Jerusalem

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Freitag, 10. Oktober 2014

Patrick Modiano und der Literaturnobelpreis 2014


Als 1968, im Jahr der französischen Studentenunruhen, der ebenso wilde wie aufregende Debütroman eines gerade dreiundzwanzigjährigen talentierten Nachwuchsschriftstellers erschien, der weder gedanklich noch in realiter der Studentenbewegung angehörte, war dieser seiner Zeit und seiner potenziellen Leserschaft in vielerlei Hinsicht weit voraus. Nicht nur hatte sein Verleger die Veröffentlichung des zu einem großen Teil während der deutschen Okkupation in Paris spielenden Buches mit dem in der Vorrede anhand einer jüdischen Anekdote erläuterten doppeldeutigen Titel „Place de l’Étoile“ aufgrund des israelischen Sechstagekriegs ein ganzes Jahr zurückgehalten, weil er befürchtete, das darin transportierte einseitig-ablehnende Israelbild könne angesichts der damaligen politischen Lage nicht nur falsch aufgenommen werden, sondern die öffentliche Meinung in Frankreich möglicherweise sogar vollkommen eskalieren und in eine falsche Richtung abgleiten lassen – was an sich schon ein erstaunlich aussagekräftiges Indiz dafür ist, welche außergewöhnliche literarische Qualität und politische Relevanz von vornherein in dem unveröffentlichten Manuskript erkannt wurde.






Patrick Modiano, späterer Gewinner des Prix Goncourt und Träger des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur, der sich selbst als Kind der Besatzungszeit betrachtet: gezeugt im Krieg, geboren im Frieden (1945) – hatte in seinem provozierenden, als Autobiografie eines jungen französischen Juden gestalteten Text weitestgehend unkommentiert, aber gleichzeitig auf höchst sachkundige Art und Weise derart viele antisemitische Klischees und Hasstiraden aus Werken bekannter französischer Schriftsteller, Journalisten und Politiker der Vorkriegszeit sowie aus Kreisen prominenter Kollaborateure des Vichy-Regimes zusammengetragen und reflektiert, dass man ohne weiteres davon sprechen kann, dass er die großen Anstrengungen französischer Historiker und Künstler der 1970er und 80er Jahren hinsichtlicher einer umfassenden kollektiven Aufarbeitung der Zeit der französischen Kollaboration mit seinem Buch bereits vorweggenommen hat – denn nennenswerte Literatur zu diesem Thema hatte es bis dahin nicht gegeben.



In dieser Hinsicht ist eine Anekdote aus einem späteren Roman Modianos interessant, in der er indirekt seinen jüdischen Vater als Auslöser von „Place de l’Étoile“ benennt, wie die versierte Übersetzerin Elisabeth Edl im erhellenden Nachwort der deutschen Ausgabe erläutert:


Ich hatte ein paar Jahre zuvor in seiner Bibliothek einige Werke antisemitischer Autoren entdeckt, die in den vierziger Jahren erschienen waren und die er damals gekauft hatte, wahrscheinlich, weil er zu verstehen suchte, was diese Leute ihm vorwarfen. Und ich kann mir vorstellen, wie sehr ihn die Beschreibung dieses imaginären, phantasmatischen Ungeheuers überrascht haben muss, dessen bedrohlicher Schatten über die Wände huschte, mit seiner krummen Nase und seinen Raubvogelhänden, diese von allen Lastern verderbte Kreatur, die verantwortlich ist für alle Übel und schuldig aller Verbrechen. In meinem ersten Buch wollte ich all diesen Leuten antworten, deren Beleidigungen mich meines Vaters wegen verletzt hatten. Und ihnen, auf dem Gebiet der französischen Prosa, ein für alle Mal den Mund stopfen.


