaise Pascals politische Theorie:

[Die Theoretiker der Staatsraison] fragten nach dem Staat um des Staates willen, sie sahen im Staat einen Wert; sie hatten, wie Macchiavelli, Freude an seiner lebendigen Dynamik, oder doch wenigstens, wie Hobbes, energisches Interesse an dem Nutzen, den er dem hier und jetzt lebenden Menschen zu bringen imstande ist, wenn man ihn richtig aufbaut. Das alles ist Pascal völlig gleichgültig. Ein inneres dynamisches Leben des Staates existiert für ihn nicht, und wenn es existierte, so würde er es für urböse halten; Interesse am Staat hat er nicht, denn alle sind für ihn gleich schlecht.

Dieser Diagnose schließt sich Livaneli ohne Vorbehalt an. Auch wenn sein Wunsch nach einer Welt, in deren Mittelpunkt das Glück des Menschen sowie die zahlreichen widersprüchlichen Ausdrucksformen menschlichen Lebens stehen, letztlich eine Utopie bleiben muss – in seinem neuen Roman scheint sie, wie in seiner Musik, absolut greifbar.

„Serenade für Nadja“, aus dem Türkischen von Gerhard Meier, erschienen bei Klett-Cotta, 336 Seiten, € 21,95

Dienstag, 28. Mai 2013

„Der jüdische Messias“ von Arnon Grünberg


Von Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam als Sohn deutscher Juden und Überlebender der Schoah, wird immer wieder gern kolportiert, er sei im Alter von siebzehn Jahren als sogenanntes „asoziales Element“ seiner langjährigen Schule, dem renommierten Vossius Gymnasium, strafverwiesen worden – einen besseren Gründungsmythos für eine ebenso beispiellose wie nachhaltig-erfolgreiche Karriere als zynisch-scharfsinnig-gewitzte Kultfigur der jungen niederländischen Literatur und popstarhaft bewunderter internationaler Bestsellerautor kann man sich kaum vorstellen.

Wie zutreffend diese absurde Diagnose falsch verstandenen humanistischen Elitedenkens engstirnig-bürokratischen Berufsbeamtentums trotz allem war, wenn auch in komplett gegensätzlicher Hinsicht, erweist sich auf äußerst positiv-erhellende Art und Weise angesichts der dankbar-faszinierenden, kurzweiligen Lektüre seines soeben endlich in deutscher Übersetzung erschienenen, im Original jedoch bereits vor neun Jahren veröffentlichten und in zahlreichen Sprachen bereits erfolgreichen Romans „Der jüdische Messias“, in dessen in jeder Hinsicht prophetischer Handlung Grünberg sein unnachahmliches Gespür für die bodenlosen Untiefen bürgerlicher Moral und die zahlreichen Fallstricke menschlicher Verdrängungsmechanismen voll auszukosten vermag.

In diesem Roman begegnen wir einem talentierten, wenn auch grüblerisch veranlagten und gefühlskalten jungen Mann deutscher Abstammung in der sauberen Stadt Basel, der verhängnisvollerweise nicht nur einen Hang zu verqueren Spitzfindigkeiten der modernen Philosophie besitzt, sondern zudem leider auch in der Nachttischschublade seiner Mutter diverse Erinnerungsstücke an deren innerhalb der Familie totgeschwiegenen Vater entdeckt hat, einen im Zweiten-Weltkrieg „gefallenen“ SS-Mann und unbelehrbaren Überzeugunstäter, zu dessen Hinterlassenschaften unter anderem das zweifelhafte literarische Machwerk „Mein Kampf“ von „Du-weißt-schon-wem“ gehört, das Xavier Radek in den folgenden Wochen mit Begeisterung unter der Bettdecke lesen wird.

Dein Opa musste Juden bewachen [...] Das war alles, er musste auf sie aufpassen, damit sie nicht weglaufen oder Dummheiten machen. Aber weil er soviel Energie hatte, hat er ab und zu mal einen geschlagen. [...] Du darfst nicht vergessen, dass die Arbeit dort nicht die erste Wahl deines Großvaters war. Er hätte lieber was anderes getan. [...] Viel lieber wäre er Bauer geworden, mit Feldern und Kühen. [...] Aber damals hat die einfachen Leute niemand gefragt. [...] Er hatte schrecklich viel Energie.[...] Er war hyperaktiv. Er brauchte auch nur ganz wenig Schlaf. Zwei, drei Stunden die Augen zu, und er war wieder voll da. Heute bekommen die Leute gegen so was Tabletten.



