Jerusalem

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Dienstag, 28. Januar 2014

„Jesse Thoor – Das Werk“


Zwar gab es im schicksalhaften Jahr des österreichischen Anschlusses an Nazi-Deutschland 1938 ausgesprochen namhafte und über jeden Zweifel erhabene deutsche Exil-Schriftsteller wie Thomas Mann oder Franz Werfel, die ihren prominenten meinungsbildenden Einfluss erfolgreich geltend zu machen vermochten, damit ihr zu jener Zeit noch völlig unbekannter, hochtalentierter junger Kollege, der Sonett-Dichter Jesse Thoor (geboren 1905) mittels eines bescheidenen, gleichsam „lebenserhaltenden“ Literaturstipendiums von seinem Zufluchtsort Brünn in der Tschechoslowakei gerade noch rechtzeitig nach London ausreisen konnte.

Ich [Franz Werfel] empfehle den Dichter Jesse Thoor auf das dringendste für ein Stipendium. Seine Sonette sind zweifellos die erstaunlichste Leistung, die mir auf dem Gebiet deutscher Lyrik seit Jahren begegnet ist. Sie zeigen nicht nur eine dichterische Sprache – und Bildkraft hohen Grades, sondern gestalten auch einen Zustand der Seele, der einmal vielleicht für unsere Epoche charakteristisch und dokumentarisch sein wird.


Dieser lebensrettende, vielen anderen begabten Künstlern verwehrt gebliebene Weg sollte sich jedoch rückblickend lediglich als der bloße Übertritt von einer bitteren, künstlerischen wie menschlichen Isolation in die nächste erweisen: zu Lebzeiten des 1952 bei einem Freundschaftsbesuch in Lienz/Osttirol überraschend an einem Herzanfall verstorbenen, höchst originellen und in seiner universellen Aussage auch aus heutiger Sicht noch absolut zeitlos scheinenden, stets am Existenzminimum lebenden Dichters ist nur ein einziger schmaler Band mit einer kleinen Auswahl seiner Sonette erschienen, der überdies im geschäftigen Nachkriegsjahr 1948 keine irgendwie nennenswerte Resonanz bei Publikum und Kritik erzielen konnte.

Ich, der Dichter Jesse Thoor –
dem Zünglein, Zeh und Ohr
und die Seele fror!

Wenn der März alle Bäche taut,
singe ich wieder laut!
Du meine hohe Braut!

Singe ich dein Herz gesund!
Du meines Sterbens Grund!
Küsse ich Deinen Mund!

Der in einem Arbeiterviertel Berlins unter seinem bürgerlichen Namen Peter Karl Höfler als Sohn österreichischer Eltern geborene und größtenteils im heimatlichen Rohrbach im Mühlviertel/Oberösterreich aufgewachsene Jesse Thoor, der aufgrund seines außergewöhnlich großen (kunst-)handwerklichen Talents zunächst zahlreiche traditionelle Berufe ausübte, teilweise sogar auf Wanderschaft und als Heizer auf See, hat sich Zeit seines Lebens und in seinem letzten Lebensjahrzehnt auch in zunehmend bewusster Abgrenzung vom Akademischen immer nach einem ehrlich-wahrhaftigen, fest in der menschlichen Realität verankerten, „tätigen Leben“ gesehnt – in der Unfähigkeit, sein herausragendes, schon seit frühester Jugend vital zu Tage tretendes und aktiv gepflegtes schriftstellerisches Talent zum Brotberuf zu machen, besteht die große Tragik seines Lebens.

Wir aber sind die Kraft, die Pflug und Hammer unverzagt bewegte.
Die schützend und gerecht die Wasserratte und den Marder schlug.
Die von den Feldern weg die Steine und das Unkraut trug.
Die Hand und Fuß und auch den Leib an alle Dinge legte.

Da ziehn die Wolken hin, es geht der Wind auf allen Wegen.
Der Mittag kennt die Kinder alle, und er kennt der Alten Leid.
Es schmückt die Nacht mit Schlaf und Traum ihr buntes Kleid,
und gibt dem Morgen seinen Glanz und seinen frühen Segen.

So sehen wir die Zeit am Zaun, den Rost an jedem Gitter.
Und sehn, es schießt der Halm beglückt empor, es reift der Wein.
Bald wird kein Mensch vor Kälte mehr und Hunger schrein.

Nun preisen wir die Sonne laut, den Mond und das Gewitter.
Die gute Absicht, die den Haß uns tröstend aus den Knochen taut.
Ein fühlend Herz, das Auge, das auf Erden schon den Himmel schaut.

Doch der in Jugendjahren engagierte Kommunist und bei zahlreichen entsprechenden Gelegenheiten mitreissende Redner Jesse Thoor, der direkt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten noch unter Lebensgefahr rote Fahnen auf Berliner Arbeiterhäusern hisste und der Gestapo dabei oft nur um Haaresbreite entkam, ist alles andere als ein Dichter eines utopistischen Idylls der aktiven Werktätigen. Besonders seine frühen, zornigen und klassenkämpferischen Sonette sind von der Literaturkritik immer wieder in Bezug zur Barocklyrik gesetzt sowie insbesondere als Nachhall der „Vagantenlyrik“ Francois Villons oder Arthur Rimbauds verstanden worden.

Dass diese vordergründig zunächst plausibel scheinende Interpretation allerdings deutlich zu kurz greift, weist der 1997 verstorbene kundige Co-Herausgeber Michael Hamburger, selbst Lyriker und Mitglied des Order of the British Empire, in seinem überaus aufschlussreichen und lesenswerten Nachwort nach, wobei ihm dabei insbesondere die intensive persönliche Bekanntschaft mit dem Autor in den gemeinsamen Londoner Jahren des Exils und der auf diese Weise gewonnene verständnisinnige, wohlmeinend-empathische Einblick in dessen zuletzt als durchaus kauzig zu bezeichnende Persönlichkeit zugute kommt.

