Jerusalem

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Donnerstag, 13. Februar 2014

„Was mit dem weißen Wilden geschah“ von Francois Garde


Der strahlendste, ehrwürdigste und in seiner internationalen Wirkung ohne Zweifel auch wichtigste französische Literaturpreis Prix Goncourt, der einschließlich seiner zahlreichen Nebenpreise alljährlich von einer wechselnden Jury aus zehn renommierten französischsprachigen Schiftstellern bestellt wird und damit wohl (möglicherweise auch gerade wegen seiner rein symbolischen Dotierung von zehn Euro) weltweit auch als einer der fundiertesten und in vielerlei Hinsicht wahrhaftigsten Literaturpreise gelten muss, ist von außen sehr oft als Preis für ehrgeizige Autoren aus dem Grenzgebiet zur Philosophie wahrgenommen worden, die in ihren literarischen Denkgebäuden – durchaus einem bestimmten französischen Publikumsgeschmack Rechnung tragend – besonders extreme intellektuelle Ausflüge in existenzielle Ausnahmesituationen wagen: Alexis Jenni, Michel Houllebecq und Jonathan Littell sind mit ihren kontrovers dikutierten jüngsten Romanen nur drei der namhaftesten Preisträger der letzten zehn Jahre.



Das großartige, überaus lesenswerte, soeben in deutscher Übersetzung erschienene späte Romandebüt des langjährigen hochrangigen französischen Staatsbeamten und Diplomaten Francois Garde (geboren 1959), eindrucksvoll ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt du premier Roman 2012 sowie sieben weiteren Literaturpreisen, ist da zumindest inhaltlich keine Ausnahme: ausgehend von einer höchst realen historischen Begebenheit, die unwillkürlich an Kaspar Hauser oder das berühmte „Wolfskind“ Victor de l'Aveyron denken lässt, erzählt er in sehr freier Form die unglaubliche Geschichte des jungen französischen Matrosen Narcisse Pelletier, der im Jahr 1843 unter höchst unglücklichen Umständen von der Mannschaft seines Schiffes vollkommen auf sich allein gestellt an der Ostküste Australiens zurückgelassen und erst siebzehn Jahre später zufällig als Mitglied eines Eingeborenenstammes wiederentdeckt und als unerklärliches Kuriosum eines nackten Weißen, der keiner bekannten Sprache mächtig zu sein scheint, ins damalige Provinznest Sydney verschleppt wurde.

Seine ganze Erscheinung legt mithin nahe, oder besser gesagt, sie macht ganz klar deutlich, dass er der weißen Rasse angehört. Er scheint intelligent zu sein: Wenn man ihn anspricht, hört er zu, äußert mithilfe von Gesten elementare Gefühle und gehorcht Anweisungen: aufstehen, herkommen, eine bestimmte Grenze nicht überschreiten. Auf Stimmlagen reagiert er sehr sensibel: Freundlichkeit, Wut, Angst oder Schmerz rühren sein Interesse und Mitgefühl.

Francois Garde gestaltet seinen faszinierenden historischen Stoff als fesselnden Abenteuer- und Entwicklungsroman klassischen Zuschnitts. Ähnlich wie T.C. Boyle in seiner grandiosen und für sein übriges Werk geradezu atypisch konzentrierten Erzählung über Victor de l'Aveyron gelingt es ihm dabei auf geradezu beeindruckende Art und Weise, seine künstlerischen Mittel voll und ganz in den Dienst der Handlung sowie des übergeordneten Gehalts seines behutsam entwickelten kulturpessimistischen Resümees zu konzentrieren. Dabei sind es gerade die historischen Freiheiten und offensichtlichen Ungenauigkeiten, die sein schwieriges, verschiedene historische Disziplinen der wissenschaftlichen Weltdurchdringung berührendes Sujet für den heutigen Leser so überaus attraktiv, zugänglich und stimmig machen.