Aus der Lektüre von „Mein Kampf“ und seinen eigenen daran anknüpfenden beschränkten philosophischen Erwägungen zieht der einer sprichwörtlichen „Herzensbildung“ ebenso grundsätzlich wie endgültig, also gleichsam „unheilbar“ entbehrende Xavier folgende Schlüsse: wenn die Juden als „Feinde des Glücks“ – wie Hitler sie nennt – durch den Schmerz ihres Leidens das Glück der Welt verhindern, dann will er sich fortan mit ganzer Kraft der Aufgabe widmen, das Leiden der Juden zu mindern.

Zu diesem Zweck schließt er sich nicht nur einer zionistischen Jugendgruppe an, sondern besucht auch regelmäßig den orthodoxen Gottesdienst in der Basler Synagoge, übersetzt gemeinsam mit seinem späteren Liebhaber Awrommele, dem Sohn des Rabbis, zu Studienzwecken „Mein Kampf“ ins Jiddische und lässt sich von einem senilen, halbblinden Möchtegern-Mohel im Rahmen einer haarsträubend-unappetitlichen Operation beschneiden, wobei er nicht nur seine Vorhaut, sondern auch einen Hoden einbüßt, den er schließlich auf den Namen „König David“ tauft und in einem Einmachglas stets bei sich trägt.

Als in Amsterdam sein „künstlerisches Talent“ als Schöpfer einer ambitionierten Bilderserie von Porträts seiner Mutter mit dem bereits erwähnten bizarren Einmachglas von der Kunstakademie abgeschmettert wird, wandert Xavier gemeinsam mit Awrommele nach Israel aus, wo er schließlich als unwahrscheinlicher Ministerpräsident seiner vermeintlichen inneren Bestimmung als „Tröster aller Juden“ näher kommt als er je zu hoffen geglaubt hätte und als größenwahnsinniger jüdischer Führer einen apokalyptischen Weltenbrand auslöst.

Nach einem halben Jahr begann man zu munkeln, der Hoden im Einmachglas sei der Messias. [...]
Das ist König David, das ist der Hoden, den ich mit siebzehn verloren habe, als ich entdeckte, wer ich war. Ich habe damals die Konsequenzen gezogen und die Geschichte meines Volks angenommen. Ich habe mich beschneiden lassen. König David hat mich in dieses Land geführt, er hat gemacht, dass ich die Wahlen gewinne. König David ist mein König, er kann auch euer König sein.“
Ja, ha-Radek“, schrien seine Anhänger. „König David soll unser König sein. Er soll uns leiten in diesen dunklen Zeiten. Er soll uns zur Seite stehen.“

Bei der überraschend kurzweiligen Lektüre dieser faszinierend-geschmacklosen und betont politisch-unkorrekten Farce mit ihren zahllosen ebenso unappetitlichen wie leider auch unvergesslichen Details stellt sich allerdings weniger die Frage, wie man sich als vermeintlich psychisch gesunder Leser der zweifelhaften Wucht dieser in jeder Hinsicht extremen Eindrücke erfolgreich erwehren kann, sondern vielmehr wie ein Autor überhaupt eine solch bösartige, einem nachhaltig den Boden unter den Füßen wegziehende Parallelwelt zu erschaffen vermag.

Doch gerade in diesem schwer auszuhaltenden Widerspruch liegt Grünbergs unnachahmliches Talent begründet: in seinem außerordentlichen seismographischen Gespür, den in unserer Gesellschaft allgegenwärtigen, unterschwellig stets vorhandenen moralischen Müll zu identifizieren und durch konsequente Übertreibung folgerichtig ad absurdum zu führen. In dieser Hinsicht ist „Der jüdische Messias“ nicht nur ein geniales Werk literarischer Alltagsdurchdringung, sondern auch das vielleicht beste Beispiel für Grünbergs zynisch karikierende Kunst und ein bewundernswerter Versuch der Abwehr dessen, was er beschreibt.