Jesse Thoor/© ÖBV/unbezeichnet

Nicht zuletzt durch die bösartige Denunziation Jesse Thoors als angeblicher Gestapo-Agent durch kommunistische Kreise im britischen Exil, die dem Dichter eine wochenlange, erst durch persönliche Intervention des Erzbischofs von Canterbury beendete Internierung in Devon und auf der Isle of Man einbrachte, vollzog sich schließlich eine vollständige, auch in seinen Werken deutlich artikulierte Abkehr vom Kommunismus hin zu einer intuitiv-spirituellen Weltsicht, die dem „Christ of Revolution and of Poetry“ (David Gascoyne) huldigt und – so Hamburger – einer gefühlsmäßigen, ethisch und religiös bedingten Auflehnung gegen eine ungerechte und unzulängliche Gesellschaftsordnung entspringe – und erst in dieser Interpretation wird die Kontinuität in Jesse Thoors unnachahmlichem, zeitlos aktuellen Werk deutlich.

Wer sitzt unter den Zweigen,
kommt die Sonne gerollt;
und will uns zeigen
Silber und Gold?

Einer, der schweigt
aus vielen Weiten.
Einer, der sich verneigt
nach allen Seiten.

Einer, der den Wind treibt.
Der bläst lang und breit.
Und einer, der aufschreibt
unser Herzeleid.

Ein besonderes Beispiel für die außergewöhnliche künstlerische Wahrhaftigkeit Jesse Thoors ist seine gerade in späteren Jahren immer wieder angewandte Praxis bei der unablässigen, nimmermüden Überarbeitung seiner Gedichte, selbst als „unsagbar“ Wahrgenommenes oder Erfahrenes im Kern seiner poetischen Aussage nicht weiter in konkrete Worte zu fassen, sondern dem Numinosen mittels Auslassungszeichen dennoch wesentlichen, direkt sichtbaren Raum innerhalb des jeweiligen Versmaßes zu geben, so etwa in seinem Gedicht „Die Erde singt“:

– – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – –

Da fiel der Regen über meine Hand.
Da waren Gras und Blätter mein Gewand.

Da brach ein Licht aus allen Seiten.
Da sah ich einen Schatten gleiten.

Da liefen Rosse über meine Stufen.
Da hörte ich einen Vogel rufen.

Da kam ein großer Wagen gefahren.
Da schien die Sonne in meinen Haaren.

Der prophetisch-visionäre Grundton in vielen von Jesse Thoors Werken, der den Leser angesichts dessen urtümlicher Sprachgewalt unwillkürlich an biblische Psalmendichtungen denken lässt, nun befreit allerdings von jeglicher Last religiöser Dogmen, stellt seine vollkommen eigenständige Dichtung nicht nur in eine eindrucksvolle, uralte poetische Tradition, die vom „revolutionären“ Kern von Juden- und Christentum bis hin zum modernen Kommunismus und letztlich über dessen Überwindung hinaus reicht, sondern macht seine unvergesslichen, beharrlichen Verse auch jedem Leser auf intuitive Art und Weise unmittelbar zugänglich, wenn auch aus unserer aktuellen Sicht die freieren Gedichte der späteren Jahre zeitgemäßer erscheinen als die strenge, virtuos beherrschte Sonettform.

Wir wollen nicht gelobt werden, sondern wir wollen gelesen sein. [...] Menschen mit schönem Weltgefühl und tiefen Gedanken hatten es nie leicht; dies einzugestehen wäre schon viel. Wir würden nämlich in gleicher Weise zum Wohle aller zweierlei vollbringen: die Eisamkeit unserer Besten erträglich machen; das Gefühl der eigenen Verlassenheit mildern.

Die schöne, von Michael Lentz fertiggestellte und einfühlsam kommentierte neue Ausgabe sämtlicher Werke Jesse Thoors, die neben den bisher bekannten, bereits in früheren Ausgaben veröffentlichten Gedichten, auch bisher noch nicht publizierte oder vom Autor bewusst verworfene Werke sowie zahlreiche aufschlussreiche Briefe und dreizehn Kurzgeschichten enthält, zeigt den virtuosen Dichter als einen der großen Lyriker deutscher Sprache des schrecklichen Zwanzigsten Jahrhunderts, möglicherweise sogar als den größten unter all jenen, denen bisher aufgrund der grausamen Zeitumstände eine größere Öffentlichkeit verwehrt geblieben ist. Eine Neu- und Wiederentdeckung Jesse Thoors war zweifellos lange überfällig – dass diese nun von zwei gleichermaßen profilierten Lyrikern und kompetenten Literaturkritikern wie Michael Hamburger und Michael Lentz eingeleitet wird, ist ein besonders schöner Nebeneffekt dieser verdienstvollen Ausgabe.

„Jesse Thoor – Das Werk“, erschienen bei Wallstein, 468 Seiten, € 24,-


Samstag, 25. Januar 2014

„Wände die Sprechen/Walls That Talk“ herausgegeben von Werner Jung


Ein Sachbuch als authentisches aufklärerisches Mahnmal und gegenständliches Echo vom realen historischen Schrecken, das man leibhaftig aufsuchen kann, um sich nachhaltig daran wundzustoßen: ist das herausgeberisch und buchkünstlerisch überhaupt möglich?

Wer hier nicht war, der
kommt noch, und wer hier war, der wird es nicht vergessen.

Der von Werner Jung, dem langjährigen wissenschaftlichen Direktor des renommierten NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, mit großem wissenschaftlichen Sachverstand und akribischer Sorgfalt zusammengestellte, soeben erschienene und kostbar ausgestattete, großformatige, hoch informative Bildband „Wände, die Sprechen/Walls That Talk“ muss schon allein körperlich aus jedem gewöhnlichen Buchregal herausragen und fordert so die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Betrachters für sein vorbildliches Anliegen ein, die Schrecken des durch eine Ironie der Geschichte bis heute nahezu unverändert erhalten gebliebenen ehemaligen Kölner Gestapogefängnisses im EL-DE-Haus am Appelhofplatz nicht nur intellektuell, sondern eben auch auf höchst unmittelbare Art und Weise sinnlich erfahrbar zu machen.