Narcisse Pelletier


Als der britische Gouverneur, in dessen fürsorgliche Verantwortlichkeit der mysteriöse weiße Wilde mittlerweile übergegangen ist, eine kleine Gruppe von zufällig in der Stadt anwesenden, ausnahmslos honorigen Vetretern verschiedener Nationen zur Hilfe ruft, um anlässlich einer formellen Soiree in Erfahrung zu bringen, ob jener möglicherweise auf eine der hier versammelten Sprachen reagiert, erfährt der erfolglose, beinahe resignierte französische Forschungsreisende Graf Octave de Vallombrun unverhofft seine künftige Lebensaufgabe: nachdem er einige von dem unglücklichen Gefangenen stetig wiederholten Silben als eindeutig französischen Ursprungs identifiziert hat, bringt er erhebliche Mühen und Kosten auf, um dem „verlorenen Sohn“ die vergessene Muttersprache sowie die Kultur seiner Heimat wieder ins Gedächtnis zu rufen und ihn nach Frankreich zurückzubringen, wovon er sich vor allem nachhaltigen wissenschaftlichen Ruhm erhofft.

Wenn ich ihn so beim Korbflechten betrachte, frage ich mich, ob es ihm gut geht. Diese Frage ist freilich nicht zu beantworten, er gibt schließlich keinen Einblick in seine Gefühlswelt und lebt augenscheinlich von einem Tag auf den anderen. Der Zufall wollte es, dass er auf der John Bell landete, in dem Gefängnis des Gouverneuers und in diesem abgeschiedenen Haus, und er überlässt sich ganz seinem Schicksal. Ist es Weisheit? Gleichgültigkeit? Mangel an Neugier und Initiative? Wer wollte das entscheiden?

Die unvergessliche Gestalt des nach reiner wissenschaftlicher Erkenntnis strebenden, gescheiterten Forschers und adeligen Mitglieds der renommierten Société de Géographie als Antagonist zum „weißen Wilden“ ist eine ebenso geniale wie überzeugende Erfindung des Autors: denn während Narcisse selbst noch im laufenden Prozess der intendierten Resozialisierung für ein ursprünglich-freies, naturverbundenes Leben steht, das kein Gestern und Morgen kennt und allein den gegenwärtigen Augenblick überhaupt zu begreifen und wertzuschätzen vermag, bleibt der wackere Octave zunächst ein ferngesteuertes Produkt der menschlichen Zivilisation, deren vermeintliche Errungenschaften er als unvergänglichen Hort der Kultur und des Geistes über alles schätzt.

So wie seine Haut von den Tätowierungen gezeichnet ist, so ist es auch sein Geist von den Erfahrungen, und er wird sich ihrer vielleicht niemals vollständig entledigen können. Die Vorstellung, dass in einem Menschen zwei Seelen miteinander ringen, hat etwas Merkwürdiges. Aber ich sehe nicht, wie ich ihn sonst verstehen sollte

Francois Garde

In dieser reizvoll-konfliktreichen Personenkonstellation hat Francois Garde gleichzeitig auch die ideale Form und den passenden erzählerischen Rahmen für sein wunderbares, ausgesprochen spannend zu lesendes Buch gefunden: während die schmerzhafte, ungewollte Sozialisation Narcisses in die für ihn fremdartig-abstoßende Stammesgemeinschaft aus der resigniert-verzweifelten Sicht des von seinen Kameraden verlassenen, an Durst und Hunger leidenden Matrosen geschildert wird, erzählt in stetig kontrastierenden Abschnitten Octave de Vallombrun die Geschichte von dessen unfreiwilliger Rückkehr in die Zivilisation in Form von ausführlichen schriftlichen Berichten an den Präsidenten der Société de Géographie in der französischen Hauptstadt.

Narcisse verändert sich. Jeder Tag bringt ihn uns näher und entrückt ihn den Tiefen Australiens. Er passt sich unseren Lebensgewohnheiten an, sobald er sie nachvollziehen kann. Die Hosen, die er nunmehr trägt, die Worte, die er zu sprechen in der Lage ist, die Beziehung, die er zu mir aufgebaut hat, führen ihn zu uns zurück, aber überdecken genau das in ihm, was ich zu begreifen suche.