Der jüdische Messias“, aus dem Niederländischen von Rainer Kersten, erschienen bei Diogenes, 637 Seiten, € 24,90


Freitag, 17. Mai 2013

Friedrich-Rückert-Preis der Stadt Coburg 2013 an Nihad Siris!



Wie die Stadt Coburg morgen offiziell bekanntgeben wird, hat sie den im Abstand von drei Jahren vergebenen und mit 7.500 Euro dotierten Friedrich-Rückert-Preis 2013 dem syrischen Schriftsteller und Drehbuchautor Nihad Siris (geboren 1950) für seinen großartigen, bereits im Herbst 2008 in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Ali Hassans Intrige“ zuerkannt, der die Mechanismen diktatorischer Machtausübung mit meisterhafter Präzision beschreibt.

Mit dieser guten und wichtigen Entscheidung möchte die von den beiden renommierten Orientalisten Dr. Günther Orth und Dr. Hartmut Fähndrich geleitete Jury den öffentlichen Fokus auf ein Land richten, das nach bitteren Jahrzehnten der Diktatur derzeit den wohl blutigsten Bürgerkrieg des noch jungen Jahrhunderts erleiden muss und dessen unglückliche Bürger dabei wegen der geopolitischen Lage ihres Landes im Schnittpunkt unterschiedlicher internationaler Machtinteressen schändlicherweise auf keinerlei substanzielle militärische Hilfe von Außen hoffen dürfen, obwohl das herrschende Regime mit beispielloser Brutalität gegen seine eigenen Bürger vorgeht:

Syrien verdient unsere ganze Aufmerksamkeit, dieses Land, in dem seit Jahrtausenden Kultur und Literatur blühen und bis in die allerjüngste Gegenwart Literaten mit ihren Schriften mutig das Wort erheben. Eine solche Stimme ist die von Nihad Siris. 1950 in Aleppo geboren, war Siris zunächst Bauingenieur, bevor er sich dem Schreiben [...] zuwandte. Er flüchtete 2011 aus Syrien nach Ägypten und lebt seitdem im Exil.

Auch als politisch interessierter und von den Medien über die Ereignisse in aller Welt umfassend informierter, aufgeklärter Mensch vergisst man in scheinbaren Friedenszeiten leider allzu oft, dass die Bürger totalitärer Staaten nicht zwangsläufig dieselbe Meinung vertreten wie das jeweilige sich dort gerade an der Macht befindende Regime. Das wird im derzeit wütenden syrischen Bürgerkrieg besonders deutlich, dessen Ursachen Nihad Siris in seinem Roman schon vor beinahe zehn Jahren beispielhaft im Rahmen einer ebenso aufschlussreichen wie unterhaltsamen, von leisem Humor getragenen Handlung aufgeschlüsselt hat.




Wenn man sich vor Augen führt, wie selbstverständlich es in einer Demokratie dazugehört, die selbstgewählte Regierung zu kritisieren, muss allerdings jedem klar werden, dass dies in einer brutalen Diktatur erst recht an der Tagesordnung ist: allerdings wird das, was hier legal und erwünscht ist, dort oft unter schlimmste staatliche Sanktionen gestellt und kann deshalb in der Regel nicht frei geäußert werden. Umso bemerkenswerter, dass für die Opposition in Syrien nun seit 2011 der Zeitpunkt zum Handeln gekommen ist.

Nihad Siris hat einen erstaunlich leichtfüßigen, wunderbar erhellenden Roman über die Methoden und Funktionsweisen einer Diktatur geschrieben, der die Schrecken des von ihm porträtierten totalitären Regimes sehr elegant und in beispielhafter Universalität bloßlegt, ohne dabei in allzu blutige Details abzuschweifen: es genügt oft die feine Andeutung, um dem Leser unmissverständlich klarzumachen, um was es hier geht – vielleicht auch eine Art Selbstschutz des Autors.