An den kargen Wänden der insgesamt zehn Zellen von jeweils nur 4,6 bis neun Quadratmetern Größe in der seit 1981 öffentlich zugänglichen, physisch wie psychisch gleichermaßen bedrückenden „Gedenkstätte Gestapogefängnis“ der Stadt Köln befinden sich etwa 1800 Inschriften, die von den zahlreichen unseligen, dort zwischen 1935 und 1945 unter menschenunwürdigen Zuständen zusammengepferchten Gefangenen hinterlassen wurden.

Sei gegrüßt, meine Frau, aus der Ferne schreibt Dein Mann. Weit hinter der Mauer, bei der Gestapo, quält er sich, wenn er zum Fenster schaut. Aber die Freiheit und das liebe Töchterchen sind weit von ihm entfernt. Vergeblich beschmiert er die Wände, indem er Briefe an seine liebe Frau verfasst. Ihm erscheint das Foto seiner Frau an der Wand, und das liebe Töchterchen auf dem Arm. Du wirst heranwachsen und groß werden und die Stütze Deiner Mutter in ihren alten Tagen sein. Mit fester Hand am Steuer des Wagens, der über die Weiten des geliebten Landes fliegt – vergiss nicht, erinnere Dich, schau auf das Foto Deines Vaters.

Kaum hoch genug zu lobendes Anliegen des vorliegenden Bildbands ist nicht nur die lückenlose fotografische Dokumentation, Übersetzung ins Deutsche und Englische sowie die inhaltlich korrekte textliche Wiedergabe jener 1400 Inschriften, deren Zustand mehr als einen fragmentarischen Sinn erkennen lässt, sondern auch eine authentische bildliche Wiedergabe der katastrophalen räumlichen Verhältnisse innerhalb der zehn Zellen, die von den Gestapo-Schergen zum Teil mit jeweils mehr als zwanzig Gefangenen meist bewusst überbelegt wurden: mittels zahlreicher ausklappbarer Doppelseiten sind die sieben seit Kriegsende unverändert erhalten gebliebenen Zellen in ihrer gesamten Länge und Breite komplett fotografisch erfasst.

Die deutschen Sitten
enthüllen sich
besonders in Zelle 6,
wo die es fertigbringen,
bis zu dreiunddreißig Menschen
auf einmal hineinzupferchen!

Während der einführende wissenschaftlich-dokumentarische Text sehr reduziert und sachlich-kühl bleibt, sich geradezu in die vermeintliche Sicherheit einer reinen Auflistung der wichtigsten Eckdaten zurückzuziehen scheint, muss der Fototeil jeden unvoreingenommenen Betrachter unwillkürlich und selbst ohne das vorausgesetzte historische Vorwissen mit aller Macht überwältigen: den klaustrophobischen Schrecken der oft ohne Angabe von Gründen von der Straße oder aus dem Bett weg verhafteten Opfer der nationalsozialistischen Willkürherschaft vermeint der Betrachter der dunkel-engen Gänge und Zellen geradezu körperlich am eigenen Leib zu spüren.

In der Gedenkstätte


Den eigentlichen Schatz des Buches jedoch stellen die lückenlos dokumentierten Inschriften innerhalb der einzelnen Zellen dar, zunächst noch nach fünfzehn übergeordneten inhaltlichen Themenkreisen geordnet wie „Haft- und Lebensbedingungen“, „Folter und Verhör“, „Hoffnung“, „Abschiedsworte“ oder „Hinrichtung“; im umfangreichen Anhang folgt dann eine zweite, auf abweichendes, schwereres Papier gedruckte und nicht weiter durch Fotomaterial belegte zweite Auflistung nach Herkunftssprachen.

Die Sonne hat sich hinter der Wolke versteckt,
will nicht am Himmel spazierengehen.
Ich scheiße euch in die Fresse.

So entsteht ein ebenso verstörendes wie beeindruckendes Panorama der zahlreichen unterschiedlichen Strategien individuellen Umgangs des Einzelnen mit dem ihm von den Handlangern eines beispiellosen Terrorregimes unrechtmäßig aufgebürdeten Leiden, viel unmittelbarer und authentischer und möglichwerweise packender als es oft sogar noch die besten dichterischen Umsetzungen erster Hand zu leisten vermögen, vor allem aber auch ohne die in den meisten dieser allerdings namhaften und nicht weniger beeindruckenden Werken bereits vollzogene psychische und intellektuelle Verarbeitung des Erlittenen.

Mein Gott, wie gern möchte ich frei sein,
meine Nächsten noch einmal sehen,
an der frischen Luft mich erholen, aber
ich kann die Kette nicht zerbrechen!
Brecht die Ketten auf! Lasst mich frei! Ich
werde (Euch) lehren, wie man die Freiheit
liebt!

„Wände, die sprechen/Walls That Talk“ ist eine wirklich herausragende buchkünstlerische Veröffentlichung mit hohem wissenschaftlichem Anspruch, die als gedanklich betretbares Abbild des real existierenden Schreckensortes, nicht nur der besonderen Form nach zu Recht heraussticht und im positiven Sinne zu überwältigen vermag, um ein mahnendes, aufklärerisches, wesentliches Zeitzeichen zu setzen, sondern auch mehreren Tausend Verschleppten und Ermordeten im Kölner Gestapogefängnis ihre eigene verzweifelte, mutlose, zornige oder hoffnungsvolle persönliche Stimme zurückgibt, die ihre Peiniger ihnen zu Lebzeiten aufs Grausamste verwehrt haben.

„Wände die sprechen/Walls That Talk“, erschienen bei Emons, 420 Seiten, € 68,-


Dienstag, 21. Januar 2014

„Die irgendwie richtige Richtung – Eine Pilgerreise“ von Gideon Lewis-Kraus

Wenn man die alte Frage, ob Geschichte sich wiederholt, nach einem gründlichen Quellenstudium und mit wachem analytischen Blick für die Gegenwart mit ja zu beantworten geneigt ist, kann einem angesichts der anhaltenden Begeisterung in unserem westlichen Kulturraum für obskur-populäre Themenstellungen aus dem Grenzbereich von Spiritualität und Esoterik, wie sie nicht zuletzt im nachhaltigen breiten Erfolg des literarischen Genres der Fantasy im Verlauf der letzten fünfzehn Jahre deutlich geworden ist, angst und bange werden: denn auch der tödliche Irrweg Mitteleuropas nach den Katastrophen des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise in die schrecklichen faschistischen Diktaturen der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts ist aufs Engste verbunden mit einer irrationalen kollektiven Sehnsucht nach pseudoreligiöser Orientierung, die die Propagandisten des Faschismus geschickt zu lenken und für ihre teuflischen Zwecke zu instrumentalisieren verstanden.