So lässt er seinen Protagonisten Raphaël Schlemilovitch parallel mehrere Lebensentwürfe eines französischen Juden der 1930er und 40er Jahre durchleben, die von den gängigen antijüdischen Klischees seiner Zeit geprägt sind – ob als Liebhaber von Eva Braun, Vermittler von Prostituierten für ein brasilianisches Freudenhaus oder als Gestapospitzel. „Place de l’Étoile“ ist erst vierzig Jahre nach seiner ursprünglichen Erstveröffentlichung in deutscher Übersetzung erschienen und kann mit seinem ausgeprägten jugendlichen Furor und seiner unbändigen Lust an der karikierenden Bloßstellung seines desolaten Personals kaum einen Leser unbeteiligt lassen.


Nun, mehr als zwei Dutzend hochkarätiger Buchveröffentlichungen später, ist Patrick Modiano – überraschend für viele Beobachter des internationalen Buchmarktes – verdientermaßen der Literaturnobelpreis für sein höchst prägnantes und eigenes Gesamtwerk zuerkannt worden. Und es scheint absolut kein Zufall zu sein, dass gerade Frankreich im Laufe von gut hundert Jahren überproportional viele Literaturnobelpreisträger hervorgebracht hat, nämlich fünfzehn, womit die Grande nation in der inoffiziellen Länderrangliste einsam und geradezu uneinholbar an der Spitze liegt: im Land der Éducation sentimentale besitzt die Literatur nicht nur ein viel höheres Grundansehen als in Deutschland, wo der gesellschaftliche Diskurs meist von einem unausgesprochenen, vollkommen absurden und irrationalen Zwang zum politisch korrekten Konsens ausgebremst wird, sondern erfüllt auch vollkommen andere Erwartungen ans Lesen: denn im Rahmen der Lektüre wesentlicher, bedeutender Literatur kann der Leser die individuelle Vervollkommnung seiner seelischen Erfahrungswelten vollziehen, was ihn idealerweise zu einem empfindsameren, toleranteren und reflektierteren Menschen macht.

Patrick Modiano/Foto: Catherine Hélie

Wirklich existenzielle Literatur aber besitzt immer auch die unbequeme, unserer geistigen Entwicklung jedoch höchst zuträgliche Fähigkeit, uns innerlich aufzurütteln und uns das Leben aus neuen, ungewohnten Perspektiven zu erschließen, die wir niemals zuvor einzunehmen gewagt haben. Da dieser unschätzbare Aufwand vom Leser aber erst einmal aufgebracht werden muss und dies nur aus freien Stücken geschehen kann, ist bedeutende Literatur in unserer Gesellschaftsform nicht bestsellertauglich und muss deshalb immer ein Randphänomen bleiben. Der Literaturnobelpreis für Patrick Modiano ist somit eine schöne und dringend notwendige Anerkennung für das jahrzehntelang-unbeirrte und in höchstem Maße charakteristische literarische Schaffen einer originären Schriftstellerpersönlichkeit, die sich niemals von anderen Meinungen, Moden oder Paradigmen hat beeinflussen lassen, sondern sich auf ganz und gar individuelle und trotzdem exemplarische Art und Weise stets an elementarsten Fragen der menschlichen Existenz abgearbeitet hat.


Dabei ist Patrick Modiano immer auf besondere Art und Weise auch für den Außenstehenden explizit gut lesbar und zugänglich geblieben, so auch in seinem vorletzten in deutscher Übersetzung erschienenen Jugend- und Liebesroman „Im Café der verlorenen Jugend“: Dass die romantische Liebe zumindest im Anfangsstadium immer zu einem vielleicht noch größeren Anteil aus schwärmerisch-optimistischer Projektion auf den ersehnten Partner besteht als man sich später möglicherweise eingestehen möchte, ist eine Binsenweisheit, die kaum trivialer sein könnte, je nüchterner man sie betrachtet. Was aber wäre die erfüllendste, zeitvergessenste Liebe noch wert, wenn man sie später lediglich kühl und rational abheftete und bestenfalls als immerhin nützliche Erfahrung verbuchte, die Emotionen also kühn von den Fakten trennte und sich in die nächste Verdrängung flüchtete?


