Zwar gab es im
schicksalhaften Jahr des österreichischen Anschlusses an
Nazi-Deutschland 1938 ausgesprochen namhafte und über jeden Zweifel
erhabene deutsche Exil-Schriftsteller wie Thomas Mann oder Franz
Werfel, die ihren prominenten meinungsbildenden Einfluss erfolgreich
geltend zu machen vermochten, damit ihr zu jener Zeit noch völlig
unbekannter, hochtalentierter junger Kollege, der Sonett-Dichter
Jesse Thoor (geboren 1905) mittels eines bescheidenen, gleichsam
„lebenserhaltenden“ Literaturstipendiums von seinem Zufluchtsort
Brünn in der Tschechoslowakei gerade noch rechtzeitig nach London
ausreisen konnte.
Ich [Franz Werfel]
empfehle den Dichter Jesse Thoor auf das dringendste für ein
Stipendium. Seine Sonette sind zweifellos die erstaunlichste
Leistung, die mir auf dem Gebiet deutscher Lyrik seit Jahren begegnet
ist. Sie zeigen nicht nur eine dichterische Sprache – und Bildkraft
hohen Grades, sondern gestalten auch einen Zustand der Seele, der
einmal vielleicht für unsere Epoche charakteristisch und
dokumentarisch sein wird.
Dieser lebensrettende,
vielen anderen begabten Künstlern verwehrt gebliebene Weg sollte
sich jedoch rückblickend lediglich als der bloße Übertritt von
einer bitteren, künstlerischen wie menschlichen Isolation in die
nächste erweisen: zu Lebzeiten des 1952 bei einem
Freundschaftsbesuch in Lienz/Osttirol überraschend an einem
Herzanfall verstorbenen, höchst originellen und in seiner
universellen Aussage auch aus heutiger Sicht noch absolut zeitlos
scheinenden, stets am Existenzminimum lebenden Dichters ist nur ein
einziger schmaler Band mit einer kleinen Auswahl seiner Sonette
erschienen, der überdies im geschäftigen Nachkriegsjahr 1948 keine
irgendwie nennenswerte Resonanz bei Publikum und Kritik erzielen
konnte.
Ich,
der Dichter Jesse Thoor –
dem
Zünglein, Zeh und Ohr
und
die Seele fror!
Wenn
der März alle Bäche taut,
singe
ich wieder laut!
Du
meine hohe Braut!
Singe
ich dein Herz gesund!
Du
meines Sterbens Grund!
Küsse
ich Deinen Mund!
Der in einem
Arbeiterviertel Berlins unter seinem bürgerlichen Namen Peter Karl
Höfler als Sohn österreichischer Eltern geborene und größtenteils
im heimatlichen Rohrbach im Mühlviertel/Oberösterreich
aufgewachsene Jesse Thoor, der aufgrund seines außergewöhnlich
großen (kunst-)handwerklichen Talents zunächst zahlreiche
traditionelle Berufe ausübte, teilweise sogar auf Wanderschaft und
als Heizer auf See, hat sich Zeit seines Lebens und in seinem letzten
Lebensjahrzehnt auch in zunehmend bewusster Abgrenzung vom
Akademischen immer nach einem ehrlich-wahrhaftigen, fest in der
menschlichen Realität verankerten, „tätigen Leben“ gesehnt –
in der Unfähigkeit, sein herausragendes, schon seit frühester
Jugend vital zu Tage tretendes und aktiv gepflegtes
schriftstellerisches Talent zum Brotberuf zu machen, besteht die
große Tragik seines Lebens.
Wir
aber sind die Kraft, die Pflug und Hammer unverzagt bewegte.
Die
schützend und gerecht die Wasserratte und den Marder schlug.
Die
von den Feldern weg die Steine und das Unkraut trug.
Die
Hand und Fuß und auch den Leib an alle Dinge legte.
Da
ziehn die Wolken hin, es geht der Wind auf allen Wegen.
Der
Mittag kennt die Kinder alle, und er kennt der Alten Leid.
Es
schmückt die Nacht mit Schlaf und Traum ihr buntes Kleid,
und
gibt dem Morgen seinen Glanz und seinen frühen Segen.
So
sehen wir die Zeit am Zaun, den Rost an jedem Gitter.
Und
sehn, es schießt der Halm beglückt empor, es reift der Wein.
Bald
wird kein Mensch vor Kälte mehr und Hunger schrein.
Nun
preisen wir die Sonne laut, den Mond und das Gewitter.
Die
gute Absicht, die den Haß uns tröstend aus den Knochen taut.
Ein
fühlend Herz, das Auge, das auf Erden schon den Himmel schaut.
Doch der in Jugendjahren
engagierte Kommunist und bei zahlreichen entsprechenden Gelegenheiten
mitreissende Redner Jesse Thoor, der direkt nach der Machtübernahme
der Nationalsozialisten noch unter Lebensgefahr rote Fahnen auf
Berliner Arbeiterhäusern hisste und der Gestapo dabei oft nur um
Haaresbreite entkam, ist alles andere als ein Dichter eines
utopistischen Idylls der aktiven Werktätigen. Besonders seine
frühen, zornigen und klassenkämpferischen Sonette sind von der
Literaturkritik immer wieder in Bezug zur Barocklyrik gesetzt sowie
insbesondere als Nachhall der „Vagantenlyrik“ Francois Villons
oder Arthur Rimbauds verstanden worden.
