Jerusalem

Jerusalem

Donnerstag, 28. August 2014

„Selma Merbaum – Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben“ von Marion Tauschwitz

Es hat immer auch einen unbestreitbar zweifelhaften Anstrich des Taktlosen, wenn Protagonisten des akademischen Betriebs im Rahmen einer öffentlich zugänglichen wissenschaftlichen Arbeit indiskreterweise tief in das Privatleben einer verstorbenen Künstlerpersönlichkeit eindringen, die keinerlei rechtliche Handhabe mehr besitzt, dieser mutmaßlich gut gemeinten und in der Tat oft nützlichen Unternehmung im Dienste der interessierten Öffenlichkeit zu widersprechen. Im Falle der von den Nationalsozialisten tragischerweise im jugendlichen Alter von nur achtzehn Jahren sinnlos ermordeten, zum Zeitpunkt ihres Todes jedoch künstlerisch bereits erstaunlich ausgereiften deutschsprachigen Lyrikerin Selma Merbaum (1924-1942) aus dem heute in hohem Maße mythisch verklärten, einstmals blühenden multikulturellen Habsburgerstädtchen Czernowitz in der Bukowina (heute Ukraine) kommt zu dem offensichtlichen literaturwissenschaftlichen Interesse noch der gute und nützliche historische Wille zur lückenlosen Dokumentation exemplarischer Lebensgeschichten der Opfer der Schoah.



Das unglückliche Zusammentreffen dieser beiden unterschiedlichen Interessenlagen macht es dem heutigen Leser jedoch nahezu unmöglich, das eigentümliche und in hohem Maße charakteristische erhaltene Werk der jungen Dichterin unvoreingenommen und vor allem ihrem eigentlichen künstlerischen Wert nach angemessen zu beurteilen, da hinter jedem allzu begeisterten Urteil immer auch der unausgesprochene Verdacht lauert, dabei unbewusst oder auf sentimentale Art und Weise von den tragischen Umständen eines sinnlos vergeudeten hoffnungsvollen Lebens und vielversprechenden literarischen Talents beeinflusst worden zu sein, das aufgund der Zeitumstände auf brutalstmögliche Art und Weise daran gehindert wurde, jemals zur vollen Blüte zu gelangen. Denn hierin liegt das wesentliche Verbrechen der Nationalsozialisten: im millionenfachen Verhindern des natürlichen Rechts auf ein freies, selbstbestimmtes Leben, so banal und friedlich es sich unter Umständen auch zu sein träumt.


Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und haßen
und möchte den Himmel mit Händen faßen
und möchte frei sein und atmen und schrei'n


Es gibt indes gute Gründe, warum der erste und einzige Gedichtband der jungen Selma Merbaum seit seiner Erstveröffentlichung als Privatdruck in Israel im Jahre 1976 bis heute ein so breites und nachhaltiges Interesse in der ganzen Welt hervorzurufen vermocht hat: sogar Herbert Grönemeyer interpretierte vor einigen Jahren deren Gedicht „Trauer“ auf einer CD des Schweizer The World Quintet. Trotz einer bei ihr stets im Vordergrund stehenden schwärmerisch-verspielten und offenbar vor allem aufgrund des jungen Alters der Dichterin unerfüllt gebliebenen allumfassenden Sehnsucht nach einem mit allen Sinnen und bei vollem Bewusstsein gelebten Leben bleibt selbst noch in den ausuferndsten Versen und Reimen stets ein bemerkenswerter, kaum zu übersehender poetischer Kern von hoher Originalität und Aussagekraft präsent, mit dem allein sich weit weniger begabte Lyriker voll und ganz zufrieden geben dürften. Überdies sind Selma Merbaums Gedichte aufgrund ihrer virtuosen und hoch musikalischen Reime sowie ihrer im intensiven persönlichen Naturerlebnis präzise geformten Metaphorik für den Liebhaber klassischer Lyrik besonders leicht zugänglich.


Und die eine [Kastanie] hier in meiner Hand,
ist nicht braun und glänzend wie die andern
sie ist matt und schläfrig wie der Sand,
der mit ihr durch meine Finger rollt.
Langsam, Schritt für Schritt, wie ungewollt
laß ich meine Füße weiter wandern.


Die langjährige Vertraute und allerseits anerkannte Biographin der deutsch-jüdischen Lyrikerin Hilde Domin (1909-2006), Marion Tauschwitz, hat sich in langjähriger gewissenhafter Reche der ebenso mühseligen wie verdienstvollen selbstgestellten Aufgabe gewidmet, anhand historischer Fakten und Zeitzeugenberichten sowie gut dokumentierter Aussagen von überlebenden Weggefährten, Freunden und Bekannten der ermordeten Dichterin eine nahezu lückenlose, ausführliche literarische Lebensbeschreibung von Selma Merbaum zu erarbeiten, die mit ihrem umfangreichen, akribisch zusammengestellten Anhang nicht nur wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, sondern auch dem unvorbelasteten, lediglich am tragischen Schicksal der talentierten Kusine von Paul Celan interessiertem Leser eine ausgesprochen faktenreiche und fesselnde, mitunter erschütternde Lektüre bietet.


Historische Postkarte von Czernowitz, ca. 1910

Dabei kam der Autorin ohne Zweifel die nützliche Tatsache entgegen, dass der überschaubare, ausgesprochen homogene deutschsprachige jüdische Mikrokosmos des Fünfzigtausend-Einwohner-Städtchens Czernowitz mit seinen zahlreichen gut ausgebildeten und zumindest weitläufig miteinander bekannten Protagonisten, von denen viele nach dem Krieg schriftlich oder sogar literarisch Zeugnis über ihre Verfolgung ablegten, aufgrund der gemeinsamen Sprache vergleichsweise leicht zu dokumentieren war. Neben der Prüfung zahlreicher schriftlicher Quellen suchte Marion Tauschwitz aber über einen beeindruckenden Zeitraum von über zwanzig Jahren immer wieder auch das persönliche Gespräch mit überlebenden Zeitzeugen, so etwa mit zwei Jugendfreundinnen Selma Merbaums, den in Israel lebenden Ilana (Liane) Shmueli und Margit Bartfeld-Feller, die zahlreiche bisher unbekannte und wertvolle Details beitragen konnten.


[…] packt dich und hält dich und sprudelt dich an
Sturzflut erfaßt dich und rast mir dir fort –
was kein Wildbach, kein Wirbel, kein Hochwaßer kann
hat dies Atmen vieltausende Mal schon getan [...]


Eines der unspektakulärsten, jedoch gleichzeitig auch wichtigsten grundsätzlichen Resultate der Recherchearbeit von Marion Tauschwitz ist eine durch sorgfältige Prüfung der erhalten gebliebenen offiziellen Registereinträge sowie durch Schul- und Deportationslisten eindeutig zu belegende, endgültige Klärung der Namensverhältnisse der jungen Dichterin: während bisherige Veröffentlichungen von „Meerbaum“ oder „Meerbaum-Eisinger“ (nach dem Stiefvaternamen) ausgingen, ist nun zweifelsfrei die endgültige Lesart „Merbaum“ bestätigt – eine andere Schreibweise tauchte in offiziellen Dokumenten offenbar niemals auf. Erstaunlich, wie Selma Merbaums leiblicher Vater, ein Schuh-Einzelhändler aus ärmlichen Verhältnissen, der an Tuberkulose starb, als seine Tochter gerade erst ein Jahr alt war, durch eine grundsätzliche Entscheidung unbewusst den Keim für Selmas Liebe zur deutschen Sprache legte, als er sich nämlich nach dem Ersten Weltkrieg für ein Leben in der deutschsprachigen Lokalmetropole Czernowitz entschied, weil er sich in der deutschen Sprache heimischer fühlte als im Rumänischen, Polnischen oder Jiddischen.