Schon seinem autobiografischen Roman „Familienstammbaum“ (2005) hatte er als übergeordnetes Motto seines gesamten literarischen Schaffens ein Zitat des Dichters der französischen Résistance, René Char (1907-1988), vorangestellt:


Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren.


Dies gilt freilich auch für jede unglückliche Liebe, die sich – wie der Autor weiß – immer wieder wehmütig Bahn in die Erinnerung jedes noch so nüchternen Zeitgenossen zu brechen vermag. Die geheimnisvoll-unergründliche hübsche Protagonistin seines meisterhaften kleinen Romans „Café der verlorenen Jugend“ (2007), bildet dabei die ideale Projektionsfläche für die romantischen Gefühle dreier Männer, aus deren unterschiedlichen persönlichen Blickwinkeln Modiano seine Geschichte virtuos vor uns ausbreitet, bevor er nach einem erneuten Perspektivwechsel die junge herzerfrischend unangepasste Frau schließlich selbst zu Wort kommen lässt.


Im titelgebenden Café Le Condé im Saint-Germain-des-Prés der 1960er Jahre versammelt sich Tag für Tag ein buntes Völkchen aus Künstlern und Studenten, „von denen die meisten in unserem Alter waren, ich würde sagen, so zwischen neunzehn und fünfundzwanzig. [...] Ich suche im Wörterbuch nach „Bohemien“: Person, die ein unstetes Leben führt, ohne Regeln, ohne Sorge ums Morgen. Das ist eine Definition, die auf die Besucherinnen und Besucher des Condé genau passte.“ Durch die sich gegenseitig ergänzenden Beschreibungen dieser allnächtlichen Gesellschaft sowie der geheimnisvollen jungen Frau, die eines Tages einfach den Namen „Louki“ verpasst bekommt („Im ersten Augenblick wirkte sie erschrocken, dann hat sie gelächelt“), gewinnt jene langsam an Kontur, ohne jedoch alle ihre Geheimnisse preiszugeben.



Immerhin erfahren wir nach und nach, dass sie ihren wohlhabenden älteren Ehemann nach nur einem Jahr Ehe verlassen und dass dieser einen Privatdetektiv auf ihre Spur gehetzt habe. Von Kindheit an unkonventionell – ihre Mutter Platzanweiserin im Moulin Rouge, ihr Vater unbekannt – verkehrt sie in einem esoterischen Zirkel, schnupft hin und wieder Koks und erlebt im Umkreis des faszinierenden Mikrokosmos des zwielichtigen Cafés Condé eine entgrenzte Liebe, die kaum leidenschaftlicher sein könnte.


Doch der sensible Menschenkenner Modiano weiß auch, dass in der Erinnerung meist gerade jene Liebesgeschichten die allergrößte Strahlkraft besitzen, die letztlich einen tragischen Ausgang nahmen, denn nach ihnen wird man sich immer sehnen. Von „Louki“ bleibt schließlich nichts als die wehmütige Erinnerung ihrer Liebhaber. Patrick Modianos ebenso stimmungsvoll-melancholischer wie sehnsüchtig-schöner Roman ist eine Gefühl und Verstand integrierende Bestandsaufnahme der eigenen unsicheren Erinnerung an jene jugendlich-weltumarmende Art der Wahrnehmung, die man erst dann angemessen zu feiern vermag, wenn sie einem bereits entglitten ist. In dieser elementaren Kunst der persönlichen Vergegenwärtigung eigener Vergangenheit ist der preisgekrönte Autor ein wahrer Meister, der dringend gelesen werden sollte. Seinen ursprünglich zur Veröffentlichung im nächsten Frühjahr vorgesehenen neuen Roman "Gräser der Nacht" zieht der Hanser Verlag aus aktuellem Anlass auf den 5. November vor.

