Jerusalem

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Dienstag, 28. Januar 2014

„Jesse Thoor – Das Werk“


Zwar gab es im schicksalhaften Jahr des österreichischen Anschlusses an Nazi-Deutschland 1938 ausgesprochen namhafte und über jeden Zweifel erhabene deutsche Exil-Schriftsteller wie Thomas Mann oder Franz Werfel, die ihren prominenten meinungsbildenden Einfluss erfolgreich geltend zu machen vermochten, damit ihr zu jener Zeit noch völlig unbekannter, hochtalentierter junger Kollege, der Sonett-Dichter Jesse Thoor (geboren 1905) mittels eines bescheidenen, gleichsam „lebenserhaltenden“ Literaturstipendiums von seinem Zufluchtsort Brünn in der Tschechoslowakei gerade noch rechtzeitig nach London ausreisen konnte.

Ich [Franz Werfel] empfehle den Dichter Jesse Thoor auf das dringendste für ein Stipendium. Seine Sonette sind zweifellos die erstaunlichste Leistung, die mir auf dem Gebiet deutscher Lyrik seit Jahren begegnet ist. Sie zeigen nicht nur eine dichterische Sprache – und Bildkraft hohen Grades, sondern gestalten auch einen Zustand der Seele, der einmal vielleicht für unsere Epoche charakteristisch und dokumentarisch sein wird.


Dieser lebensrettende, vielen anderen begabten Künstlern verwehrt gebliebene Weg sollte sich jedoch rückblickend lediglich als der bloße Übertritt von einer bitteren, künstlerischen wie menschlichen Isolation in die nächste erweisen: zu Lebzeiten des 1952 bei einem Freundschaftsbesuch in Lienz/Osttirol überraschend an einem Herzanfall verstorbenen, höchst originellen und in seiner universellen Aussage auch aus heutiger Sicht noch absolut zeitlos scheinenden, stets am Existenzminimum lebenden Dichters ist nur ein einziger schmaler Band mit einer kleinen Auswahl seiner Sonette erschienen, der überdies im geschäftigen Nachkriegsjahr 1948 keine irgendwie nennenswerte Resonanz bei Publikum und Kritik erzielen konnte.

Ich, der Dichter Jesse Thoor –
dem Zünglein, Zeh und Ohr
und die Seele fror!

Wenn der März alle Bäche taut,
singe ich wieder laut!
Du meine hohe Braut!

Singe ich dein Herz gesund!
Du meines Sterbens Grund!
Küsse ich Deinen Mund!

Der in einem Arbeiterviertel Berlins unter seinem bürgerlichen Namen Peter Karl Höfler als Sohn österreichischer Eltern geborene und größtenteils im heimatlichen Rohrbach im Mühlviertel/Oberösterreich aufgewachsene Jesse Thoor, der aufgrund seines außergewöhnlich großen (kunst-)handwerklichen Talents zunächst zahlreiche traditionelle Berufe ausübte, teilweise sogar auf Wanderschaft und als Heizer auf See, hat sich Zeit seines Lebens und in seinem letzten Lebensjahrzehnt auch in zunehmend bewusster Abgrenzung vom Akademischen immer nach einem ehrlich-wahrhaftigen, fest in der menschlichen Realität verankerten, „tätigen Leben“ gesehnt – in der Unfähigkeit, sein herausragendes, schon seit frühester Jugend vital zu Tage tretendes und aktiv gepflegtes schriftstellerisches Talent zum Brotberuf zu machen, besteht die große Tragik seines Lebens.

Wir aber sind die Kraft, die Pflug und Hammer unverzagt bewegte.
Die schützend und gerecht die Wasserratte und den Marder schlug.
Die von den Feldern weg die Steine und das Unkraut trug.
Die Hand und Fuß und auch den Leib an alle Dinge legte.

Da ziehn die Wolken hin, es geht der Wind auf allen Wegen.
Der Mittag kennt die Kinder alle, und er kennt der Alten Leid.
Es schmückt die Nacht mit Schlaf und Traum ihr buntes Kleid,
und gibt dem Morgen seinen Glanz und seinen frühen Segen.

So sehen wir die Zeit am Zaun, den Rost an jedem Gitter.
Und sehn, es schießt der Halm beglückt empor, es reift der Wein.
Bald wird kein Mensch vor Kälte mehr und Hunger schrein.

Nun preisen wir die Sonne laut, den Mond und das Gewitter.
Die gute Absicht, die den Haß uns tröstend aus den Knochen taut.
Ein fühlend Herz, das Auge, das auf Erden schon den Himmel schaut.

Doch der in Jugendjahren engagierte Kommunist und bei zahlreichen entsprechenden Gelegenheiten mitreissende Redner Jesse Thoor, der direkt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten noch unter Lebensgefahr rote Fahnen auf Berliner Arbeiterhäusern hisste und der Gestapo dabei oft nur um Haaresbreite entkam, ist alles andere als ein Dichter eines utopistischen Idylls der aktiven Werktätigen. Besonders seine frühen, zornigen und klassenkämpferischen Sonette sind von der Literaturkritik immer wieder in Bezug zur Barocklyrik gesetzt sowie insbesondere als Nachhall der „Vagantenlyrik“ Francois Villons oder Arthur Rimbauds verstanden worden.

