Der strahlendste,
ehrwürdigste und in seiner internationalen Wirkung ohne Zweifel auch
wichtigste französische Literaturpreis Prix Goncourt,
der einschließlich seiner zahlreichen Nebenpreise alljährlich von
einer wechselnden Jury aus zehn renommierten französischsprachigen
Schiftstellern bestellt wird und damit wohl (möglicherweise auch
gerade wegen seiner rein symbolischen Dotierung von zehn Euro)
weltweit auch als einer der fundiertesten und in vielerlei Hinsicht
wahrhaftigsten Literaturpreise gelten muss, ist von außen sehr oft
als Preis für ehrgeizige Autoren aus dem Grenzgebiet zur Philosophie
wahrgenommen worden, die in ihren literarischen Denkgebäuden –
durchaus einem bestimmten französischen Publikumsgeschmack Rechnung
tragend – besonders extreme intellektuelle Ausflüge in
existenzielle Ausnahmesituationen wagen: Alexis Jenni, Michel
Houllebecq und Jonathan Littell sind mit ihren kontrovers dikutierten
jüngsten Romanen nur drei der namhaftesten Preisträger der letzten
zehn Jahre.
Das
großartige, überaus lesenswerte, soeben in deutscher Übersetzung
erschienene späte Romandebüt des langjährigen hochrangigen
französischen Staatsbeamten und Diplomaten Francois Garde (geboren
1959), eindrucksvoll ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt du
premier Roman 2012 sowie sieben weiteren Literaturpreisen, ist da
zumindest inhaltlich keine Ausnahme: ausgehend von einer höchst
realen historischen Begebenheit, die unwillkürlich an Kaspar Hauser
oder das berühmte „Wolfskind“ Victor de l'Aveyron denken lässt,
erzählt er in sehr freier Form die unglaubliche Geschichte des
jungen französischen Matrosen Narcisse Pelletier, der im Jahr 1843
unter höchst unglücklichen Umständen von der Mannschaft seines
Schiffes vollkommen auf sich allein gestellt an der Ostküste
Australiens zurückgelassen und erst siebzehn Jahre später zufällig
als Mitglied eines Eingeborenenstammes wiederentdeckt und als
unerklärliches Kuriosum eines nackten Weißen, der keiner bekannten
Sprache mächtig zu sein scheint, ins damalige Provinznest Sydney
verschleppt wurde.
Seine ganze Erscheinung
legt mithin nahe, oder besser gesagt, sie macht ganz klar deutlich,
dass er der weißen Rasse angehört. Er scheint intelligent zu sein:
Wenn man ihn anspricht, hört er zu, äußert mithilfe von Gesten
elementare Gefühle und gehorcht Anweisungen: aufstehen, herkommen,
eine bestimmte Grenze nicht überschreiten. Auf Stimmlagen reagiert
er sehr sensibel: Freundlichkeit, Wut, Angst oder Schmerz rühren
sein Interesse und Mitgefühl.
Francois Garde gestaltet
seinen faszinierenden historischen Stoff als fesselnden Abenteuer-
und Entwicklungsroman klassischen Zuschnitts. Ähnlich wie T.C. Boyle
in seiner grandiosen und für sein übriges Werk geradezu atypisch
konzentrierten Erzählung über Victor de l'Aveyron gelingt es ihm
dabei auf geradezu beeindruckende Art und Weise, seine künstlerischen
Mittel voll und ganz in den Dienst der Handlung sowie des
übergeordneten Gehalts seines behutsam entwickelten
kulturpessimistischen Resümees zu konzentrieren. Dabei sind es
gerade die historischen Freiheiten und offensichtlichen
Ungenauigkeiten, die sein schwieriges, verschiedene historische
Disziplinen der wissenschaftlichen Weltdurchdringung berührendes
Sujet für den heutigen Leser so überaus attraktiv, zugänglich und
stimmig machen.