Nun zeigt die Sehnsucht nach verbindlichen, auf die individuellen physischen und seelischen Bedürfnisse des einzelnen Menschen abgestimmten Maßstäben, die über die als eher rein juristisch wahrgenommene Formulierung der allgemeinen Menschenrechte und das sogenannte „natürliche“ Rechtsempfinden hinausreichen, möglicherweise sogar bis in eine Art von verstandesmäßig nicht erfassbarer durchaus von spirituellen Ansätzen geprägten Gegenwelt, in unserer in höchstem Maße aufgeklärten,, sachlich-vernünftigen, technokratischen und von vielen Menschen als seelenlos wahrgenommen kapitalistischen Gesellschaftsform vor allem einen umfassenden, existenziellen Mangel an – kaum jemand, der derzeit nicht auf der Suche wäre nach „der irgendwie richtigen Richtung“.

Genau so („A Sense of Direction“) hat der talentierte amerikanische Schriftsteller Gideon Lewis-Kraus, geboren 1980 in New Jersey, sein aufregendes erstes Buch betitelt: eine literarische Pilgerreise („Pilgrimage for the Restless and the Hopeful“), die den stilistisch brillanten langjährigen Kolumnisten verschiedener amerikanischer Zeitungen und Zeitschriften nicht nur auf den spanischen Jakobsweg, sondern auch auf den 1200 km langen Shikoku-Pilgerweg auf der gleichnamigen kleinsten der vier japanischen Hauptinseln sowie in die Ukraine zum Grab eines chassidischen Wunderrabbis geführt hat.



Wer angesichts des in Deutschland nach Hape Kerkelings gargantuösem Bestsellererfolg möglicherweise zwangsläufig irreführenden Titels jedoch spirituelle Erbauungsliteratur nach dem üblichen Schema eines inneren Erweckungserlebnisses erwartet, am liebsten mit leicht distanziertem Unterton, der einen ironischen Hauch des Zweifels im Leser zu bewahren vermag, wird von Lewis-Kraus' Buch auf jeden Fall enttäuscht werden. Denn seine herausragende schriftstellerische Leistung besteht vor allem darin, dem eigenen umfassenden kulturellen Unbehagen angesichts desalarmierend beliebig erscheinenden Status quo eine angemessene Sprache gegeben zu haben, in der sich zumindest die Generation der Dreißig- bis Vierzigjährigen mühelos wiedererkennen und treffend porträtiert fühlen dürfte.

Gideon Lewis-Kraus kam im Jahr 2007 nach einer schmerzhaft-gescheiterten Beziehung mit einem Fulbright-Stipendium nach Berlin, jedoch nicht um die von der zuständigen Kommission bereitwillig geförderte, avisierte Arbeit über junge deutsche Romanautoren der Gegenwart zu schreiben, sondern um ein unbeschwertes Leben als Bohemien in einer aufregend-dynamischen, jungen, aber überschaubaren Großstadt zu führen, in der man (nicht nur) als junger amerikanischer Möchtegern-Kulturschaffender gut und billig in den Tag hineinleben und an einem hypothetischen, eines Tages von aller Welt gefeierten, glänzenden Roman arbeiten kann.

Tom und ich teilten die Hoffnung, dass es eine geographische Lösung für Probleme wie Unentschlossenheit gab, für Langeweile und den Verdacht, dass attraktivere Menschen an angesagteren Orten interessantere Dinge erlebten. [...] Die wirtschaftlichen, kulturellen und psychologischen Anziehungskräfte Berlins – allein schon die schiere Menge an Zeit und Raum, die in anderen Städten von Brotjobs oder den erschöpfenden Anforderungen langjähriger Freundschaften aufgefressen wurde; der fast religiöse gemeinsame Glaube an die Möglichkeiten der eigenen Neuerfindung; eine Sucht nach den Versprechen des Neuen – sorgten in Berlin für eine stabile Kunstszene. Zumindest stand das in allen möglichen Sprachen in den verschiedensten Magazinen. [...] Das Entscheidende an Berlin war, dass hier niemand aus dem College war, der jetzt in der Finanzwelt arbeitete und einen fragte ob man mietete oder schon gekauft habe, niemand, der Medientratsch bloggte. Und dass es keine Orte wie [einen Club namens] Tausend gab. Was wiederum hieß, dass Berlin wahrscheinlich vorbei war, wenn ein Laden wie Tausend eröffnete. Aber dann nahm Emilie uns mit in den Damensalon, ein ehemaliges Kosmetikstudio in Neukölln mit nacktem Interieur, einer Sperrholzbar und einer riesigen Tanzfläche im Heizungskeller – und es war klar, dass nichts vorbei war, dass schon das Konzept absurd war, dass ein Ort vorbei sein könnte, genau wie das Konzept, dass ein Ort überhaupt erst einmal hip sein kann. Es kam allein auf die Person an, die einen Ort als hip bezeichnete. Nie war es der Ort selbst.

Gideon Lewis-Kraus schafft es auf geradezu kongeniale Art und Weise, die seit Jahrzehnten ungebrochene, scheinbar unverwüstliche Faszination des ständigen kreativen und oftmals auch subversiven Wandels von Berlin wiederzugeben, aber auch die rastlos-blendende Oberflächlichkeit, dünkelhaft-provinzielle Widersprüchlichkeit und tiefe innere Zerrissenheit dieser einzigen wahrhaftig internationalen deutschen Metropole – was ihm vermutlich gerade deshalb so viel besser, genauer und pointierter gelingt als man es in den letzten Jahren von deutschen Autoren gewohnt war, weil er dem Ruf der Stadt aus soviel größerer Entfernung (in doppelter Hinsicht) und soviel entschiedener gefolgt ist als der durchschnittliche deutsche Provinzler, der dem dem Hauch des scheinbar Sensationellen gewöhnlich viel ohnmächtiger erliegt, das sie besonders aus der Ferne zu umgeben scheint.