Dass diese vordergründig zunächst plausibel scheinende Interpretation allerdings deutlich zu kurz greift, weist der 1997 verstorbene kundige Co-Herausgeber Michael Hamburger, selbst Lyriker und Mitglied des Order of the British Empire, in seinem überaus aufschlussreichen und lesenswerten Nachwort nach, wobei ihm dabei insbesondere die intensive persönliche Bekanntschaft mit dem Autor in den gemeinsamen Londoner Jahren des Exils und der auf diese Weise gewonnene verständnisinnige, wohlmeinend-empathische Einblick in dessen zuletzt als durchaus kauzig zu bezeichnende Persönlichkeit zugute kommt.

Jesse Thoor/© ÖBV/unbezeichnet

Nicht zuletzt durch die bösartige Denunziation Jesse Thoors als angeblicher Gestapo-Agent durch kommunistische Kreise im britischen Exil, die dem Dichter eine wochenlange, erst durch persönliche Intervention des Erzbischofs von Canterbury beendete Internierung in Devon und auf der Isle of Man einbrachte, vollzog sich schließlich eine vollständige, auch in seinen Werken deutlich artikulierte Abkehr vom Kommunismus hin zu einer intuitiv-spirituellen Weltsicht, die dem „Christ of Revolution and of Poetry“ (David Gascoyne) huldigt und – so Hamburger – einer gefühlsmäßigen, ethisch und religiös bedingten Auflehnung gegen eine ungerechte und unzulängliche Gesellschaftsordnung entspringe – und erst in dieser Interpretation wird die Kontinuität in Jesse Thoors unnachahmlichem, zeitlos aktuellen Werk deutlich.

Wer sitzt unter den Zweigen,
kommt die Sonne gerollt;
und will uns zeigen
Silber und Gold?

Einer, der schweigt
aus vielen Weiten.
Einer, der sich verneigt
nach allen Seiten.

Einer, der den Wind treibt.
Der bläst lang und breit.
Und einer, der aufschreibt
unser Herzeleid.

Ein besonderes Beispiel für die außergewöhnliche künstlerische Wahrhaftigkeit Jesse Thoors ist seine gerade in späteren Jahren immer wieder angewandte Praxis bei der unablässigen, nimmermüden Überarbeitung seiner Gedichte, selbst als „unsagbar“ Wahrgenommenes oder Erfahrenes im Kern seiner poetischen Aussage nicht weiter in konkrete Worte zu fassen, sondern dem Numinosen mittels Auslassungszeichen dennoch wesentlichen, direkt sichtbaren Raum innerhalb des jeweiligen Versmaßes zu geben, so etwa in seinem Gedicht „Die Erde singt“:

– – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – –

Da fiel der Regen über meine Hand.
Da waren Gras und Blätter mein Gewand.

Da brach ein Licht aus allen Seiten.
Da sah ich einen Schatten gleiten.

Da liefen Rosse über meine Stufen.
Da hörte ich einen Vogel rufen.

Da kam ein großer Wagen gefahren.
Da schien die Sonne in meinen Haaren.

Der prophetisch-visionäre Grundton in vielen von Jesse Thoors Werken, der den Leser angesichts dessen urtümlicher Sprachgewalt unwillkürlich an biblische Psalmendichtungen denken lässt, nun befreit allerdings von jeglicher Last religiöser Dogmen, stellt seine vollkommen eigenständige Dichtung nicht nur in eine eindrucksvolle, uralte poetische Tradition, die vom „revolutionären“ Kern von Juden- und Christentum bis hin zum modernen Kommunismus und letztlich über dessen Überwindung hinaus reicht, sondern macht seine unvergesslichen, beharrlichen Verse auch jedem Leser auf intuitive Art und Weise unmittelbar zugänglich, wenn auch aus unserer aktuellen Sicht die freieren Gedichte der späteren Jahre zeitgemäßer erscheinen als die strenge, virtuos beherrschte Sonettform.

Wir wollen nicht gelobt werden, sondern wir wollen gelesen sein. [...] Menschen mit schönem Weltgefühl und tiefen Gedanken hatten es nie leicht; dies einzugestehen wäre schon viel. Wir würden nämlich in gleicher Weise zum Wohle aller zweierlei vollbringen: die Eisamkeit unserer Besten erträglich machen; das Gefühl der eigenen Verlassenheit mildern.

Die schöne, von Michael Lentz fertiggestellte und einfühlsam kommentierte neue Ausgabe sämtlicher Werke Jesse Thoors, die neben den bisher bekannten, bereits in früheren Ausgaben veröffentlichten Gedichten, auch bisher noch nicht publizierte oder vom Autor bewusst verworfene Werke sowie zahlreiche aufschlussreiche Briefe und dreizehn Kurzgeschichten enthält, zeigt den virtuosen Dichter als einen der großen Lyriker deutscher Sprache des schrecklichen Zwanzigsten Jahrhunderts, möglicherweise sogar als den größten unter all jenen, denen bisher aufgrund der grausamen Zeitumstände eine größere Öffentlichkeit verwehrt geblieben ist. Eine Neu- und Wiederentdeckung Jesse Thoors war zweifellos lange überfällig – dass diese nun von zwei gleichermaßen profilierten Lyrikern und kompetenten Literaturkritikern wie Michael Hamburger und Michael Lentz eingeleitet wird, ist ein besonders schöner Nebeneffekt dieser verdienstvollen Ausgabe.

„Jesse Thoor – Das Werk“, erschienen bei Wallstein, 468 Seiten, € 24,-


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