Selma Merbaum

Sprecht Rumänisch! Auf Korridoren und in Klassenzimmern forderten überdimensionale Plakate die Einhaltung des Gebots ein. Eigens dafür eingestelltes Personal patrouillierte während der Pausen mit kleinen Reitgerten durch die Gänge, um notfalls mit Gewalt durchzusetzen, was das Wort nicht erreicht hatte. Mit Fantasie und Einfallsreichtum schafften die Mädchen sich kleine Fluchten und übertölpelten die Kontrolleure: Sie hängten deutschen Wörtern kurzerhand rumänische Endungen an und hatten eine Sprache, die nur sie verstanden.

Hier lernte Max Merbaum schon bald seine spätere Frau Frieda Schrager kennen. Da das Schuhgeschäft, das Max gemeinsam mit seinem Bruder Josef aufgebaut hatte, auch nach seinem frühen Tod und dem Eintritt seiner Witwe in die Geschäftsführung bescheidene Gewinne abwarf und sein wohlhabender, stets hilfreicher Cousin Abraham Merbaum eine florierende Großmolkerei im Ort betrieb, war Selma unter den komfortablen Bedingungen des reichen kulturellen Lebens von Czernowitz trotz der Juden gegenüber zunehmend feindlichen und diskriminierenden Kulturpolitik der rumänischen Administration nicht nur eine unbeschwerte Kindheit, sondern auch müheloser natürlicher Zugang zu höherer Bildung gemäß ihren lebhaften künstlerischen und unter dem Eindruck zunehmender Ausgrenzung erwachenden politischen Interessen vergönnt: Selma war mit ihren engsten Freundinnen und Freunden im linkszionistischen Hashomer Hazair organisiert und begrüßte den Einmarsch der Sowjetarme am 28. Juni 1940 ausdrücklich und mit idealistischer Begeisterung.


Und plötzlich ist das Grün der Bäume neu
und ein Geruch wie von ganz frischem Heu,
schlägt dir in dein Gesicht, das, heiß und blaß,
auf diesen Regen wohl gewartet hat.


In diese Zeit des schwärmerischen und leider unbegründeten Optimismus, der schon bald umfassender Ernüchterung weichen sollte, fällt auch Selmas produktivste Zeit als Dichterin: die meisten ihrer ebenfalls vollständig im Anhang des Buches enthaltenen Gedichte datieren aus den Jahren 1940 und 1941. Obwohl sie – wie wir erfahren – ein selbstbewusstes, beharrliches und politisch engagiertes junges Mädchen gewesen zu sein scheint, müssen ihre Gedichte eher als dankbar-virtuoses Hilfsmittel einer umfassenden persönlichen Standortbestimmung als menschliches Individuum und als langsam zu ihrer ureigenen Weiblichkeit erwachenden Frau betrachtet werden denn als geeignetes Instrument zu einer bewussten politischen Auseinandersetzung mit der Realität mit literarischen Mitteln. Beim Betrachten der erhalten gebliebenen Fotos fällt eine geradezu überwältigende Ähnlichkeit zu Anne Frank auf, deren Empfindsamkeit, frisch erwachende Sexualität und Urteilskraft sie auf geradezu seelenverwandte Art und Weise geteilt zu haben scheint.

Schau mich doch an. Ist wohl mein Bild noch da in deinem fernen Blick? Ich will dich, wie die Traube will, daß man sie, wenn sie reif ist, pflückt.


Zentralplatz in Czernowitz/Чернівці heute

Mit dem überstürzten Abzug der Sowjetarmee infolge des kriegseröffnenden deutschen Angriffes am 22. Juni 1941 („Unternehmen Barbarossa“) fiel Czernowitz erneut unter die Herrschaft des mit Nazi-Deutschland eng verbündeten Rumänien, das die jüdische Stadtbevölkerung nach blutigen Pogromen unverzüglich in ein im ehemaligen jüdischen Stadtviertel neu geschaffenes Ghetto zwang. Die Deportationen in die dem rumänischen Staatsgebiet neu zugefallene karge und dünn besiedelte ukrainische Enklave „Transnistrien“ jenseits des Bug erfolgten etwa ein Jahr später innerhalb von drei Wochen. Selma und ihre Familie landeten zunächst in einem nicht näher bezeichneten ehemaligen Steinbruch („Cariera de piatră“), in dem sie – immerhin ohne Zwangsarbeit verrichten zu müssen – unter unwürdigen Zuständen, aber in der relativen Sicherheit rumänischer Oberhoheit, nahezu ohne Essen und Trinken tatenlos in der brütenden Sommerhitze dahinvegetieren mussten.

Rena Tatanca, es ist so heiß hier, daß ich zu faul bin die Augen zu schließen, daß ich nicht imstande bin den Bleistift zu halten u. es mir schwer fällt einen Gedanken durch mein Hirn zu wälzen. Trotzdem will ich Dir schreiben. Eigentlich weiß ich ja nicht einmal ob ich Gelegenheit haben werde diesen Zettel zu befördern – macht nichts. Jetzt wenigstens kommt es mir vor, daß du bei mir sitzt, daß ich nach fast einem Jahr wieder mit dir sprechen kann. […] Es ist mir, als ob alle meine künftigen Tage in eine feste Masse zusammenfrieren u. sich für immer schwer auf meine Brust legen wollten. […] Natürlich hält man es auch so aus. Man hält es aus, trotzdem man immer wieder meint: jetzt, jetzt ist es zuviel. Jetzt halte ich nicht mehr durch. Jetzt breche ich zusammen.

Arnold Daghani: "At the Gate of the Jews' Camp", 1942

Als drei Monate später ein SS-Trupp anrückte und den physisch und psychisch bereits erheblich zerrütteten Häftlingen Arbeit auf deutsch-besetztem Gebiet beim Straßenbau anbot, gaben sich viele Freiwillige zum Zorn des rumänischen Lagerleiters der ebenso naiven wie gefährlichen Illusion hin, es würde ihnen dort möglicherweise besser gehen: „Wer Arbeit anbietet, muss auch für angemessene Verpflegung sorgen“. Aber nicht nur die unseligen Freiwilligen wurden wenig später von den Deutschen ins Zwangsarbeiterlager Michailowka deportiert, sondern der überwiegende Teil aller bis dahin noch im Steinbruch verbliebenen Häftlinge. Die Lebensbedingungen in Michailowka waren erheblich grausamer – spontane Erschießungen, Prügelattacken und Massenhinrichtungen waren an der Tagesordnung, die Arbeit hart und die Verpflegung ebenso karg wie im Steinbruch. Bis zum frühen Wintereinbruch hatte Selma mit Hilfe eines nicht näher identifizierbaren Aufsehers noch konkrete Fluchtpläne geschmiedet, einer zweiten Typhusepidemie im überfüllten Lager erlag sie schließlich nach wochenlangem mutigen Kampf.

Sie schleppte sich trotz ihrer Schwäche weiter zum Arbeitseinsatz. Statt Steineklopfen in den Kiesgruben war mittlerweile Schneeschaufeln befohlen worden. […] Eine Knochenarbeit. Fast vierzehn Tage lang war es Selma mit Hilfe der anderen gelungen, ihre Krankheit vor den Wachen zu verbergen. Doch ihre Kräfte schwanden von Tag zu Tag. Am 16. Dezember [1942] flammten Diskussionen unter den Häftlingen auf. Neue Gerüchte kursierten und schürten sofort wieder Hoffnung. […] Für Selma nicht mehr. Seit dem Nachmittag war aus ihrer Koje in der dritten Etage ihr zarter Gesang zu hören. Sie sang sich aus dem Leben. Sie entträumte sich der Wirklichkeit. Am Abend verstummte Selma für immer.