Gideon Lewis-Kraus/Foto: Rose Lichter-Marck 


Doch nach Monaten eines altersgemäß beliebigen, ungebundenen und kurzweiligen Lebens in der Kunst- und Literaturszene von Berlin, unzähligen durchfeierten Nächten mit späten Club-Frühstücken sowie zahlreichen wechselnden, jedoch stets einer eigenwilligen persönlichen Ethik gehorchenden sexuellen Abenteuern und einem nach und nach gewonnenen, detailliert-komischen Einblick in das immer noch ambivalente Verhältnis junger Deutscher zum Judentum beginnt der scharfsichtige Autor ganz allmählich, einen existenziellen, schwer benennbaren Mangel in seinem nicht nur für einen Vertreter seiner Generation ohne Zweifel ebenso erstrebens- wie erhaltenswerten Leben zu erkennen.

Ich hatte im lieblichen San Francisco gewohnt und war dann nach Berlin gezogen, weil ich das Gefühl hatte, sonst etwas Spannendes zu verpassen. Und jetzt war ich drauf und dran, das lebhafte und provisorische Berlin zu verlassen, weil ich befürchtete, etwas Ernsthaftes zu verpassen.

Während eines Kurzaufenthalts in Tallinn bei seinem gleichgesinnten weitläufigen Bekannten Tom, den er vor einem eifersüchtigen Nebenbuhler um die Gunst einer russischen Stripperin zu beschützen versprochen hat, sagt er diesem im Vollrausch einer weiteren durchzechten Nacht spontan zu, ihn bei seiner anstehenden Pilgerreise auf dem Spanischen Jakobsweg zu begleiten, wie er erst Wochen später bei einem Blick in seinen Terminkalender ungläubig erfährt. Doch diese Reise wird nur der Auftakt zu weiteren persönlichen Aufbrüchen sein, die den Erzähler vor allem auch dazu anregen, die schwierige Beziehung zu seinem Vater innerlich aufzuarbeiten, einem orthodoxen Gemeinderabbiner, der noch mit knapp fünfzig Jahren Hals über Kopf seine Familie verlassen hatte, um fortan auf unangemessen theatralische und peinlich exzessive Art und Weise seine verdrängte Homosexualität auszuleben.

Mehr als alles andere hoffte ich, seine beiden Fehler zu vermeiden – erstens: nicht das Leben gelebt zu haben, das er wollte, und zweitens: zu glauben, durch diese Entbehrung von allen anderen Pflichten befreit zu sein, zum Beispiel vom Abendessen mit seinen Kindern, wo man doch eigentlich länger in der Bar bleiben wollte. Oder von jeglichem Respekt für die Mutter dieser Kinder. Meine Angst vor Reue erklärte ich mir mit dem außerordentlich deutlichen Beispiel meines Vaters – einer schlechten und vielleicht feigen Entscheidung mit zwanzig waren ängstliche Dreißiger gefolgt, verbitterte Vierziger und hemmungslose Fünfziger. Das Leben meines Vaters war ein Beispiel für den Preis, den man zahlte, sofern man nicht handelte, wenn es an der Zeit dafür war.

Gideon Lewis-Kraus trifft wie nebenbei auch die „Frau seines Lebens“ – nur um sie bald darauf schon wieder schmerzvoll aus den Augen zu verlieren, und gewinnt auf seinem langen Fußweg zahlreiche wichtige persönliche Einsichten, die ihn fern jeglicher herkömmlicher Auffassung von Spiritualität näher zu sich selbst und einer bewussten Vergegenwärtigung seiner ureigenen Lebensmotive führen. Die von der äußeren Dynamik unserer Gesellschaftsform unabsichtlich verursachte fundamentale Leere im Einzelnen kann jenseits kollektiver religiöser Gemeinschaften nur durch eine bewusste willentliche und emotionale Anstrengung des Individuums gefüllt werden, indem dieses – notfalls per Ausschlusskriterium – diejenigen Dinge für sich selbst herausfiltert, die seiner Persönlichkeit als bewusstem Teil der Gemeinschaft am meisten entgegenkommen – so die durchaus reife, unbequeme und zeitgemäße Ansicht des Autors.

Die richtige Richtung


„Die irgendwie richtige Richtung“ ist leider noch nicht der große Roman, den Gideon Lewis-Kraus sich selbst, wie er wiederholt andeutet, seit seiner Jugendzeit abzufordern scheint. Sein blitzgescheites, hochreflektiertes und gleichzeitig immer überaus unterhaltsam zu lesendes, hellsichtiges, kluges Buch über die Glückssuche seiner Generation ist dennoch eine großartige, wunderbare und auf sympathisch-ehrliche Weise unvoreingenommene persönliche Entwicklungsgeschichte, die in dieser Hinsicht auch ein großes, noch unausgesprochenes künftiges literarisches Versprechen enthält. Gideon Lewis-Kraus ist ohne Zweifel einer jener aufregenden jungen amerikanischen Autoren, von denen man in Zukunft gerne hören wird.