Dessen sympathischer jugendlicher Protagonist Fathi Schin, ein regimekritischer Schriftsteller, der nach einem Fauxpas in seiner Fernsehsendung von der Staatsmacht kaltgestellt und mit Publikationsverbot belegt worden ist, gerät am Anfang des Romans unfreiwillig, jedoch aufgrund der allseits verordneten Festtagsstimmung zwangsläufig in die aufgeblasene Parade zum 20. Jahrestag der Machtergreifung des Großen Führers, die vom Autor sehr schön als „Getöse der Macht“ im Gegensatz zum befohlenen künstlerischen Schweigen des Helden, aber auch zum drohenden Schweigen des Gefängnisses, ja sogar des Grabes beschrieben wird.

Als Fathi im Trubel einen protestierenden Studenten vor den Schergen des Geheimdienstes zu retten versucht, wird sein Ausweis eingezogen und ihm mitgeteilt, er könne sich diesen auf dem „Revier“ wieder abholen. Unterdessen erfährt Fathi von seiner verwitweten Mutter, dass diese wieder heiraten wolle, und zwar ausgerechnet den Offizier Ali Hassan, ein prominentes Mitglied der Führungsriege.

Die ganze Tragweite von dessen schamloser, dem Buch seinen Titel gebender Intrige wird dem Helden des Buches allerdings erst vollends klar, als er von der Soldateska zum Verhör abgeholt wird. Neben der überaus erhellenden Schilderung der Funktionsweise staatlicher Willkür ist besonders die liebevoll porträtierte, weitgehend dem Idealbild des klassischen jugendlichen Helden entsprechende unbestechliche Hauptfigur des Fathi Schin eine absolut erfrischende positive literarische Entdeckung.

Gleichzeitig macht uns die Lektüre erneut unmissverständlich klar, dass das syrische Volk derzeit jeder erdenklicher Art der Unterstützung bedarf: laut Angaben des Roten Kreuzes sind mehr als vier Millionen Menschen allein innerhalb des Landes auf der Flucht, die Zahl der Todesopfer ist laut UN-Angaben mittlerweile auf über 80.000 gestiegen. Deshalb bleibt zu hoffen, dass die gute Entscheidung der Coburger Jury nicht nur Auslöser von rein intellektuellem Verständnis und passivem Mitgefühl, sondern auch Anstoß zum Handeln sein wird.

Ali Hassans Intrige“, aus dem Arabischen von Regina Karachouli, erschienen bei Lenos, 173 Seiten, € 12,50

Montag, 13. Mai 2013

„Mr T., der Spatz und die Sorgen der Welt“ von Miriam Toews


Eine der wichtigsten Aufgaben der klassischen Psychoanalyse wie der modernen Psychotherapie, die so offensichtlich und gleichzeitig so banal scheint, dass man sie kaum extra erwähnen möchte, ist ohne Zweifel die Wiedererweckung menschlichen Mitgefühls im zu behandelnden Patienten. Da die meisten von uns im Alltag aufgrund der gesellschaftlichen Strukturen empathisches Verständnis für unsere Mitmenschen im vollen Wortsinn eher entbehren, ohne sich dessen bewusst zu sein oder dies als fundamentalen Mangel überhaupt wahrzunehmen, ist die Leistung der kanadischen Autorin Miriam Toews in ihrem neuen, vielleicht persönlichsten Buch bisher kaum hoch genug zu bewerten, in dem sie den bewundernswerten Versuch unternimmt, den Selbstmord ihres Vaters aus dessen persönlicher Innensicht zu begreifen und seinen einsamen letzten Weg literarisch nachzuvollziehen.

Melvin Toews, allseits beliebter Grundschullehrer in einer beschaulichen, mennonitisch geprägten kanadischen Kleinstadt, spazierte an einem sonnigen Frühlingstag, nur wenige Monate nach seiner durch einen leichten Schlaganfall erzwungenen Pensionierung, in aufgeräumter Stimmung aus seinem Krankenhauszimmer in der von seinem älteren Bruder geleiteten Klinik seiner Heimatstadt und trampte, nach einem ausgiebigen Spaziergang durch die frisch erblühende Natur, ins nahe gelegene Nachbarstädtchen, wo er an die Fliegengittertür des kleinen Bahnhofscafés klopfte, um der Kellnerin eine Frage zu stellen:

Wann kommt der nächste Zug?“, fragte er höflich wie immer.
In ein paar Minuten“, antwortete sie.
Ach ja“, sagte er, „man hört ihn schon pfeifen.“
Die einen sagen, er hat sich auf die Gleise gekniet, die kleine Kirche im Blick, mit dem Rücken zum herannahenden Zug, die anderen, er hat bis zur letzten Sekunde gewartet und sich dann vor den Zug geworfen. […] Sicher wissen wir von dem Tag nur, dass die Sonne am Himmel strahlte und dass es für den 13. Mai ungewöhnlich warm war. Und dass, selbst als seine Leiche schon weggebracht worden war, auf den Gleisen und in den Gräben zu beiden Seiten kleine hellgelbe Rezeptkarten verstreut lagen. Seit ich mich erinnern kann, hat er abends vorm Zubettgehen auf solchen Karten Botschaften an sich selbst geschrieben und dann sorgfältig auf seine Schuhe gelegt, wo er sie am nächsten Morgen ganz sicher finden würde. An diesem Tag waren die gelben Karten, die ihm aus der Tasche auf die Gleise fielen, leer.



Bei Melvin Toews wurde schon im jugendlichen Alter eine manische Depression diagnostiziert, sein Psychiater hatte ihn davor gewarnt, eine Familie zu gründen, die Wahrscheinlichkeit, jemals ein normales leben zu führen, sei äußerst gering. Trotzdem hätte Toews fünfzig Jahre später eigentlich mit berechtigtem Stolz auf ein erfülltes und erfolgreiches Leben zurückblicken können, das genau dem kleinbürgerlichen Ideal seiner Heimatstadt in der Provinz Manitobas zu entsprechen schien: er war glücklich verheiratet, hatte zwei aufgeweckte Töchter großgezogen, besuchte jeden Sonntag die Kirche und war als langjähriger Grundschullehrer überaus beliebt und bestens integriert. Nebenbei arbeitete er an einem Buch über die kanadischen Präsidenten.

Es ist immer ein großes literarisches Wagnis, sich in eine real existierende Person hinein zu versetzen, umso mehr wenn einem diese Person besonders nahe steht, umso mehr, wenn diese nach klinischen Maßstäben ein bestimmtes psychisches Krankheitsbild aufweist, das zwar als relativ gut erforscht gilt, das aber dennoch in seiner individuellen persönlichen Ausprägung für den Angehörigen weitestgehend ein schwer zu bestehendes Rätsel bleiben muss.

Miriam Toews, geboren 1961 in Steinbach/Manitoba, die allgemein unbestritten zu den bedeutendsten kanadischen Autorinnen der Gegenwart zählt, ist sich der Zerbrechlichkeit ihrer auf töchterlichem Einfühlungsvermögen und poetischer Weltdurchdringung gleichermaßen basierender Recherche nur allzu bewusst; wiederholt weist sie in ihrem Vor- und Nachwort darauf hin, dass „wir nicht wissen können“, was wirklich in ihm vorgegangen sein mag, wie es zu seiner Entscheidung kam, sich achtzehn Tage vor seinem Geburtstag das Leben zu nehmen. Dennoch gelingt der umsichtigen Autorin auf wunderbar-empathische, geradezu herzzerreißende Art und Weise ein tiefer, absolut wahrhaftiger, schmerzensreicher Blick in die Abgründe einer tief verletzten menschlichen Seele.

Ihrem verstorbenen Vater verleiht sie dabei von Anfang an eine vollkommen unverwechselbare, wunderbar-originelle, oft menschenfreundlich-humorvolle und absolut liebenswerte Stimme, indem sie ihn vom Krankenbett aus schriftlich sein Leben Revue passieren lässt, wobei immer wieder hoch reflektierte, lange, flüssige und versierte Abschnitte mit kurzen, abgehackten Einwürfen alterieren, aus denen nur noch haltlose Verwirrung und bittere Verzweiflung sprechen:

Es ist 6:46 Uhr. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich bin nicht wie geplant vor die Tür gegangen. Ich hatte gehofft, dass das nicht passiert. Mein Optimismus schwingt sich zu solchen Höhenflügen auf, dass er urplötzlich wieder abstürzt. Über die Klippen..., über die Optimismus eben abstürzt. (Pardon.) Ich bemühe mich um Präzision. Ich bemühe mich, die Fakten niederzuschreiben. Vielleicht sollte ich ein wenig ausruhen... es ist noch recht früh. Bis später...