Arnold Daghani: "Der Tod von Selma Meerbaum-Eisinger", 1943

Marion Tauschwitz' atemlos zu lesende, erschütternde Biographie ist eine gleichermaßen dankbare Lektüre für alle interessierten Leser, die lediglich auf allgemein Art und Weise an exemplarischen Lebenswegen der Schoah interessiert sind, wie auch für jene, die möglicherweise die einprägsamen Gedichte Selma Merbaums bereits kennengelernt haben und aus dieser literarischen Begegnung heraus den Wunsch verspüren, mehr über die begabte junge Frau zu erfahren, der von den Nationalsozialisten so überaus grausam jede Chance genommen wurde, ihr bemerkenwertes Talent zur vollen Blüte zu bringen. In der sorgfältigen Beschreibung ihres allzu kurzen, aber bereits erstaunlich entschiedenen Lebenswegs bleibt die emsige und mitfühlende Autorin stets auch dicht an Selmas eigenen Texten, die sie – ohne sie groß ausdeuten zu müssen – bei jeder passenden Gelegenheit namentlich zitiert, um das Lebensgefühl ihrer Protagonistin noch exakter und treuer wiedergeben zu können.


Das ist das Schwerste: sich verschenken
und wißen, daß man überflüßig ist,
sich ganz zu geben und zu denken
daß man wie Rauch ins Nichts verfließt.


Manche besonders intensive Gedichte Selma Merbaums sind von verschiedener Seite immer wieder auch als prophetische Vorwegnahme ihres ausweglosen Schicksals interpretiert worden. Gerade Marion Tauschwitz' verdienstvolle Biographie zeigt aber mit absolut unmissverständlicher Deutlichkeit, dass es sich wohl weniger um konkrete Ahnungen gehandelt zu haben scheint als vielmehr um die bereits immer wieder deutlich durchbrechende universelle literarische Aussagekraft einer überaus talentierten, ebenso einfühlsamen wie geistig reflektierten jungen Frau, die aus tief empfundener innerer Notwendigkeit bereits erste unbequeme Schritte auf dem unabhängigen Weg einer Schriftstellerin und Dichterin absolviert hatte und etwa dem gemeinsam mit ihr internierten Maler Arnold Daghani noch Wochen vor ihrem allzu frühen Tod in einer lebhaften Diskussion vorwarf, seine künstlerische Dokumentation des Lagerlebens sei nicht entschieden und voreingenommen genug. Das strahlende Beispiel der urtümlichen, unbeugsamen Persönlichkeit Selma Merbaums, das uns Marion Tauschwitz in ihrer beachtlichen biographischen Fleißarbeit vorlegt, überwiegt bei weitem nahezu jeden möglichen Vorbehalt gegenüber diesem Projekt.

„Selma Merbaum – Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben“, mit einem Vorwort von iris Berben, erschienen bei zu Klampen, 349 Seiten, € 28,-


Montag, 25. August 2014

„Als Paula den Löwen vor Oma versteckte“ von Helen Stephens

Es gibt Dinge im Leben, die man selbst noch im Erwachsenenalter unbewusst als so bedrohlich für sich selbst oder für andere empfindet, dass man sie vorsorglich lieber vor fremden Blicken verstecken möchte und meint, selbst mit seinen engsten Vertrauten niemals offen darüber reden zu können. Dabei sind viele dieser Erscheinungen, egal ob es sich dabei um reale Ausprägungen des täglichen Lebens oder um scheinbar ungreifbare Phänomene des menschlichen Geistes handelt, objektiv und von außen betrachtet gar nicht so furchterregend, wie sie uns zunächst erscheinen; aber die individuelle Art und Gestalt dieser uns allen vertrauten kleinen Geheimnisse vermag uns zweifellos viel über uns und unsere jeweiligen Persönlichkeitsmuster zu verraten.


Paula ist ein denkbar fröhliches, selbstbewusstes kleines Mädchen, das sich vor nichts und niemandem fürchtet, nicht einmal vor dem riesigen Löwen, der eines Tages gemächlichen Schrittes in die Stadt spaziert kommt, um sich einen dieser fantastischen neuen Hüte zu kaufen. Schwer zu sagen, wessen Furcht im ersten Moment des Erkennens größer ist: die der Menschen vor dem arglos-friedlichen Löwen oder die des Löwen vor der hysterisch-entfesselten Menge. Auf seiner panikartigen Flucht gerät der verängstigte König der Tiere schließlich in den Garten der mutigen kleinen Paula, die ihn wie selbstverständlich in ihrem Kinderzimmer versteckt – was bei einem Raubtier dieser Größe gar nicht so leicht ist, da er weder hinter das Sofa noch unters Bett oder hinter die angelehnte Tür passt.

In Helen Stephens wunderbarem ersten Bilderbuch „Wie man einen Löwen versteckt“ (2012) haben wir auf spielerisch-umsichtige Art und Weise bereits einen wesentlichen Grund für das beinahe alltägliche Mysterium erfahren, warum wir entgegen jeder menschlichen Vernunft immer wieder bereit sind, unsere persönliche Integrität aufs Spiel zu setzen, um absolut Offensichtliches vor anderen Menschen zu verbergen: nämlich aus liebevoller Rücksichtnahme – weil wir meinen, unsere Liebsten so vor einer vermeintlichen Gefahr oder einer möglicherweise traumatischen Erkenntnis bewahren zu können. In Paulas speziellem Fall wirkt das ebenso rührend wie mutig. Tatsächlich aber sind ihre Eltern ebenso entsetzt wie die übrigen Bürger der Stadt, als sie den gutmütigen Löwen entdecken, der erst ganz am Ende des Buches zum allseits umjubelten Helden wird.



In ihrem soeben erschienenen, jedoch auch jederzeit unabhängig vom ersten Teil mit großem Gewinn zu lesenden Fortsetzungsband „Als Paula den Löwen vor Oma versteckte“ gelingt es es der gewitzten schottischen Illustratorin auf äußerst moderate Art und Weise, das Thema ihres ersten Buches nicht nur in der konkret sichtbaren äußeren Handlung mit viel Fantasie und Humor fortzuführen, sondern auch den bemerkenswerten inneren Gehalt ihrer Geschichte auf überaus treffende und auch für Kinder unmittelbar zugängliche Art und Weise noch weiter auszuarbeiten und zu konkretisieren. Denn auch wenn sich Paulas Eltern mittlerweile mit der Existenz eines kapitalen Wildtiers in ihrer Wohnung abgefunden zu haben scheinen – der fürs Wochenende als Babysitter anreisenden Oma möchten sie diese unbequeme und möglicherweise Furcht auslösende Tatsache doch gerne verschweigen.