„Die irgendwie richtige Richtung“, aus dem Amerikanischen von Thomas Pletzinger, erschienen bei Suhrkamp, 383 Seiten, € 16,99

Freitag, 17. Januar 2014

Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2014 an Pankaj Mishra

Pankaj Mishra ist ein ausgesprochen würdiger Preisträger des alljährlich im Frühjahr anlässlich der Leipziger Buchmesse vergebenen Sachbuchpreises zur Europäischen Verständigung. Sein in doppelter Hinsicht aktuelles, im vergangenen Herbst unter großem beifälligen Blätterrauschen der Feuilletons erschienenes epochales, umfangreiches Essay „Aus den Ruinen des Empires – Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“ ist ein ebenso eleganter wie faktenreicher, vor allem aber geistreicher, beherzter und somit überaus gelungener Versuch, der träge-ignoranten, ererbten Überheblichkeit unserer egozentrischen westlichen Weltsicht, die noch heute die Errungenschaften von Aufklärung und Industrialisierung als singuläre Großtaten der menschlichen Zivilisation feiert, eine Reihe von scharfsinnigen Antworten hierzulande kaum bekannter Geistesgrößen des Ostens entgegenzusetzen, die uns auf unterhaltsame und aufrüttelnde Art und Weise ein fundiertes Verständis jener gesellschaftlichen Prozesse liefern, die das Verhätnis von Osten und Westen im Zwanzigsten Jahrhundert geprägt haben.

Das erste Jahrzehnt [des Einundzwanzigsten Jahrhunderts] ist bereits durch den Krieg gegen den Terrorismus verunstaltet worden. Im Rückblick jedoch könnte er sich als bloßes Vorspiel zu größeren und blutigeren Konflikten um wertvolle Rohstoffe und Erzeugnisse erweisen, auf die in Modernisierung begriffene wie auch bereits moderne Volkswirtschaften angewiesen sind. Die hinter dem Streben nach endlosem Wirtschaftswachstum stehende Hoffnung – dass Milliarden von Konsumenten in Indien und China eines Tages denselben Lebensstandard haben werden wie Europäer und Amerikaner – ist eine ebenso absurde und gefährliche Phantasie wie die Träume von al-Qaida. Sie verdammt die globale Umwelt dazu, bald zerstört zu werden, und schafft ein gewaltiges Reservoir an nihilistischer Wut und Enttäuschung bei vielen Hundertmillionen Habenichtsen – das bittere Ergebnis des weltweiten Triumphs der westlichen Moderne, das die Rache des Ostens bedrohlich zweideutig erscheinen lässt und all seine Siege in wahrhafte Pyrrhussiege verwandelt.



Dabei wird schon allein am bisherigen Lebensweg des begabten Autors deutlich, dass ein Preis für Europäische Verständigung im Grunde viel zu eng bemessen ist für Pankaj Mishras geradezu weltenumarmende, stets vom Prinzip der Versöhnung beseelten Themenstellung. Der 1969 in Jhansi/Nordindien geborene Schriftsteller, Buchlektor und Literaturkritiker ist ein wahrhafter Wanderer zwischen den Kulturen – physisch wie gedanklich –, der zwei vollkommen gegensätzliche Wohnsitze in London und dem kleinen Dorf Mashobra an den Nordhängen des Himalaya unterhält und der sich in den vergangenen zwanzig Jahren vor allem einen Namen als brillanter Denker und glänzender Essayist gemacht hat, der von rein literarischen oder philosophischen Fragestellungen über die historische Gestalt des Religionsstifters Buddha bis zum modernen China oder Indien nahezu jedes Thema als überaus begabter Stilist nicht nur mühelos zu beherrschen scheint, sondern dabei auch stets liebenswürdig und unterhaltsam bleibt.


Pankaj Mishra/Foto: Nina Subin

This is the biggest book since „Midnight's Children“!

Nur wenige Leser scheinen sich jedoch zu erinnern, dass Mishra 1996 als Lektor bei HarperCollins den bislang mit Abstand größten Bucherfolg einer indischen Schriftstellerin auf dem internationalen Buchmarkt mit seiner begeisterten Expertise ursächlich einleitete, den in englischer Sprache verfassten autobiografischen Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ von Arundhati Roy, dessen Rechte auf Anhieb in 21 Länder verkauft werden konnten und der neben zahlreichen anderen Auszeichnungen im Jahr 1997 vollkommen zu Recht mit dem renommierten Booker Prize bedacht wurde. Doch auch ihr Entdecker veröffentlichte zwei Jahre später einen bemerkenswerten zärtlich-ironischen Liebes- und Entwicklungsroman, der in der deutschen Erstausgabe „Benares oder Eine Erziehung des Herzens“ (2001), in der lange überfälligen und erst sieben Jahre später veröffentlichten, jedoch in Deutschland leider gleichermaßen unbeachtet gebliebenen Taschenbuchausgabe durchaus werkgetreu „Die Romantischen“ hieß.

Wenn man in den Zwanzigern ist, können sieben Jahre eine lange Zeit sein – vor allem, wenn man ein zurückgezogenes Leben führt, wenn man weder Ehrgeiz noch Liebe kennt noch irgendeiner anderen für dieses Alter typischen Beschäftigung nachgeht.

In diesem wunderbaren, heiter-melancholischen, leichtfüßigen Roman ließ Mishra in Stadt Benares verschiedene, höchst unterschiedliche Protagonisten aus verschiedenen Kulturkreisen aufeinandertreffen, die allesamt – wenn auch auf individuell unterschiedliche Weise – ihr vermeintliches Lebensglück in jeweils anderen Kulturen als ihren eigenen suchten. Im Mittelpunkt des Buches steht der weltfremde junge Inder Samar, ein schüchterner, zurückhaltender Büchernarr, der sich durch die unglückliche Liebe zu der jungen französischen Backpackerin Catherine erstmals vollends dem Leben zu öffnen vermag. Da Pankaj Mishra schon in diesem ersten Roman sein schriftstellerisches Lebensthema gefunden hatte, das er mittlerweile durch zahlreiche brillante Essays eindrücklich untermauert hat, bleibt zu hoffen, dass mit dem verdienten Rückenwind des schönen Leipziger Buchpreises auch sein einziges belletristisches Werk wieder veröffentlicht und vielleicht erstmals von einem größeren Publikum in Deutschland entdeckt und gewürdigt werden kann.

Die Welt erneuert sich ständig; und unter diesem Aspekt betrachtet erscheinen Bedauern und Nostalgie gleichermaßen müßig. Aber die Vergangenheit lebt weiter, in den Menschen ebenso wie in den Städten. Ich brauche nur auf diesen Winter in Benares zurückzuschauen, um zu erkennen, wie schwer es ist, loszulassen.