Die von mehreren, teilweise unbemerkt kleinen Schlaganfällen ausgelöste Demenz und der Verlust seiner lebenslangen Aufgabe als Grundschullehrer in Kombination mit seinem psychischen Krankheitsbild führten bei Melvin letztlich graduell zum absoluten Verlust jeglicher Lebensenergie. Selbst die zahlreichen von seinen Töchtern in verzweifelt-liebevoller Sorge um ihn geschriebenen und überall in seinem Umfeld deponierten Karteikarten helfen nicht mehr:

WIR LIEBEN DICH. MOM LIEBT DICH. DU BIST NICHT SCHULD. DU BIST EIN GUTER VATER. WIR SIND STOLZ AUF DICH: BITTE RUH DICH AUS. BITTE MACH DIR KEINE SORGEN. DU BIST BALD WIEDER BEI MOM. BITTE GLAUB UNS. WIR LIEBEN DICH UND WERDEN DICH IMMER LIEBEN.

Dabei wird umso deutlicher, wie hoch zu bemessen Melvins außerordentliche psychische Leistung ist, über fünfzig Jahre ein sogenanntes „normales“ Leben zu führen, in mancher Hinsicht sogar sehr viel „normaler“ zu sein als manch anderer als geistig vollkommen gesund geltender Mensch, und trotz aller Sprach- und Hilflosigkeit dennoch immer ein guter Ehemann und liebevoller Vater zu sein, obwohl er gleichzeitig allen Grund hatte, sich im Stillen mit einem anderen großen einsamen und verzweifelten Zeitgenossen zu identifizieren:

Ich glaube, damals verband mich, einen konservativen, gut gekleideten, höchst umgänglichen Kleinstadtgrundschullehrer, mehr mit Elvis Presley, dem König des Rock'n'Roll als mit meinen Missionarsverwandten. […] In den Artikeln wurden oft seine Stimmungsschwankungen erwähnt, seine Tablettenabhängigkeit und seine Schwierigkeiten, sich in dem ganzen Tamtam um sein Image zu finden. Angeblich verbrachte er viel Zeit allein in seinem Zimmer und war deprimiert. […] Meine Töchter wären völlig aus dem Häuschen gewesen, wenn ich ihnen das je erzählt hätte, und eigentlich hätte ich ihnen mein Faible für Elvis gestehen sollen – einfach, um sie herzlich lachen zu hören.

Miriam Toews poetisch-leichtes, humorvolles Buch über die wachsende Verzweiflung ihres auch für den Leser unvergesslich bleibenden Vaters ist nicht nur ein ermutigendes Geschenk für alle selbst von psychischen Krankheiten Betroffenen oder deren Angehörige, sondern auch ein beeindruckendes Dokument dessen, was Mitgefühl und mitmenschliche Gemeinschaft bewirken können sowie eine leise, jedoch stetig nachhallende, unkonventionell-berührende Hymne auf die vielfältigen Möglichkeiten des Lebens an sich. Gleichzeitig hat man am Ende das gute, befriedigende Gefühl, dass einem bescheidenen, liebenswerten Menschen unverhofft doch noch große Gerechtigkeit widerfährt, so dass man Melvin Towes gemeinsam mit seiner Tochter in ihren Worten zuflüstern möchte: „Dad, du hast dir deine Ruhe verdient. Schlop scheen.“

„Mr T., der Spatz und die Sorgen der Welt“, aus dem Englischen von Christiane Buchner und Martina Tichy, erschienen im Berlin Verlag, 261 Seiten, € 19,99

Mittwoch, 8. Mai 2013

“Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?” von Anne Sinclair

Es ist ebenso aufschlussreich wie betrüblich, dass die französische Topjournalistin, Leiterin der französischen Ausgabe der prämierten Internet-Postille Huffington Post und gefeierte Buchautorin Anne Sinclair, geboren 1948 in New York als Tochter eines hochdekorierten Soldaten und Weltkriegshelden der France Libre Charles de Gaulles, dessen rückwirkend legalisierten militärischen Decknamen sie bis heute trägt, außerhalb ihrer Heimat Frankreich fast ausschließlich als gehörnte Noch-Ehefrau des skandalträchtigen ehemaligen IWF-Chefs Dominique Strauss-Kahn bekannt ist.