Narcisse Pelletier |
Als der britische
Gouverneur, in dessen fürsorgliche Verantwortlichkeit der mysteriöse
weiße Wilde mittlerweile übergegangen ist, eine kleine Gruppe von
zufällig in der Stadt anwesenden, ausnahmslos honorigen Vetretern
verschiedener Nationen zur Hilfe ruft, um anlässlich einer formellen
Soiree in Erfahrung zu bringen, ob jener möglicherweise auf eine der
hier versammelten Sprachen reagiert, erfährt der erfolglose, beinahe
resignierte französische Forschungsreisende Graf Octave de
Vallombrun unverhofft seine künftige Lebensaufgabe: nachdem er
einige von dem unglücklichen Gefangenen stetig wiederholten
Silben als eindeutig französischen Ursprungs identifiziert hat,
bringt er erhebliche Mühen und Kosten auf, um dem „verlorenen
Sohn“ die vergessene Muttersprache sowie die Kultur seiner Heimat
wieder ins Gedächtnis zu rufen und ihn nach Frankreich
zurückzubringen, wovon er sich vor allem nachhaltigen
wissenschaftlichen Ruhm erhofft.
Wenn ich ihn so beim
Korbflechten betrachte, frage ich mich, ob es ihm gut geht. Diese
Frage ist freilich nicht zu beantworten, er gibt schließlich keinen
Einblick in seine Gefühlswelt und lebt augenscheinlich von einem Tag
auf den anderen. Der Zufall wollte es, dass er auf der John Bell
landete, in dem Gefängnis des Gouverneuers und in diesem
abgeschiedenen Haus, und er überlässt sich ganz seinem Schicksal.
Ist es Weisheit? Gleichgültigkeit? Mangel an Neugier und Initiative?
Wer wollte das entscheiden?
Die unvergessliche Gestalt des nach reiner wissenschaftlicher
Erkenntnis strebenden, gescheiterten Forschers und adeligen Mitglieds
der renommierten Société de Géographie als
Antagonist zum „weißen Wilden“
ist
eine ebenso geniale wie überzeugende Erfindung des Autors: denn
während Narcisse selbst noch im laufenden Prozess der intendierten
Resozialisierung für ein ursprünglich-freies, naturverbundenes
Leben steht, das kein Gestern und Morgen kennt und allein den
gegenwärtigen Augenblick überhaupt zu begreifen und wertzuschätzen
vermag, bleibt der wackere Octave zunächst ein ferngesteuertes
Produkt der menschlichen Zivilisation, deren vermeintliche
Errungenschaften er als unvergänglichen Hort der Kultur und des
Geistes über alles schätzt.
So wie
seine Haut von den Tätowierungen gezeichnet ist, so ist es auch sein
Geist von den Erfahrungen, und er wird sich ihrer vielleicht niemals
vollständig entledigen können. Die Vorstellung, dass in einem
Menschen zwei Seelen miteinander ringen, hat etwas Merkwürdiges.
Aber ich sehe nicht, wie ich ihn sonst verstehen sollte
Francois Garde |
In dieser reizvoll-konfliktreichen Personenkonstellation hat Francois
Garde gleichzeitig auch die ideale Form und den passenden
erzählerischen Rahmen für sein wunderbares, ausgesprochen spannend
zu lesendes Buch gefunden: während die schmerzhafte, ungewollte
Sozialisation Narcisses in die für ihn fremdartig-abstoßende
Stammesgemeinschaft aus der resigniert-verzweifelten Sicht des von
seinen Kameraden verlassenen, an Durst und Hunger leidenden Matrosen
geschildert wird, erzählt in stetig kontrastierenden Abschnitten
Octave de Vallombrun die Geschichte von dessen unfreiwilliger
Rückkehr in die Zivilisation in Form von ausführlichen
schriftlichen Berichten an den Präsidenten der Société de
Géographie in der französischen Hauptstadt.
Narcisse
verändert sich. Jeder Tag bringt ihn uns näher und entrückt ihn
den Tiefen Australiens. Er passt sich unseren Lebensgewohnheiten an,
sobald er sie nachvollziehen kann. Die Hosen, die er nunmehr trägt,
die Worte, die er zu sprechen in der Lage ist, die Beziehung, die er
zu mir aufgebaut hat, führen ihn zu uns zurück, aber überdecken
genau das in ihm, was ich zu begreifen suche.