Abendstimmung in Benares/Varanasi


Es ist erfreulich, dass in diesem Jahr ein ebenso sanfter wie kämpferischer Spezialist für zunächst intellektuell verinnerlichte, aber auch tatsächlich gelebte interkulturelle Verständigung und Versöhnung mit dem Leipziger Buchpreis bedacht wird, der mit seinem eindrucksvollen Preisgeld von 15.000 EUR weit mehr als eine bloße Anerkennung von rein ideellem Wert darstellt, sondern für einen originellen, in höchstem Maße begabten Schriftsteller und scharfsinnigen Denker als wunderbare, unverhoffte künftige wirtschaftliche Arbeitsgrundlage gelten darf.


„Aus den Ruinen des Empires“, aus dem Englischen von Michael Bischoff, erschienen bei S. Fischer, 448 Seiten, € 26,99

Mittwoch, 15. Januar 2014

„Böhmisches Blut“ von Philip Kerr

Wenn es innerhalb der sogenannten „Schwarzen Reihe“ des klassischen amerikanischen Kriminalromans noch eine existenzielle Steigerung dessen charakteristischer Grundkonstellation eines ganz auf sich allein gestellten, seelisch tief verwundeten Ermittlers geben sollte, der in einem grausamen, amoralischen und sittlich verrohten Milieu mit einer unwiderstehlichen Mischung aus Mut und Verzweiflung, stets in Todesgefahr schwebend und immer am Rande der Selbstverleugnung versucht, sich einen elementar-menschlichen Kern von Selbstachtung und Rechtschaffenheit zu bewahren, so ist es ohne Zweifel Philip Kerrs international erfolgreiche Berlin-Noir-Reihe um den sympathisch-widerspenstigen Berliner Kriminalkommissar Bernhard Gunther, der von der zynischen Willkür seiner nationalsozialistischen Vorgesetzten erbarmungslos durch das Deutschland der 1930er und 40er Jahre sowie über die schrecklichen Schauplätze des kollektiven sinnlosen Mordens des Zweiten Weltkriegs gehetzt wird.

Um mutig zu sein, muss man zuerst Angst haben, glaub's mir. Alles andere ist töricht. Und es ist nicht der Mut, der die Menschen am Leben erhält. Es ist die Angst.

In dieser von brutalem Staatsterror dominierten Vorhölle des Diesseits hat das menschliche Individuum zwar rein theoretisch durchaus noch die Möglichkeit einer frei-willentlichen Wahl; wenn es diese jedoch auch in jenem moralisch entgrenzten Rechtssystem, das die subjektiven Maßstäbe der totalitären Machthaber zum alleingültigen und allgemein verbindlichen Entscheidungskriterium erhoben hat, dennoch nach den gleichsam „natürlichen“ Grundsätzen des Humanismus bis in letzte Konsequenz zu treffen bereit ist, kann dies nicht nur den eigenen Tod bedeuten, sondern auch den Tod derer, für die man sich in fürsorglicher Liebe oder gesellschaftlicher Solidarität (mit-)verantwortlich weiß.



Philip Kerrs Bernie-Gunther-Romane erscheinen nicht in korrekter inhaltlicher Reihenfolge. Während wir in vorangegangenen Bänden bereits den persönlichen Wedegang des unwiderstehlichen Protagonisten nach Ende des Zweiten Weltkriegs mitverfolgen durften, der ihn ausgerechnet unter der unwahrscheinlich Tarnung eines Nazi-Kriegsverbrechers ins argentinische Exil, nach Kuba und anschließend wieder zurück in geteilte Berlin der sich bereits abzeichnenden Nachkriegsordnung des Kalten Krieges führt, setzt der neueste Band „Böhmisches Blut“ direkt nach Gunthers wesentlichem Lebenstrauma ein, über das bisher nur andeutungsweise berichtet wurde: seine aktive Beteiligung am Holocaust als Mitglied eines SS-Kommandos, in das er nach dem politisch-motivierten Ausscheiden aus dem Polizeidienst aufgrund seines ihm von den parteitreuen Vorgesetzten attestierten „angeborenen Querulantentums“ als Strafmaßnahme zwangsläufig geraten war.

Sie sind wirklich ein schrecklich vulgärer, lästiger Zeitgenosse, Gunther. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?“ -
Schon häufig. Das muss etwas mit den vielen vulgären Mordfällen zu tun haben, in denen ich ermittle. Nicht zu vergessen die Morde, die ich zu begehen genötigt wurde. Natürlich bilde ich damit unter diesem Dach keine Ausnahme. Aber wie Hauptmann Kuttner hat mir etwas daran nicht gefallen. Und darum bin ich jetzt hier und spreche mit Ihnen, statt die gute und wertvolle Arbeit mit den Jungs vom Sondereinsatzkommando im Osten weiterzuführen.“

Im mittlerweile achten Band der Reihe, angesiedelt im Frühsommer 1941, findet er sich nach seiner Abberufung aus der SS erneut als gewöhnlicher Polizeibeamter im Rang eines Hauptmanns im Berliner Reichssicherheitshauptamt wieder, wo er zu einer Mordermittlung der Gestapo an einem mutmaßlichen tschechischen Spion hinzugerufen wird; sofort erkennt er nicht nur dessen höchstwahrscheinliche Verstrickung in einen anderen, nur wenige Tage zurückliegenden als Unfall getarnten Mordfall an einem holländischen Bahnarbeiter, sondern muss auch seine eigene ungewollte Beteiligung am Tod des Tschechen anerkennen.

Besprechung hochrangiger Nazi-Funktionäre (Heydrich, 2.v.R.)