Die Werke Patrick Modianos sind auf Deutsch bei Hanser und dtv erschienen.

@Hertzmann's Coffee: Ein literarisches Kaffekränzchen mit Vanessa F. Fogel




Der zweite Roman nach einem zu Recht gefeierten Debüt muss für jeden jungen Autoren eine große Bürde und Herausforderung sein. Als vor vier Jahren Vanessa F. Fogels erster Roman „Sag es mir“ erschien, die literarische Reise einer jungen Frau zu sich selbst, verblüfften die Literaturkritik vor allem der unverbrauchte, sensible und unverkennbar weibliche Ton sowie die ebenso zärtliche wie entschiedene Weltsicht der in Frankfurt am Main geborenen, in Israel aufgewachsenen und in Amerika ausgebildeten Debütantin. Ihr soeben erschienener zweiter Roman „Hertzmann's Coffee“ lässt sich weit weniger leicht in einem Satz zusammenfassen als sein Vorgänger. Ist es die Chronik einer jüdischen Kaffeeröster-Dynastie in New York? Die Feier einer lebenslangen zärtlichen Liebe? Ein unkonventionelles Lob liebevoller familiärer Bindungen? Ein Klagelied über den Verlust derselben? Ein Bericht über das Schweigen der Opfer der Schoah? Eine Schilderung der Auswirkungen der Verfolgung und des Schweigens auf die zweite und dritte Generation? 

FH: Vanessa, wir haben uns einige Zeit nach Erscheinen Deines ersten Buches kurz über Deine weiteren literarischen Pläne ausgetauscht und verständlicherweise wolltest Du zu diesem frühen Zeitpunkt nicht mehr darüber preisgeben, als dass Du tatsächlich an einem neuen Roman arbeitest. Gibt es rückblickend einen bestimmten Gedanken, eine Begegnung, eine Stimmungslage oder einen Satz, der Dich zu „Hertzmann's Coffee“ angeregt hat? Gibt es lebende oder historische Personen als Vorbilder? Und wie haben die einzelnen Protagonisten literarisch zueinander gefunden?

VFF: Als ich mit der Niederschrift des Romans begann, gab es eine mir sehr nahestehende Person in meinem Leben, die nicht mit mir reden wollte. Deshalb bewegte mich zu dieser Zeit fast ausschließlich die drängende Frage, wie man mit jemandem kommunizieren soll, der diesen Austausch nicht wünscht. Und diese Fragestellung kreuzte sich mit meinem ursprünglichen Vorhaben der literarischen Erforschung von Geschwisterbeziehungen, die ich mir für meinen zweiten Roman fest vorgenommen hatte. Und dann gab es ja noch diese Geschichte über eine verloren geglaubte Halbschwester, die mir immer schon vorgeschwebt hatte – das waren die unterschiedlichen Zutaten, die „Hertzmann's Coffee“ zum Leben erweckt haben. 

„Hertzmann's Coffee“ wird im stetigen Wechsel aus drei unterschiedlichen männlichen Perspektiven erzählt, die drei verschiedene Generationen repräsentieren. Die Handlung spielt in der aktuellen lebendigen Gegenwart der Großstädte New York, Caracas und Berlin, die ältesten im Verlaufe der Erzählung vermittelten Erinnerungen reichen jedoch bis in die von den Nationalsozialisten auf so grausame Art und Weise zerstörte Kindheit der Kriegsgeneration zurück. „Nur wer über sich und seine Zeit schreibt, schreibt über alle Menschen und alle Zeiten“, zitiert die Autorin den Dramatiker George Bernard Shaw am Beginn jedes neuen Abschnitts so beharrlich, dass selbst der flüchtigste Leser unweigerlich über diesen Ausspruch nachdenken muss, und bekräftigt damit einerseits eine treffend-prägnante Formulierung für den universellen Anspruch engagierter Literatur, andererseits verleiht sie ihrem berechtigten literarischen Selbstbewußtsein Ausdruck, indem sie ganz offen zugibt: „Ich kann das!“ - Dennoch – und das macht einen nicht unbeträchtlichen Reiz des Buches aus – meint man zuweilen hinter den überzeugend gestalteten Innenwelten der Protagonisten auch eine eben diese Charaktere denkende und fühlende Autorin zu erkennen.