Es stellt sich allerdings schon bald heraus, dass ihre Sorge vollkommen unbegründet ist, da die stark kurzsichtige Oma die Existenz des Löwen gar nicht zu bemerken scheint: Sie hält ihn abwechselnd für einen Lampenständer, ein weiches Handtuch oder ein bequemes Sofa – oder tut sie in Wirklichkeit nur so und übt im eigenen vermeintlichen Nichterkennen bereits ihrerseits zärtliche Rücksichtnahme? Der neugierigen Paula indes bereitet schon bald der überdimensionale Koffer ihrer Großmutter Kopfzerbrechen, den die Eltern vor ihrer Abreise nur unter größter körperlicher Anstrengung durchs Treppenhaus in die Wohnung zu schleppen vermocht hatten. Warum antwortet Oma ihr immer nur ausweichend, wenn sie nach dessen Inhalt fragt? Und wieso müssen sie im Supermarkt all diese Großpackungen Milch, Honig und Thunfisch kaufen? Als dann in der ersten Nacht laute, unter keinen Umständen ignorierbare Schmatz- und Rülpsgeräusche aus dem Zimmer der Oma dringen, deutet sich schließlich an, dass auch diese möglicherweise ein kaum zu leugnendes ganz persönliches Geheimnis haben könnte...

Helen Stephens

„Als Paula den Löwen vor Oma versteckte“ ist ein wunderbar farbenfroh gezeichnetes, ebenso intelligentes wie poetisches Bilderbuch, das Kindern ab drei Jahren mit viel Humor auf entwaffnend-einfache Art und Weise kongenial zu vermitteln versteht, dass nahezu jeder Mensch kleine Geheimnisse haben darf, dass es mitunter aber nicht unbedingt sinnvoll ist, diese auch um jeden Preis zu bewahren, weil sie in ihrer innersten Natur entweder gar nicht so furchtbar sind, wie sie aus bestimmter Perspektive auf den ersten Blick zu sein scheinen – aber auch, weil man gerade jenen Menschen, die einem am allernächsten stehen, sehr viel mehr zumuten kann, als einem oft bewusst ist. Und vielleicht braucht man gerade für diese wesentliche Erfahrung noch den urtümlich-naiven Mut des Kindes.

„Als Paula den Löwen vor Oma versteckte“, aus dem Englischen von Seraina Staub, erschienen bei Atlantis, 36 Seiten, € 14,95

Donnerstag, 21. August 2014

„Zwei Herren am Strand“ von Michael Köhlmeier

Zwei der berühmtesten Persönlichkeiten ihrer Zeit, die in ihrem Charakter, ihrer sozialen Herkunft und politischen Einstellung kaum unterschiedlicher hätten sein können, treffen in Michael Köhlmeiers neuem großen Roman im Schatten einer noblen Hollywood-Party vollkommen unverhofft aufeinander, um bis zum Ende ihres Lebens die unwahrscheinlichsten und engsten Freunde zu werden sowie einander immer wieder in ihrem gemeinsamen, stets wiederkehrenden psychiatrischen Krankheitsbild aufs Zärtlichste und Rührendste gegenseitig zu unterstützen: Winston Churchill (1874-1965), Literaturnobelpreisträger des Jahres 1954 (für sein historisches Werk) und als britischer Premierminister der Kriegszeit der wohl bedeutendste britische Staatsmann des Zwanzigsten Jahrhunderts, und Charlie Chaplin (1889-1977), das Universalgenie des frühen amerikanischen Films, das selbst noch in der von ihm ausgesprochen skeptisch beäugten allmählich heraufdämmernden Ära des Tonfilms ein unerreichter Meister wortlos dargebotener poetischer Weltdurchdringung blieb.


In seinem späten ersten Tonfilm „Der große Diktator“ (1940), dessen Produktion und Veröffentlichung nicht nur Nazi-Deutschland, sondern auch konservative Kreise innerhalb der US-amerikanischen Politik teils mit den verschlagenen Mitteln subtiler psychischer Einschüchterung, teils aber auch auf offene, schamlos-brutale Art und Weise bereits im Vorfeld zu verhindern versuchten, porträtiert Charlie Chaplin in Gestalt des ebenso lächerlichen wie beängstigenden Hitler-Verschnitts Hynkel nicht nur den personifizierten Menschenfeind des Zwanzigsten Jahrhunderts per se, sondern auch den einzigen öffentlich sichtbaren der beiden gemeinsam erklärten Feinde des ungleichen Freundespaars. Michael Köhlmeier lenkt unsere Aufmerksamkeit nun aber vor allem auf einen unsichtbaren und für die beiden kaum weniger furchterregenden Feind, den sie laut aktueller Statistik zumindest vorübergehend allein in Deutschland mit mehr als sechzehn Millionen Menschen teilen: den „schwarzen Hund“ der Depression, wie der englische Dichter Samuel Johnson „diesen Bastard aus fehlgeleiteten Impulsen und verpanschter Gehirnchemie“ genannt hat.

Ich verstehe es, Winston“, sagte Chaplin. „Wenn er da ist, der schwarze Hund, dann...“, es sei ihm nichts anderes eingefallen als: „... dann... ist es schlimm, Winston, habe ich Recht?“ Es seien ihm eben keine eleganteren Worte eingefallen, erzählte er Josef Melzer. Aber er habe noch niemand kennengelernt, dem zu diesem Thema ein elegantes Wort eingefallen wäre.

Als sich Chaplin und Churchill während einer der zahlreichen legendären Partys in der Villa von Mary Pickford und Douglas Fairbanks in Santa Monica zum ersten Mal persönlich begegnen, durchläuft der weltberühmte Stummfilmstar gerade einen äußerst schmerzhaften, von den skrupellosen Anwälten seiner Noch-Ehefrau mit schmutzigsten Mitteln öffentlich ausgetragenen Scheidungsprozess – es ist sein erster, sich von ihm selbst nur äußerst zögerlich zugestandener öffentlicher Auftritt seit langem. Der zu dieser Zeit aufgrund massiver Anfeindungen im „inneren Exil“ befindliche Politiker trifft ihn abseits und allein im Schatten der Veranda an und schlägt ihm einen gemeinsamen Strandspaziergang vor, den Chaplin gern annimmt, um der lärmenden, ihm vermeintlicherweise feindlich gesonnenen Partygesellschaft zu entkommen. In der Anonymität des nächtlichen Strandes finden die beiden Gesprächspartner schnell zu einer allumfassenden Offenheit und einem sensationell-vertraulichen Ton, den Michael Köhlmeier mit großartigem Einfühlungsvermögen und bemerkenswerter künstlerischer Rücknahme einzufangen versteht.

Tatsächlich gelang es ihnen, über sich selbst und eine mögliche Selbstauslöschung zu sprechen, als würde über eine dritte Person verhandelt, die nicht anwesend war und deren Gedanken und Schicksal nicht mehr ihr wissenschaftliches oder ästhetisches Interesse weckte, als dass Mitleid für sie empfunden wurde. [...] Chaplin brachte ihre Gesprächshaltung auf die Formel: „Nüchtern bis zur Erleuchtung“. Diese Gespräche waren oft lustig, sehr lustig. Aber sie waren nicht lustig gemeint. Manchmal trugen sie Früchte: Die Szene aus „City Lights“, in der sich der reiche Mann eine Schlinge eines Seils um den Hals legt, dessen Ende an einem schweren Stein befestigt ist, den er ins Wasser stoßen will, wovon ihn der Tramp verzweifelt abzuhalten versucht, was damit endet, dass der Tramp selbst ins Wasser fällt – diese Szene hatten sie sich gemeinsam ausgedacht, da kannten sie einander gerade einmal ein paar Stunden.