Auf dessen Rücktritt infolge der medienträchtigen Affäre um die ihm zur Last gelegte Vergewaltigung einer New Yorker Hotelangestellten (sämtliche damit in Zusammenhang stehende Verfahren wurden mittlerweile eingestellt) nimmt Anne Sinclair im Epilog ihres neuen Buches lediglich in einem Nebensatz Bezug:

Im Mai 2011 sah ich mich wegen schmerzlicher Umstände wieder gezwungen, in New York zu leben, plötzlich gewissermaßen eine Gefangene Amerikas. Die Stadt New York, die mir in meiner Kindheit verzaubert erschien, wurde für mich und die Meinen auf einmal gleichbedeutend mit Gewalt und Ungerechtigkeit.

Zum Zeitpunkt der Verhaftung ihres Ehemanns, der sich bis dahin berechtigte Hoffnungen auf eine erfolgreiche Präsidentschaftskanditatur in seinem Heimatland machen durfte, hatte sie ihr hoch spannendes, die eigene Familiengeschichte bravourös erforschendes, jetzt in deutscher Übersetzung unter dem neugierig machenden Titel “Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine” erschienenes Buchprojekt längst begonnen.



Der Auslöser für diese in weiten Teilen begeisternde, ebenso persönliche wie sachlich umfassende Recherche über Leben und Werk ihres Großvaters Paul Rosenberg (1881-1959), einem der einflussreichsten und bedeutendsten französischen Kunsthändler des Zwanzigsten Jahrhunderts, war – wie die versierte Autorin in ihrem mitreißendem Vorwort schreibt – ein schicksalhafter Vorfall aus der bürokratisch streng reglementierten Parallelwelt des französischen behördlichen Meldewesens, der die Autorin unverhofft in eine lange überwunden geglaubte Zeit zurückkatapultierte, in der menschenverachtend-despotische Systeme sich nach lächerlich irrationalen, selbst aufgestellten Kriterien nicht nur über die nationale, sondern auch die persönliche Identität, ja letztlich über das nackte Leben ihrer Bürger an sich zu bestimmen wie selbstverständlich anmaßten:

Sind ihre vier Großeltern in Frankreich geboren oder nicht?”
Das letzte Mal, als man derartige Fragen gestellt hat, ließ man die Menschen anschließend in einen Zug nach Drancy steigen!”, sage ich erstickt. [...]
Erbittert gehe ich. Ohne es diesem pflichtbewussten Beamten wirklich übel zu nehmen, aber mit dem Gefühl, dass meine Geburt verdächtig ist, als gäbe es zwei Kategorien von Franzosen und einige wären es mehr als andere.

Der von Kindheit an kunstbegeisterte Paul Rosenberg eröffnete nach ersten beruflichen Schritten in der Antiquitäten- und Kunsthandlung seines in Bratislava geborenen Vaters Alexandre Rosenberg (ca. 1850-1913) bereits im Jahr 1911 seine erste eigene Galerie in der repräsentativen Rue La Boétie, wo er nicht nur Werke von so etablierten Meistern wie Edgar Degas, Auguste Rodin oder Pierre-Auguste Renoir ausstellte und verkaufte, sondern vor allem auch seine Begeisterung für die modernen Strömungen der Pariser Kunstszene, vor allem für den Kubismus und für junge kreative, von ihren Zeitgenossen noch verkannte Künstlerpersönlichkeiten wie Pablo Picasso, Georges Braque, Fernand Léger, Henri Matisse sowie die von ihm bereits seit 1913 exklusiv vertretenen Marie Laurencin einbringen konnte und so einen kaum hoch genug einzuschätzenden Beitrag zur Etablierung der modernen Kunst leistete; die jahrzehntelangen freundschaftlichen Geschäftsbeziehungen zu den von ihm vertretenen Künstlern, wurden gewöhnlich erst durch den Tod eines der Geschäftspartner beendet.