Die drei Ich-Erzähler sind allesamt männlichen Geschlechts: ein fünfundachtzigjähriger gutmütiger Patriarch einer jüdischen New Yorker Kaffeeröster-Dynastie, dessen vermeintlich fest aufeinander eingeschworene Familie im Streit über die weitere Ausrichtung des Unternehmens auseinanderzubrechen droht. Ein einsamer venezolanischer Naturwissenschaftler, der am Krankenbett seiner geliebten, im Sterben liegenden Mutter unverhofft auf deren lebenslang sorgsam gehütetes Geheimnis stößt. Und ein eigenbrötlerischer Berliner Jugendlicher, der sich von seinen Eltern unverstanden fühlt und der, um sich zu beweisen, auf eigene Faust zum 500-Teile-Schnellpuzzle-Wettbewerb Razzle-The-Puzzle nach Lancaster, NY, reisen möchte.

FH: War es schwierig, sich in literarischer Form gleich drei unterschiedlichen männlichen Erzählperspektiven anzuverwandeln und gibt es unter diesen drei Protagonisten jemanden, dessen Sicht auf das Leben Dir persönlich besonders nahe ist? 

VFF: Es war nicht wirklich schwierig, aber ich brauchte viel Zeit und Geduld. Literarische Charaktere zu erschaffen ist wie ein langsamer organischer Kennenlernprozess: das dauert einfach, unabhängig von Geschlecht und Alter der Figuren. Es ist wie bei Menschen – bei manchen braucht es ein bisschen, bei anderen passiert es schneller! Die Stimme von Josè-Rafael kam geradezu wie von selbst, während die von Marc noch Feinabstimmung benötigte. Und Yankeles Sichtweise ist mir sogar seit vielen Jahren sehr vertraut. Aber nahe fühle ich mich ihnen allen ohne Ausnahme, da ich Gedanken und Meinungen mit ihnen austausche und teile.  

Fast alle Personen im Roman sind auf die eine oder andere Weise besessen von Kaffee: Während sämtliche Zweige der Familie Hertzmann nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht vom Kaffee leben, sondern diesen auch geradezu als persönliches Lebenselixier begreifen und ihn in allen erdenklichen Formen gern und häufig konsumieren, lehnt der venezolanische Geologe und Kaffee-Hasser José-Rafael die Förderung des heimischen Kaffeeanbaus durch das Regime Hugo Chávez' aus fester politischer Überzeugung ab: „Das Unglück unserer Nation.“ Seine Mutter, die während des Krieges in einer christlichen Familie aufgewachsene, einzige überlebende Schwester des Familienpatriarchen Yankele Hertzmann, hat ein interessantes Bonmot geprägt: „Kaffee ist etwas für Leute, die ihre Geschmacksknospen kontrollieren wollen. Nichts für jene, die sich von ihren Geschmacksknospen kontrollieren lassen. Nichts für jene, die leben wollen. Aber für jene, die das Leben kontrolieren wollen.“ 

FH: Welche Bedeutung hat Kaffee für Dich als Metapher und als Erscheinung des täglichen Lebens? 