Churchill und Chaplin in Hollywood, 1929

Beide, so stellt sich heraus, hatten jeweils schon im Alter von sechs Jahren erstmals konkrete Suizidgedanken. Beide werden trotz ihres unbestreitbaren beruflichen und privaten Erfolgs in tückisch-unregelmäßigen Abständen immer wieder unvermittelt für längere Zeitabschnitte vom „schwarzen Hund“ angefallen, und beide haben bemerkenswerte individuelle Methoden entwickelt, mit ihrer Krankheit umzugehen. Während Churchill mit großem künstlerischen Geschick und zunehmender Meisterschaft vorwiegend menschenleere Naturlandschaften malt, hat Chaplin die bewährte „Methode des Clowns“ seines berühmten Kollegen und Leidensgenossen Buster Keaton übernommen: er liegt nackt auf einem überdimensionalem Blatt Papier, das er, sich selbst fortlaufend im Uhrzeigersinn drehend, in assoziativer Art und Weise beschreibt. In einer ganz besonders dunklen Phase bedient er sich einer achttägigen „Heroinkur“. Und als Churchill nach Hitlers Überfall auf Polen zum Ersten Lord der Admiralität bestellt und 1940 zum Premierminister gewählt wird, engagiert er einen in höchstem Maße „privaten“ Privatsekretär, dessen wichtigster und geheimster Auftrag es künftig sein soll, seinen rastlosen Arbeitgeber vom Selbstmord abzuhalten.

Der private Privatsekretär hatte keine Korrespondenzen zu erledigen, er hatte keinen Terminkalender zu führen, er sollte keine Telefonate annehmen, bei Unterredungen des Premierministers musste er nicht unbedingt anwesend sein. Wenn ihn einer fragte, was eigentlich genau seine Aufgabe sei, sollte er sagen: „Alles.“ Sollte er den Ton drastisch verschärfen und fragen: „Und Sie? Wer sind Sie, dass Sie eine solche Frage stellen? Was ist Ihr Interesse? Wer hat Sie dazu angehalten? Ich werde Sie melden müssen.“

Michael Köhlmeier skizziert mit nur einigen wenigen unnachahmlich-virtuosen, angesichts seiner letzten großen epochalen Romane „Abendland“ und „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ jedoch ungewohnt knappen, aber äußerst präzisen und höchst treffenden exemplarischen Szenen das familiäre und gesellschaftliche Umfeld sowie die persönlichen Motive und politischen bzw. künstlerischen Visionen seiner beiden großartigen Protagonisten. Mit rührender, geradezu zärtlicher Akribie schildert er etwa aus der Perspektive von Churchills Ehefrau deren furchtbare Virtuosität im Vermögen körperliche Anzeichen einer beginnenden depressiven Phase ihres Mannes zu deuten. Aber auch in diesem neuen, vollkommen zu Recht für den Deutschen Buchpreis 2014 nominierten Roman erweist sich Michael Köhlmeier vor allem als großer Chronist der zahlreichen widersprüchlichen Motive und Irrwege des Zwanzigsten Jahrhunderts.

Sie achtete auf den Rhythmus und die syntaktischen Muster seiner Rede, achtete auf die eigentümlichen Tonarten der Selbsterregung, die am verlässlichsten Auskunft gaben, ob der Mann gern in seiner Haut steckte oder nicht. Auch Gestik und Mimik verrieten viel. Wie der Mann ging. Der Winkel des Nackens. Die Krümmung des Rückens. Ob er die Füße genügend hob, um nicht zu schlurfen, oder ob er schlurfte. Glanz oder Mattheit der Fingernägel. Ob der Gürtel des Hausmantels gewunden oder geknotet war, oder ob die Enden nachschleiften. - Clementine war es gewohnt, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht jede Lebensäußerung ihres Mannes zu prüfen und, wenn nötig, Vorkehrungen zu treffen. Hingegen: Wenn das für Fleckigkeit und Verschiedenfarbigkeit anfällige Gesicht ebenmäßig weiß war und über längere Zeit blieb, konnte das bedeuten, dass der Hund den Zwinger aufgebrochen hatte.


Michael Köhlmeier, 2008


Hier dürfen wir durch die lebenserfahren-einfühlsame Kunst des Autors zwei wesentliche Protagonisten der Weltgeschichte nicht nur aus vollkommen neuer Perspektive als gewissermaßen „vollständige“ Menschen im ganzheitlichen Sinne erleben, sondern müssen auch erneut mit erschütternder Machtlosigkeit anerkennen, wie das menschliche Individuum in bestimmten Situationen seines Lebens unweigerlich politisch Stellung beziehen muss, sofern es nicht zum machtlosen Spielball fremder, äußerer Interessen werden will; wie sehr der Einzelne aber auch aus dieser ihm ungewollt aufgezwungenen oder aus innerer Einsicht und freiem Willen selbst gewonnenen Positionierung Kraft zu schöpfen und jegliche äußeren oder inneren Widerstände zu überwinden vermag. In diesem Sinne ist „Zwei Herren am Strand“ auch eine allumfassende, zutiefst beeindruckende menschliche Würdigung der Lebensleistung zweier in höchstem Maße origineller Menschen, die beinahe lebenslang mit dem unberechenbaren „schwarzen Hund“ der Depression ringen mussten und wohl selbst am allerwenigsten daran geglaubt haben, dass sie einstmals nach einem langen erfüllten Leben friedlich im Schlaf sterben würden.

„Zwei Herren am Strand“, erschienen bei Hanser, 254 Seiten, € 17,90

Dienstag, 12. August 2014

„Wörterbuch einer verlorenen Welt“ von Alba Arikha

Eine der meistzitierten und treffendsten poetischen Vergegenwärtigungen eigener Kindheit und Jugendzeit stammt aus dem fünften Kapitel von Friedrich Hölderlins sperrig-genialem Briefroman „Hyperion“: „Ruhe der Kindheit! himmlische Ruhe! wie oft steh ich stille vor dir in liebender Betrachtung, und möchte dich denken!“ – Besonders kennzeichnend für die charakterliche Entwicklung des Menschen im Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein ist in aller Regel der in der persönlichen Rückschau besonders schmerzliche Verlust der natürlichen Fähigkeit radikaler Gegenwärtigkeit und einer ganz dem Erleben des jeweiligen Augenblicks gewidmeter konzentriertester Wachheit, die trotz ihres grundsätzlich spielerischen Charakters dennoch gerade aus ihrer aufmerksamen Beobachtungsgabe heraus höchst präzise Schlussfolgerungen zu ziehen vermag, welche der vom erlernten Denken geprägten Wahrnehmung des Erwachsenen oftmals entgehen. Hölderlins Aufforderung, die eigene Kindheit zu denken, kann somit nur der erste Schritt zur einer grundsätzlichen Veränderung der Wahrnehmung sein, was sicherlich einer der schwersten Aufgaben ist.


In ihrem großartigen, atemlos zu lesenden Erinnerungsbuch „Wörterbuch einer verlorenen Welt“ gelingt es der französischen Musikerin und Schriftstellerin Alba Arikha, Tochter des französisch-israelischen bildenden Künstlers Avigdor Arikha (1929-2010), ihre eigene Kindheit als Tochter eines zutiefst traumatisierten Holocaust-Überlebenden auf so unnachahmliche, unwiderstehliche und gleichzeitig tiefgründige und berührende Art und Weise so zu denken und literarisch treffend zu vergegenwärtigen, dass wir als aufmerksame Leser die charakteristischen Koordinaten ihrer Kinder- und Jugendzeit als typische Vertreterin der Zweiten Generation unwillkürlich mit denselben wachen Sinnen der Erzählerin gleichsam an ihrer Stelle noch einmal mit- und nacherleben dürfen und somit ein viel umfassenders und direkteres Begreifen in Anspruch nehmen können als es uns aus der rationalen Perspektive eines rein intellektuellen Zugangs selbst unter Zuhilfenahme der besten wissenschaftlichen Mittel der Weltbetrachtung jemals möglich wäre.