Ein allmähliches, aber umso
radikaleres Umdenken bei Octave wird schließlich erst in Gang
gesetzt, als sich der stolze Graf ausgerechnet vor der von ihm selbst
so hoch geschätzten Vollversammlung der Société, also
von etablierter wissenschaftlicher Seite vollkommen zu Unrecht des
Verdachts auf Betrug und Unwissenschaftlichkeit ausgesetzt sieht, ja
geradezu bloßgestellt und lächerlich gemacht wird. Außerdem muss
er verblüfft miterleben, wie die attraktive Kaiserin
Eugénie dem stets
liebenswürdig lächelnden Narcisse während einer kurzen
Privataudienz mehr Details über sein Leben im australischen Busch
und über die Lebensgewohnheiten der Aborigines zu entlocken vermag
als ihm selbst im Verlauf eines ganzen Jahres gelungen ist: Narcisse
Pelletier bleibt auch im heimatlichen Frankreich ein höflich
distanzierter, schweigender Fremder, der am liebsten lange
Wanderungen durch die Natur unternimmt und mit seiner selbst gebauten
Harpune Fische fängt.
„Und was machen Sie
morgen, mein Freund?“
Diese harmlose Frage
löste tiefe Verwunderung bei ihm aus. An der Art und Weise, wie er
seine Finger bewegte, erkannte ich, dass er nicht weiterwusste. Er
machte eine Verbeugung in Richtung der Prinzessin, holte tief Luft
und sprang ins kalte Wasser:
„Morgen wird die
Sonne wieder aufgehen.“
Cape York/Queensland |
Im Jahr 1875 beginnt es
sich nun bereits abzuzeichnen, dass es in absehbarer Zeit keine
unentdeckten Flecken mehr auf der Erde geben wird. Der geistig
hellwache, visionär denkende und moralisch absolut integre Octave de
Vallombrun muss im Verlauf seiner jahrelangen persönlichen
Bemühungen um das Wohl seines Schützlings in bemerkenswerter
Hellsichtigkeit erkennen, dass zukünftige wissenschaftliche
Abenteuer eher der sorgfältigen und verantwortungsbewussten
Erforschung innerer Welten, insbesondere der menschlichen Psyche
gelten müssen – seinen ursprünglichen ehrgeizigen Plan, unter dem
verschrobenen Begriff der „Adamologie“ eine neuartige
interdisziplinär arbeitende moderne Wissenschaft zu begründen, gibt
er indes vollkommen desillusioniert auf. In einem allerletzten,
verzweifelten Versuch der erbarmungslosen psychischen Konfrontation
kommt es schließlich zum endgültigen Bruch mit Narcisse:
Er war außerstande,
mir zu antworten. Er war außerstande, mir nicht zu antworten. Er ist
geflüchtet. Ich ahne, dass wir ihn nicht mehr wiedersehen werden.
[...] Um ihn zu begreifen, bleibt mir nur sein Aphorismus, ist dieser
etwa sein Abschiedsgeschenk? „Reden ist wie sterben.“ [...] Meine
Fragen zu beantworten bedeutete für ihn, sich in höchste Gefahr zu
begeben. Sterben, nicht einen klinischen Tod, sondern tot für sich
und andere zu sein. Sterben, weil es unmöglich war, beide Welten
zugleich zu denken. Sterben, weil es unmöglich war, zugleich Weißer
und Wilder zu sein.
„Was mit dem weißen
Wilden geschah“ ist möglicherweise schon jetzt die größte
literarische Entdeckung dieses noch jungen Frühjahrs – ein virtuos
erzähltes, fesselndes und in höchstem Maße inspirierendes Buch
über leibhaftige Abenteuer in der realen Welt und die vielleicht
noch größeren Abenteuer des menschlichen Geistes – ein sich
ausgesprochen bescheiden gebender, wunderbarer Roman, dem es
scheinbar mühelos gelingt, längst überwundene historische
Themenstellungen mit den großen Herausforderungen unserer Zeit auf
so unaufdringliche Art und Weise zu verknüpfen, dass wir uns nicht
nur vollkommen darin gespiegelt erkennen, sondern auch mehr als eine
bloße Ahnung davon erfahren, wie zerbrechlich unsere allgemeine
Vorstellung von der Natur der menschlichen Identität unter Umständen
sein kann. Ein Buch also, das uns mit aller Macht der realen Welt
öffnet – welche literarische Leistung könnte größer sein?
„Was mit dem weißen Wilden geschah“, aus dem Französischen von Sylvia Spatz,
erschienen bei C.H. Beck, 318 Seiten, € 19,95
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