VFF: Die Welt des Kaffees hat mich schon immer interessiert. Als ich dann aber einstieg in die Recherche zu meinem Buch, ließ ich mich regelrecht davon mitreissen: seine Geschichte, seine besondere Fachterminologie und die zahlreichen unterschiedlichen Bezugsgruppen überall auf der Welt. Aber auch als Metapher besitzt Kaffee einen außergewöhnlichen Reichtum. Was meine persönliche Beziehung dazu betrifft: ich mag Kaffee vor allem sehr, sehr gern – ich würde mich nicht unbedingt als süchtig danach bezeichnen, aber ich bin sicherlich nahe dran. Zweitens assoziiere ich Kaffee immer mit meinem Großvater, der ihn am liebsten kochend heiß trank. Und drittens erinnert er mich an meine Studentenzeit, während der ich regelmäßig als Barrista in einem Café arbeitete und vielen inspirierenden Menschen begegnete, vor allem während meiner Nachtschichten.
Vanessa F. Fogel

Der fünfundachtzigjährige Familienpatriarch Yankele Hertzmann hat seiner lebenslangen Liebe, seiner Ehefrau Dora, nach dem Krieg versprochen, niemals über die traumatische Geschichte ihres Überlebens unter nationalsozialistischer Verfolgung zu sprechen. Als sich seine Kinder in einem von ihm nicht vorhergesehenen und von den Medien genussvoll öffentlich gemachten erbitterten Streit um seine Nachfolge gegenseitig heftig zu bekämpfen beginnen, bricht er jedoch sein lebenslanges Versprechen und erzählt in vielen einsamen, nächtlichen Monologen nach und nach seine ganze Lebensgeschichte vor dem unparteiischen Blick seiner Digitalkamera. Obwohl er damit ganz andere Zwecke verfolgt und sich eigentlich nur eine ganz bestimmte, überaus schmerzlich vermisste Person als Publikum wünscht, wird er damit bei YouTube unverhofft zum Star, und seine späten privaten Geständnisse haben vollkommen unerwartete Auswirkungen auf den bröckelnden Zusammenhalt der Familie. 

FH: Sind die für alle Familienmitglieder heilsamen Auswirkungen der denkwürdigen Internetkarriere von Yankele Hertzmann lediglich eine schöne literarische Utopie oder kann der bewusste Weg in die Öffentlichkeit ein fruchtbarer Ansatz für alle Generationen sein? 

VFF: Diese Frage ist schwer zu beantworten. Ich denke eigentlich nicht, dass in so sensiblen Fragen allgemein gültige Lösungsansätze hilfreich oder überhaupt zulässig sind. Hier können vermutlich nur individuelle Antworten helfen... 

Die überaus stimmige, empathische Erzählweise und inhaltliche Vielfalt von Hertzmann's Coffe machen es dem neugierigen Leser ausgesprochen leicht, sich über diesen ebenso intelligenten wie sensiblen Roman auf inspirierende Art und Weise zu unterhalten, welcher überdies – wie schon sein hoch gelobter Vorgänger – einen ganz eigenen, unverwechselbaren Sound besitzt, der ihn in seiner unaufdringlichen Wirkung noch unmittelbarer und zugänglicher macht. Insofern hat das Buch das schöne und keinesfalls zu unterschätzende Potenzial nicht nur seine Protagonisten auf eine Tasse Kaffe zusammenzubringen, sondern möglicherweise sogar seine gut unterhaltenen Leser. Dass die Autorin den individuellen Lösungsansatz ihres unvergesslichen Protagonisten nicht als Patentlösung verstanden wissen will, lässt ihren Roman umso ernsthafter, reifer und realistischer erscheinen. „Hertzmann's Coffee“ ist wie ein idealer, zwanglos-angenehmer fiktiver Treffpunkt von weltoffenen Menschen und ihren unterschiedlichen Meinungen, ganz egal ob diese ihre Geschmacksknospen kontrollieren wollen oder sich stattdessen von ihnen kontrollieren lassen – eine Tasse Kaffee in guter Gesellschaft ist immer eine bewusstseinserweiternde Option.



„Hertzmann's Coffee“, aus dem Englischen von Eva Bonné unter Mitarbeit von Vanessa F. Fogel, erschienen bei Weissbooks, 311 Seiten, € 22,90