Wenn ich meine Großmutter weinen sehe, schaudert mir. Dasselbe gilt für meine Eltern. Ein Gedicht, ein Musikstück, ein Zitat genügen, um in ihnen eine Gefühlslawine loszutreten, die ich abstoßend finde. Wie können Menschen Gefühle aus ihrem System purzeln lassen wie nasse Wäsche aus der Wäschetrommel? Wo sind die Grenzen? Ich weiß von Grenzen. Ich habe darüber in Büchern gelesen. Russische Geschichten von verwegenen Soldaten und errötenden Hausmädchen. Französische Klassiker, wo Verlegenheit über Schamlosigkeit siegt. Wenn freche Kinder Grenzen überschreiten, werden sie bestraft, wieder und Wieder. Ich werde zurechtgewiesen, aber nie bestraft. Egal. Ich bin hart wie Stahl, wie der Metallstab, der meine Wirbelsäule in Position hält.

Alba Arikha wuchs trotz einiger für das junge Mädchen verständlicherweise als erhebliche Einschränkungen wahrgenommener medizinischer Hilfsmittel wie einer Gesundheitsbrille mit dicken Gläsern sowie einer Stützvorrichtung zur Korrektur ihrer Wirbelsäulenfehlstellung unter in vielerlei Hinsicht privilegierten Grundbedingungen in der künstlerischen Bohème von Paris auf, wo ihr in Rădăuţi (heute Rumänien) geborener, nach fünf stilbildenden Jahren in Palästina/Israel künstlerisch wie kommerziell zeitlebens erfolgreicher Vater dank eines Stipendiums für die renommierte École des Beaux-Arts bis zu seinem Tod als vielgeachteter Künstler lebte; zu seinen besten Freunden zählten Samuel Beckett und Henri Cartier-Bresson, und prominente Zeitgenossen wie Gary Cooper, Alain Delon und Serge Gainsbourg verkehrten regelmäßig in seinem Haushalt. Zu seinen berühmtesten Auftragsarbeiten zählen Porträts von der Queen Mother (im Auftrag von Königin Elizabeth II.), Catherine Deneuve (im Auftrag der Republik Frankreich) und Lord Alec Douglas Home of the Hirsel, dem ehemaligen britischen Premierminister (1963-64).

Avigdor Arikha: "Leinwand mit Selbstporträt"/Foto: Israel Museum

Prägender als ihre von frühester Kindheit an als vollkommen natürlich wahrgenommenen Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses war jedoch die familiäre Situation, die zwar eine überaus liebevolle, höchst innige Beziehung zu allen (über-)lebenden Verwandten beinhaltete – außer zur Tante, die nicht nur die Zeichnungen ihres begabten Bruders, sondern auch den wertvollen Schmuck ihrer Mutter heimlich verkauft hatte – aber eben auch stark vom unheilbaren Trauma des Vaters geprägt war, dem gegenüber seine beiden Töchter aus fürsorglicher Rücksichtnahme niemals zuzugeben wagten, dass sie fast jede Nacht von seinen nächtlichen Schreien, den Nazi-Flashbacks, wie sie und ihre Mutter es unter sich nannten, aufwachten. Der erfolgreiche Maler beginnt Alba zwar immer wieder von seinen Erlebnissen während der Schoah zu erzählen, bricht seine Schilderungen aber auch immer wieder unvermittelt ab und vertröstet seine Tochter auf später.

Liebe Anna,
wir haben uns nie kennengelernt, weil es dich nicht gibt. Du existierst nur in meiner Fantasie, bist mein exotisches Gegenstück. Ein projizierter Funke Normalität in meinem Leben.
Ich dachte, dass ich durch die Vorstellung von dir vielleicht ein wenig werden könnte wie du, dass ich mich dir ein wenig angleichen könnte.
Dass meine vermeintliche Vebindung zu dir mich möglicherweise interessanter macht in den Augen derer, die mich nicht interessant finden.
Aber das ist nicht geschehen.
Meine Familie wird nie normal sein. Ich werde nie du sein. Kein Märchen wird mich ändern.
Das Leben wird es tun.
Vielleicht gibt es jemanden wie dich, irgendwo auf der Welt. Ich hoffe es. Ich habe dich gemocht.
Auf Wiedersehen, du Fantasie-Cousine!

Alba Arikha/Foto: Rebecca Reid/eyevine

Mit Beginn der Pubertät beginnt Alba Arikha immer stärker nach einem Ausbruch aus den vermeintlich hemmenden familiären Verhätnissen zu streben, nach einem mutmaßlich unbelasteten, ganz normalen Leben wie es ihre teils ebenfalls prominenten Mitschüler vorzuleben scheinen. Und sie häuft selbstbewusst die ganz eigenen kleinen Geheimnisse einer heranwachsenden jungen Frau an: Lidschatten und Lippenstift, den Minirock in der Schultasche und heimliches Petting mit gleichaltrigen Schulfreunden. Im Alter von siebzehn bricht sie schließlich radikal mit der häuslichen Situation und verbringt ihr letztes Schuljahr auf eigenen Wunsch fern von ihrer Familie in den USA, der Heimat ihrer Mutter, der Lyrikerin Anne Atik. Ihr außergewöhnliches, hellwaches und erstaunlich lebensweises Buch ist der wunderbare, in höchstem Maße geglückte Versuch einer persönlichen Aussöhnung mit der nur scheinbar eng umrissenen Welt ihrer Kindheit – eine überaus wirksame Wiedergutmachung der Autorin an sich selbst und eine unwiderstehliche Liebeserklärung an ihren Vater sowie die wiederherzustellende, umfassende Wahrnehmungsfähigkeit der Kindheit.
„Wörterbuch einer verlorenen Welt“, aus dem Englischen von Friederike Meltendorf, erschienen im Berlin Verlag, 255 Seiten, € 19,99

Donnerstag, 7. August 2014

„Das Halsband der Tauben“ von Raja Alem

Kaum eine andere internationale Großstadt steht im gefährlichen Mikrokosmos westlicher Vorurteile stärker für die mit dem Islam vermeintlicherweise zwangsläufig einhergehende Rückständigkeit, Engstirnigkeit und fanatische Rücksichtlosigkeit gegenüber Andersgläubigen als die mit Abstand heiligste unter zahlreichen anderen heiligen Städten im Islam, Ort der religiösen Erweckung des Propheten Mohammed sowie – in Form des Zentralheiligtums der Kaaba – gleichermaßen konkretes wie abstraktes Pilgerziel der für jeden frommen Muslim zu erstrebenden Hadsch: Mekka, genannt „die Ehrwürdige“. Die geistliche Kapitale im zentralen Osten der Arabischen Halbinsel besitzt aktuell eine Einwohnerzahl von 1,5 Millionen, Nicht-Muslimen ist das Betreten der Stadt bis heute streng untersagt, was zweifelsohne zum ungebrochenen, jedoch höchst widersprüchlichen Mythos der Stätte beiträgt.


Die nachhaltig inspirierende, intellektuell erfrischende Lektüre von Raja Alems brillantem, über fünfhundert Seiten starkem Mekka-Roman „Das Halsband der Tauben“ allerdings, der aufgrund seines anhaltenden fulminanten positiven Echos in den deutschen Medien seit kurzem auch in einer kartonierten Erfolgsausgabe lieferbar ist, bietet dem Leser eine ideale, ausgesprochen nützliche Gelegenheit, kollektive auf unscharfes Denken, geistige Trägheit und fehlende Information gegründeten Stereotypen zu hinterfragen sowie seine persönliche Sichtweise auf den Islam und insbesondere auf die Stadt Mekka auf fundiertere realistische Grundlagen zu stellen.