Paul Rosenberg, der neu erworbenen Kunstwerken oftmals mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmete als seiner Familie, war jedoch nicht nur ein visionärer Entdecker und Förderer der modernen Kunst, sondern trotz eines zuweilen weltfremd anmutenden, in die Farbwelten seiner Künstler verlagerten Innenlebens auch ein politisch hellwacher Beobachter der nationalistischen Verwerfungen im Mitteleuropa der 1930er Jahre, der mit glasklarem Verstand die sich daraus ergebenden verhängnisvollen Entwicklungen vorauszusehen im Stande war.

Gegen die von den Nationalsozialisten mit aller Macht zu Rüstungszwecken betriebene Veräußerung von requirierten oder aus dem Besitz staatlicher Museen Nazi-Deutschlands stammenden Werken der sogenannten „entarteten Kunst“, zu denen unfassbarerweise selbst heute so unwidersprochene Klassiker wie van Gogh zählten, hatte er sich nicht nur vehement verweigert (wofür ihn die Nazis schon frühzeitig auf ihre Schwarze Liste setzten), sondern auch alle potenziellen Käufer aktiv davor gewarnt, dass jegliche Devisen, die das Deutsche Reich dadurch einnehme, „uns in Gestalt von Bomben auf den Kopf fallen werden“.

Obwohl Rosenberg einen Teil seiner Kunstwerke durch großzügige Schenkungen (etwa an das New Yorker Museum of Modern Art) in Sicherheit bringen konnte, während wenige andere Werke den Krieg unangetastet in einem auf den Namen seines Chauffeurs eingetragenen Lagerhaus überdauerten, fiel der absolute Großteil seiner Sammlung von über vierhundert Gemälden und sonstigen Kunstgegenständen in die Hände der Nazis, von denen nur ein geringer Teil restituiert wurde, zuletzt Claude Monets Werk “Seerosen 1904” im Jahr 1999.

Dank seiner ausgezeichneten Kontakte zum MoMA gelang Rosenberg im Jahr 1940 gerade noch rechtzeitig mit seiner gesamten Familie die Flucht nach New York, wo er erneut eine florierende Galerie eröffnen konnte, während in seine ehemaligen Räume in Paris ausgerechnet das antisemitische Institut d'Etudes des Questions Juives, das nationalzozialistische Institut für Judenforschung, einzog.

Anne Sinclair gelingt aus der Sicht der erwachsenen Enkelin ein absolut fesselndes, ebenso menschlich-liebevolles wie analytisch-tiefgreifendes Porträt eines ungewöhnlichen Menschen und außergewöhnlichen Kunsthändlers mit hochinteressanten Einblicken nicht nur in die faszinierende Kunstszene der Welthauptstadt der Kunst Paris vor dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch in die zahlreichen Verhängnisse der nationalsozialistischen Kunstauffassung sowie die absurden ideologischen Angriffe und räuberischen Beutezüge der Nazis im von ihnen besetzten Europa.

Dass Anne Sinclair dieses äußerst verdienstvolle und lobenswerte Unternehmen einer ersten fundierten Biographie über Paul Rosenberg erst fünfzig Jahre nach dessen Tod in Angriff nehmen konnte, verwundert umso mehr, als sie als Kind in dessen illustrem Haushalt nach dem Krieg nicht nur Künstler wie Picasso kennenlernen durfte, sondern sogar im Alter von vier Jahren von Marie Laurencin in unverwechselbarer Art und Weise porträtiert wurde.

Ganz nebenbei – und das ist eine besonders schöne kleine Pointe – gelingt es der Autorin dabei auch in besonders hohem Maße, sich mit ihrem ganz persönlichen Buch über ihren Großvater gewissermaßen selbst “freizuschreiben”, um vielleicht in Zukunft noch ein bisschen weniger als Ex-Frau von Dominique Strauss-Kahn wahrgenommen zu werden, sondern wenn schon, dann lieber als Tochter von Paul Rosenberg, oder noch besser: als Anne Sinclair, eine weltgewandte, kluge, dem Leben zugewandte Frau und hinreissende, humorvolle, analytisch-scharfsinnige Erzählerin und Autorin.

“Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?”, aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, erschienen bei Antje Kunstmann, 208 Seiten, € 19,95