Aber noch bevor er die beiden Fälle abschließend zusammenführen und deren Hintergründe vollends aufklären kann, erhält er jedoch einen neuerlichen unerwarteten Marschbefehl von seinem ganz persönlichen, leibhaftigen und real existierenden Dämon, der ihm während der vergangenen Jahre nicht nur, wie wir als aufmerksame Leser der Buchreihe wissen, die schlimmsten moralischen Niederlagen seines Lebens zugefügt hat, sondern auch immer wieder überraschend die Hand schützend über ihn gehalten hat, um sich seiner außergewöhnlichen kriminalistischen Fähigkeiten zu bedienen: SS-General Reinhard Heydrich, maßgeblicher Organisator des organisierten Massenmords an den europäischen Juden, der von Hitler soeben zum stellvertetenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, der annektierten Tschechoslowakei, ernannt worden ist und auf seinem Landgut „Jungfern Beschan“ (Panenské Břežany) nahe Prag seine, wie es in der Einladung heißt, „treuesten Freunde“ zur Feier dieses aktuellen Anlasses eingeladen hat.

Heydrich ist vieles, aber langweilig ist er nie. Die meiste Zeit habe ich zuviel Angst vor ihm, um mich zu langweilen. [...] Ich fürchte mich vor jedem Einzelnen da draußen. Ich fürchte mich davor, was sie mir antun können. Ich fürchte, was sie Deutschland antun können.

Bernie Gunther tritt die Reise also mit bösen Vorahnungen an, nicht zu Unrecht fürchtend, dass er diese im schlimmsten Fall möglicherweise nicht überleben wird; Heydrich eröffnet ihm nach seiner Ankunft, dass er ihn als persönlichen Leibwächter wünsche, da er ihm gerade aufgrund seiner weltanschaulichen Unabhängigkeit und moralischen Integrität mehr vertraue als jedem anderen möglichen Kandidaten aus dem Parteiapparat. Da man „Heydrich nichts ungestraft abschlagen kann“, wie Bernie aus eigener bitterer Erfahrung nur allzu gut weiß, nimmt er das Angebot mit größtem Widerwillen an, sieht sich aber schon am nächsten Morgen mit einer weiteren nahezu unlösbaren Aufgabe konfrontiert: einer von Heydrichs vier Adjutanten ist in der Nacht unter mysteriösen Umständen in seinem eigenen, von innen verriegelten Zimmer erschossen worden und er, Gunther, soll den Fall offiziell aufklären.

Es ist ein Rätsel, Chef. Ein Mann liegt erschossen in seinem Schlafzimmer im ersten Stock, das von innen abgeschlossen ist. Die Fenster sind verriegelt, und wir finden keine Mordwaffe. Im Flur liegt die Hülse einer 9-mm-Parabellum, also wurde eindeutig eine Waffe abgefeuert, vermutlich zwischen Mitternacht und, sagen wir mal, etwa fünf Uhr heute Morgen. Und man sollte doch meinen, dass jemand das bemerkt hat, denn die P38 wurde ja nicht von der Wehrmacht ausgesucht, weil sie eine verflixt leise Waffe ist. Sie können unmöglich alle so besoffen gewesen sein, dass sie nichts gehört haben.

Als Mörder kommt folglich nur einer der zahlreichen anwesenden hochdekorierten Militärs infrage. Obwohl sich Bernie der Gefahr schmerzlich bewusst ist, in der er sich nun befindet, genießt er sichtlich und mit geradezu selbstmörderischem Elan die unverhoffte Möglichkeit, die verhassten Protagonisten der Nazi-Diktatur in ihrer ganzen Verkommenheit im strengen Rahmen seiner unkonventionell und mit sarkastischem Witz geführten Verhöre auf schonungsloseste Art und Weise bloßzustellen. Nicht zuletzt fühlt er sich dem Mordopfer, Hauptmann Kuttner, auf besondere Art und Weise verpflichtet, da dieser aufgrund seiner Beteiligung am Völkermord im besetzten Lettland ebenfalls unter erheblichen Gewissensqualen litt und nur noch mit Hilfe hoch dosierter Beruhigunsmittel schlafen konnte.

Er klang so vernünftig, dass ich mich daran erinnern musste, dass er über Massenmord sprach.

Während einige von Philip Kerrs in höchstem Maße spannenden, historisch fundierten und sorgfälig recherchierten Bernie-Gunther-Romanen formal eher Richtung Thriller ausschlagen, darf man seinen neuesten Wurf „Böhmisches Blut“ eher als geniale apokalyptische Hommage an den klassischen britischen Kriminalroman verstehen. Die Mordumstände sind ohne wesentliche Veränderung Agatha Christies Hercule-Poirot-Vehikel „Alibi“ aus dem Jahr 1926 entnommen, das bereits 1928 auch in deutscher Übersetzung erschienen war und so möglicherweise zur realen Lektüre des erklärten Krimi-Fans Reinhard Heydrich gezählt haben könnte. Dass dieser nicht nur ein doppelt abgekartetes böses Spiel mit ihm betreibt, merkt Bernhard viel zu spät.

Ort der Handlung: Unteres Schloss in Panenské Břežany

 

Philip Kerrs herausragende Leistung in seinem großartigen neuen Roman besteht vor allem in der Erkenntnis der grandiosen Möglichkeit, ein gutes Dutzend exemplarischer Tätercharaktere des nationalsozialistischen Terrorregimes kammerspielartig an einem eng umrissenen Handlungsort zusammenzuführen und ihre verquere, mörderisch-amoralische Ideologie anhand eines brutalen und vollkommen sinnlosen Mordes an einem im Grunde armseligen Mitläufer konsequent ad absurdum zu führen. Dies im Rahmen einer Bühnen-Farce sogar noch weiter auf die Spitze zu treiben, wäre vermutlich eine geeignete, überaus lohnende Aufgabe für den genialen Dramatiker George Tabori (1914-2007) gewesen.

„Böhmisches Blut“ ist aber nicht nur eine ebenso gelungene wie nachhaltig fesselnde Fortsetzung der einzigartigen und bislang unerreichten Berlin-Noir-Reihe, sondern vor allem auch ein schönes literarisches Plädoyer für die wunderbare menschlichen Eigenschaft, auch unter widrigsten Umständen stets nach Aufrechterhaltung der persönlichen Integrität zu streben und den innersten Kern der Humanität niemals preiszugeben.

„Böhmisches Blut“, aus dem Englischen von Juliane Pahnke, erschienen bei Wunderlich, 480 Seiten, € 19,95