Für Asa war Liebe immer so etwas wie eine Grippe, kein unheilbarer Krebs. Sie flatterte von Herz zu Herz. Sie genoss das Fieber ständig neuer Verliebtheit. Ohne es sich sehr zu Herzen zu nehmen, war sie für immer neue Viren bereit. Sie nahm weder das Leben noch die Männer allzu ernst. Du kannst dir nicht vorstellen, wie angenehm es in Asas Nähe war. Man fühlte sich wie im Schein ewiger Sonnenstrahlen auf einem grandiosen Gemälde. Ich hatte immer Mitleid mit Leuten wie Jussuf, die am Krebs ihrer Liebe litten.

Dabei scheint es eigentlich eine nicht weiter erwähnenswerte Selbstverständlichkeit zu sein, dass die soziale und politische Struktur einer lebendigen Großstadt, selbst wenn es sich dabei um eine „heilige“ Stadt mit erheblicher ideeller Strahlkraft handelt, kaum weniger heterogen sein kann als die jeder anderen beliebigen Großstadt – und dass die Bürger eines Landes oder einer sonstigen politischen Verwaltungseinheit nicht zwangsläufig mit den Standpunkten ihrer Regierungen oder religiösen Führer übereinstimmen müssen, sondern in der Regel – je größer die jeweilige Gemeinschaft ist – ganz eigene individuelle Wertvorstellungen besitzen, in deren spezieller Natur und Ausprägung sie sich gewöhnlich von ihren Mitmenschen unterscheiden und als Individuum abgrenzen.

Was für ein Bild! Der vollkommene Tod!“, stieß Muadh hervor und schoss ein Foto

Auf der reinen Handlungsebene beginnt Raja Alems virtuoses Buch wie ein klassischer Kriminalroman: in einer wenig belebten Gasse der historischen Altstadt von Mekka wird eine gänzlich entkleidete weibliche Leiche aufgefunden; die amtliche Ermittlung der Identität der atemberaubend schönen, jungen Toten sowie der wahrscheinlichen Tatumstände und die Überführung des mutmaßlichen Täters übernimmt nicht nur von Amts wegen der melancholische Inspektor Nassir al-Kachtani, der schon bald hinter den mannigfaltigen Schleiern von scheinbarem religiösen Eifer und bürgerlichem Konforrmismus auf zahlreiche dunkel-heimliche Liebschaften, irritierend frei ausgelebte (insbesondere weibliche) Sexualität und ein machtbesessenes geheimes Netzwerk aus politischer Korruption und aggressiver Immobilienspekulation stößt.

Bautätigkeit in Mekka im Jahr 2010/Foto: Fadi El Benni, Al Jazeera

Ob vielleicht Batman Asa entführt hatte? Irgendein Wesen aus dem Reich der Dunkelheit, das alle Radarsperren durchbrach? Selbst ganz zur Fledermaus geworden, sehnte sich Jussuf nach Asa, und zum ersten Mal verstand er, warum er sich als junger Bursche Kants Sätze notiert hatte: Wenn man Raum und Zeit erforscht, stellt man fest, dass sie sowohl endlich als auch unendlich sind; wenn man die Materie erforscht, dass sie sowohl unendlich oft teilbar als auch unteilbar ist; und dass man, wenn man den Willen erforscht, feststellt, dass er sowohl vorherbestimmt als auch frei ist...

Was den klugen Roman der 1970 geborenen Schriftstellerin jedoch auf geradezu wunderbar-märchenhafte Art und Weise in direkte, ebenso schmeichelhafte wie berechtigte Linie klassischer orientalischer Erzählwerke rückt, ist ihre vollkommen einzigartige allwissende und in höchstem Maß virtuose Erzählperspektive: denn es ist weder eine geheimnisvoll-scharfsinnige moderne Scheherazade noch ein männlich-nüchterner Erzähler mit den beschränkten Instrumenten des menschlichen Geistes, der die vielschichtige, mühelos Jahrtausende überbrückende Geschichte der Stadt Mekka vor dem staunenden Leser ausbreitet, sondern die in der Altstadt gelegene Abu-I-Rus, auch Vielkopfgasse genannt, die „Königin der Düfte“, die zu ihrem blumigen Beinamen kam, indem sie über Jahrhunderte die seltene Fähigkeit erwarb, selbst noch die unerträglichsten Gerüche stoisch zu ertragen.

Raja Alem

Die Dank ihres biblischen Alters an Erfahrung und Wissen geradezu verschwenderisch reiche Vielkopfgasse ist mit den Geheimnissen moderner Kommunikationsmittel zwischen Liebenden ebenso vertraut wie mit den Mythen der vorislamischen Zeit sowie den bedeutsamen Ereignissen, die schließlich zum unaufhaltsamen Aufstieg der neuen Weltreligion des Islam führen und die Geburtsstadt ihres großen Propheten nachhaltig verändern sollten – am Ende kann man sich kaum eine versiertere, empathischere und gewinnendere Erzählerin der Geschichte Mekkas denken als die aus ihrer in jeder Hinsicht überlegenen Perspektive literarisch brillierende und zu schärfster politischer Analyse und beißender Satire ebenso wie zu reinstem „menschlichen“ Mitgefühl bereite Abu-I-Rus. „Das Halsband der Tauben“ ist unter vielen bestechenden Romanen aus dem arabischen Kulturraum der letzten Jahre vermutlich derjenige, den man auf jeden Fall gelesen haben sollte, da er unser persönliches Weltbild am nachhaltigsten zu verändern vermag.

„Das Halsband der Tauben“, aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich, erschienen im Unionsverlag, 583 Seiten, € 14,95


Dienstag, 5. August 2014

„In der Mitte ihres Lebens“ von Samuel Joseph Agnon

Das fragwürdige Etikett des Nationaldichters dürfte für jeden wahrhaftigen Schrifftsteller eher eine unnötige Bürde als eine genuine Ehre darstellen, zumal ihm diese Bezeichnung in aller Regel nicht nur von einer wenig profunden literaturfernen Position gleichsam von außen aufgeprägt wird, sondern in den meisten Fällen auch eine unzulässige politische Vereinnahmung seines Werkes bedeutet, die bestenfalls einer Verallgemeinerung oder sogar einer bewussten „positiven“ Abwertung gleichkommt. Im Falle von Chaim Nachman Bialik (1873-1934) oder Samuel Joseph Agnon (1888-1970), deren Leistungen zugunsten einer poetischen Wiederbelebung der hebräischen Sprache unbestritten sind, könnte die Lage jedoch komplizierter sein, da beide von vornherein ein hohes Maß an politischem Sendungsbewusstsein entwickeln mussten, um ihre Dichtung ausgerechnet in einer als ebenso heilig wie tot geltenden Sprache zu verfassen, die über viele Jahrhunderte nahezu ausschließlich ein Medium religiöser und philosophischer Unterweisung gewesen war.