Dass diese vordergründig
zunächst plausibel scheinende Interpretation allerdings deutlich zu
kurz greift, weist der 1997 verstorbene kundige Co-Herausgeber
Michael Hamburger, selbst Lyriker und Mitglied des Order of the
British Empire, in seinem überaus aufschlussreichen und
lesenswerten Nachwort nach, wobei ihm dabei insbesondere die
intensive persönliche Bekanntschaft mit dem Autor in den gemeinsamen
Londoner Jahren des Exils und der auf diese Weise gewonnene
verständnisinnige, wohlmeinend-empathische Einblick in dessen
zuletzt als durchaus kauzig zu bezeichnende Persönlichkeit zugute
kommt.
Jesse Thoor/© ÖBV/unbezeichnet |
Nicht zuletzt durch die
bösartige Denunziation Jesse Thoors als angeblicher Gestapo-Agent
durch kommunistische Kreise im britischen Exil, die dem Dichter eine
wochenlange, erst durch persönliche Intervention des Erzbischofs von
Canterbury beendete Internierung in Devon und auf der Isle of Man
einbrachte, vollzog sich schließlich eine vollständige, auch in
seinen Werken deutlich artikulierte Abkehr vom Kommunismus hin zu
einer intuitiv-spirituellen Weltsicht, die dem „Christ of
Revolution and of Poetry“ (David Gascoyne) huldigt und – so
Hamburger – einer gefühlsmäßigen, ethisch und religiös
bedingten Auflehnung gegen eine ungerechte und unzulängliche
Gesellschaftsordnung entspringe – und erst in dieser Interpretation
wird die Kontinuität in Jesse Thoors unnachahmlichem, zeitlos
aktuellen Werk deutlich.
Wer
sitzt unter den Zweigen,
kommt
die Sonne gerollt;
und
will uns zeigen
Silber
und Gold?
Einer,
der schweigt
aus
vielen Weiten.
Einer,
der sich verneigt
nach
allen Seiten.
Einer,
der den Wind treibt.
Der
bläst lang und breit.
Und
einer, der aufschreibt
unser
Herzeleid.
Ein besonderes Beispiel
für die außergewöhnliche künstlerische Wahrhaftigkeit Jesse
Thoors ist seine gerade in späteren Jahren immer wieder angewandte
Praxis bei der unablässigen, nimmermüden Überarbeitung seiner
Gedichte, selbst als „unsagbar“ Wahrgenommenes oder Erfahrenes im
Kern seiner poetischen Aussage nicht weiter in konkrete Worte zu
fassen, sondern dem Numinosen mittels Auslassungszeichen dennoch
wesentlichen, direkt sichtbaren Raum innerhalb des jeweiligen
Versmaßes zu geben, so etwa in seinem Gedicht „Die Erde singt“:
– –
– – – – – – – – – –
– –
– – – – – – – – – –
Da
fiel der Regen über meine Hand.
Da
waren Gras und Blätter mein Gewand.
Da
brach ein Licht aus allen Seiten.
Da
sah ich einen Schatten gleiten.
Da
liefen Rosse über meine Stufen.
Da
hörte ich einen Vogel rufen.
Da
kam ein großer Wagen gefahren.
Da
schien die Sonne in meinen Haaren.
Der prophetisch-visionäre
Grundton in vielen von Jesse Thoors Werken, der den Leser angesichts
dessen urtümlicher Sprachgewalt unwillkürlich an biblische
Psalmendichtungen denken lässt, nun befreit allerdings von jeglicher
Last religiöser Dogmen, stellt seine vollkommen eigenständige
Dichtung nicht nur in eine eindrucksvolle, uralte poetische
Tradition, die vom „revolutionären“ Kern von Juden- und
Christentum bis hin zum modernen Kommunismus und letztlich über
dessen Überwindung hinaus reicht, sondern macht seine
unvergesslichen, beharrlichen Verse auch jedem Leser auf intuitive
Art und Weise unmittelbar zugänglich, wenn auch aus unserer
aktuellen Sicht die freieren Gedichte der späteren Jahre zeitgemäßer
erscheinen als die strenge, virtuos beherrschte Sonettform.
Wir wollen nicht gelobt
werden, sondern wir wollen gelesen sein. [...] Menschen mit schönem
Weltgefühl und tiefen Gedanken hatten es nie leicht; dies
einzugestehen wäre schon viel. Wir würden nämlich in gleicher
Weise zum Wohle aller zweierlei vollbringen: die Eisamkeit unserer
Besten erträglich machen; das Gefühl der eigenen Verlassenheit
mildern.
Die schöne, von Michael
Lentz fertiggestellte und einfühlsam kommentierte neue Ausgabe
sämtlicher Werke Jesse Thoors, die neben den bisher bekannten,
bereits in früheren Ausgaben veröffentlichten Gedichten, auch
bisher noch nicht publizierte oder vom Autor bewusst verworfene Werke
sowie zahlreiche aufschlussreiche Briefe und dreizehn Kurzgeschichten
enthält, zeigt den virtuosen Dichter als einen der großen Lyriker
deutscher Sprache des schrecklichen Zwanzigsten Jahrhunderts,
möglicherweise sogar als den größten unter all jenen, denen bisher
aufgrund der grausamen Zeitumstände eine größere Öffentlichkeit
verwehrt geblieben ist. Eine Neu- und Wiederentdeckung Jesse Thoors
war zweifellos lange überfällig – dass diese nun von zwei
gleichermaßen profilierten Lyrikern und kompetenten
Literaturkritikern wie Michael Hamburger und Michael Lentz
eingeleitet wird, ist ein besonders schöner Nebeneffekt dieser
verdienstvollen Ausgabe.
„Jesse Thoor – Das Werk“, erschienen bei Wallstein, 468 Seiten, € 24,-