Wer jemals versucht hat, einen von Agnons großen Romanen in deutscher Übersetzung nicht nur anzulesen, sondern seine Lektüre auch erfolgreich zu Ende zu bringen, kann anhand der damit verbundenen Mühen sowie der aufzubringenden Geduld kaum erahnen, welche Bedeutungsebenen im hebräischen Original in assoziativer Art und Weise stets mitzuschwingen scheinen. Die tastende Art und Weise des Autors nach einer neuen, unverbrauchten Formulierung zu suchen, die bereits Gesagtes noch konkretisiert oder eine zusätzliche poetische Ebene nachschiebt sowie seine formelhafte, den Duktus der Bibel imitierende Aneinanderreihung scheinbar zusammenhangloser Abschnitte wirkte in den meisten bisherigen Übersetzungen so bemüht, dass am Ende der Eindruck eines überambitionierten Dichters überwog, der die Schaffung einer Nationalsprache über seine literarische Aussage zu stellen schien. Israelische (Schul-)Ausgaben der Werke Agnons weisen oft einen umfangreichen, Erläuterungsapparat von geradezu talmudischen Ausmaßen auf, um dem Leser den Zugang zu sämtlichen möglichen Bezugs- und Bedeutungsebenen zu erleichtern.

Manchmal fragte ich mich, weswegen ich meine Erinnerungen aufschrieb, was hatte ich denn Neues entdeckt und von was wünschte ich, dass es bliebe nach mir? Ich würde sagen: Wegen der Seelenruhe, die ich durch mein Schreiben finde, habe ich alles aufgeschrieben, was in diesem Buch steht.

In dieser Hinsicht bietet die soeben im Jüdischen Verlag erschienene erstmalige Übersetzung von Samuel Joseph Agnons Erzählung „In der Mitte ihres Lebens“ dem interessierten Leser eine großartige überschaubare Möglichkeit, diesen neuhebräischen Klassiker gewissermaßen auf „authentische“ Art und Weise zu entdecken, ohne dabei an der Fülle des Stoffes und seiner Präsentation verzweifeln zu müssen. Die kaum hunderseitige Erzählung entstand während Agnons äußerst produktiver Zeit in Deutschland, die im Jahr 1924 mit der vollständigen Vernichtung seines Hausstands einschließlich einer umfangreichen Bibliothek von 2000 Bänden durch ein Feuer so ausgesprochen tragisch endete. Aufgewachsen in Galizien als Sohn einer wohlhabenden Kaufmanns- und Gelehrtenfamilie, war Agnon 1908 nach Palästina ausgewandert und 1914 bei Ausbruch des ersten Weltkriegs während einer im Vorjahr begonnen Reise zunächst in Berlin gestrandet, wo er sich schnell – gefördert von Martin Buber und dem Verleger Salman Schocken – als fester Teil des literarischen Lebens der Hauptstadt etablieren konnte.

Nun gab es in unserem Haus einen Bücherschrank, und eines Tages holte mein Vater während der vergeblichen Suche nach schönen Lettern ein Buch heraus. Er bekam glänzende Augen und vertiefte sich in die Bücher. In lieb gewordener Trauer, die unser Heim abschirmte, dachte mein Vater kaum mehr an meine Mutter, als er nach Buchstaben für den Grabstein suchte. Wie ein emsiger Vogel nicht müde wird, Halme für sein Nest zu sammeln, so ermüdete auch mein Vater nicht.

Agnon-Denkmal in Bad Homburg

Die Erzählung „In der Mitte ihres Lebens“ entstand während seiner Jahre in Bad Homburg im hessischen Taunus, die er selbst rückblickend als eine der glücklichsten seines Lebens bezeichnete, in einem Stockwerk der fürstlichen „Villa Imperiale“, ehemaliges Kur-Domizil des Prinzen von Wales, das sein wohlhabender Schwiegervater George Marx (1843-1927) dem jungvermählten Paar verschafft hatte. Agnon erzählt darin aus der Perspektive seiner Protagonistin Tirza die Geschichte eines jungen Mädchens, das nach dem tragischen, frühen Tod ihrer Mutter als Einzelkind in einem wohlhabenden, gebildeten Haushalt aufwächst, der nachhaltig geprägt bleibt von der anhaltenden Trauer ihres Vaters um seine geliebte Frau. Deren Liebe hatte eigentlich dem bescheidenen Poeten Masal gehört, den sie trotz seiner lebhaften Erwiderung ihrer Gefühle im traditionellen jüdischen Familienkontext nicht hatte heiraten dürfen. An der stillen Fügung in dieses scheinbar unvermeidliche Schicksal war sie schließlich nach langen Jahren des Leidens zerbrochen.

Eines der rührendsten Bilder in Agnons Erzählung ist der verzweifelte Wunsch des Ehemanns, Masals zahlreiche über die Jahre an seine Frau gerichteten Gedichte (von denen er ausdrücklich weiß) nach deren Tod in Buchform herauszugeben; jedoch hatte diese am Tag ihres Todes alle Verse verbrannt, und der Dichter selbst hatte keinerlei Kopien davon angefertigt. Die junge Tirza steht nun, nachdem ihr von ihrem Vater in jahrelangem Privatunterricht eine umfassende bürgerliche Bildung ermöglicht wurde und sie als aufgeweckte, lebhafte Beobachterin der Vorgänge in ihrem Umfeld diese bereits mit scharfem Verstand zu hinterfragen gewöhnt ist, unverhofft vor derselben sie in höchstem Maße herausforderden Grundsatzentscheidung wie einst ihre Mutter: muss sie sich der ihr zugedachten Rolle als Ehefrau und Mutter fügen oder kann sie sich in einem modernen Akt der Selbstbestimmung von dem traditionellen Muster befreien? Tirza findet ihre ganz eigene Lösung, mit der sie auf vollkommen unkonventionelle Art und Weise das Andenken ihrer Mutter zu ehren vermag.

Ich blickte in das Gesicht meines Vaters, dann wieder in das Gesicht meines Mannes, von einem zum andern. Ich sah die beiden Männer und mir war zum Weinen zumute, im Schoß meiner Mutter wollte ich weinen. Lag es an der Verstimmung meines Mannes oder an der weiblichen Psyche? Mein Vater und mein Mann strahlten mich an, in ihrer Liebe wie in ihrem Mitleid glichen sie sich, einer war wie der andere. Siebzig Gesichter hat das Böse, die Liebe hat nur ein Gesicht.

Samuel Joseph Agnon

Samuel Joseph Agnon, dem 1966 gemeinsam mit Nelly Sachs als bisher einzigem hebräischen Schriftsteller der prestigeträchtige Literaturnobelpreis zuerkannt wurde, hat mit seiner eigenartigen Erzählung ein klassisches Motiv auf ebenso moderne wie charakteristische Art und Weise neu ausgestaltet, das auch heute noch Relevanz hat, selbst in einer aufgeklärten Gesellschaft wie der unseren – besonders mit seiner überraschenden filmreifen Pointe. Er bedient sich dafür einer denkwürdigen Mischung aus ungereimter Lyrik, Anklängen biblischer Sprache und dunklen, ebenso konkreten wie metaphorisch nachwirkenden Sprachbildern, deren sperrig-naive Gedankenführung mitunter an Kafka zu erinnern scheint. Auch wenn man viele vom Übersetzer behauptete Bezüge in den Erläuterungen nicht nachvollziehen kann, manches davon als zu beiläufig oder als zu konstruiert verwerfen möchte, kann man sich der Kraft zahlreicher Metaphern sowie der rührend-ernsthaften, empathischen Grundhaltung des Dichters dauerhaft kaum entziehen: viele Bilder aus Agnons Erzählung bleiben noch lange in der Imagination des Lesers haften – hier wird die Bedeutung des Autors für den Mythos der Neuerfindung des Hebräischen wie für das Selbstverständnis des Staates Israel beispielhaft deutlich.

„In der Mitte ihres Lebens“, aus dem Hebräischen von Gerold Necker, erschienen im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp, 124 Seiten, € 19,95