Ein allmähliches, aber umso radikaleres Umdenken bei Octave wird schließlich erst in Gang gesetzt, als sich der stolze Graf ausgerechnet vor der von ihm selbst so hoch geschätzten Vollversammlung der Société, also von etablierter wissenschaftlicher Seite vollkommen zu Unrecht des Verdachts auf Betrug und Unwissenschaftlichkeit ausgesetzt sieht, ja geradezu bloßgestellt und lächerlich gemacht wird. Außerdem muss er verblüfft miterleben, wie die attraktive Kaiserin Eugénie dem stets liebenswürdig lächelnden Narcisse während einer kurzen Privataudienz mehr Details über sein Leben im australischen Busch und über die Lebensgewohnheiten der Aborigines zu entlocken vermag als ihm selbst im Verlauf eines ganzen Jahres gelungen ist: Narcisse Pelletier bleibt auch im heimatlichen Frankreich ein höflich distanzierter, schweigender Fremder, der am liebsten lange Wanderungen durch die Natur unternimmt und mit seiner selbst gebauten Harpune Fische fängt.

Und was machen Sie morgen, mein Freund?“
Diese harmlose Frage löste tiefe Verwunderung bei ihm aus. An der Art und Weise, wie er seine Finger bewegte, erkannte ich, dass er nicht weiterwusste. Er machte eine Verbeugung in Richtung der Prinzessin, holte tief Luft und sprang ins kalte Wasser:
Morgen wird die Sonne wieder aufgehen.“

Cape York/Queensland

Im Jahr 1875 beginnt es sich nun bereits abzuzeichnen, dass es in absehbarer Zeit keine unentdeckten Flecken mehr auf der Erde geben wird. Der geistig hellwache, visionär denkende und moralisch absolut integre Octave de Vallombrun muss im Verlauf seiner jahrelangen persönlichen Bemühungen um das Wohl seines Schützlings in bemerkenswerter Hellsichtigkeit erkennen, dass zukünftige wissenschaftliche Abenteuer eher der sorgfältigen und verantwortungsbewussten Erforschung innerer Welten, insbesondere der menschlichen Psyche gelten müssen – seinen ursprünglichen ehrgeizigen Plan, unter dem verschrobenen Begriff der „Adamologie“ eine neuartige interdisziplinär arbeitende moderne Wissenschaft zu begründen, gibt er indes vollkommen desillusioniert auf. In einem allerletzten, verzweifelten Versuch der erbarmungslosen psychischen Konfrontation kommt es schließlich zum endgültigen Bruch mit Narcisse:

Er war außerstande, mir zu antworten. Er war außerstande, mir nicht zu antworten. Er ist geflüchtet. Ich ahne, dass wir ihn nicht mehr wiedersehen werden. [...] Um ihn zu begreifen, bleibt mir nur sein Aphorismus, ist dieser etwa sein Abschiedsgeschenk? „Reden ist wie sterben.“ [...] Meine Fragen zu beantworten bedeutete für ihn, sich in höchste Gefahr zu begeben. Sterben, nicht einen klinischen Tod, sondern tot für sich und andere zu sein. Sterben, weil es unmöglich war, beide Welten zugleich zu denken. Sterben, weil es unmöglich war, zugleich Weißer und Wilder zu sein.

„Was mit dem weißen Wilden geschah“ ist möglicherweise schon jetzt die größte literarische Entdeckung dieses noch jungen Frühjahrs – ein virtuos erzähltes, fesselndes und in höchstem Maße inspirierendes Buch über leibhaftige Abenteuer in der realen Welt und die vielleicht noch größeren Abenteuer des menschlichen Geistes – ein sich ausgesprochen bescheiden gebender, wunderbarer Roman, dem es scheinbar mühelos gelingt, längst überwundene historische Themenstellungen mit den großen Herausforderungen unserer Zeit auf so unaufdringliche Art und Weise zu verknüpfen, dass wir uns nicht nur vollkommen darin gespiegelt erkennen, sondern auch mehr als eine bloße Ahnung davon erfahren, wie zerbrechlich unsere allgemeine Vorstellung von der Natur der menschlichen Identität unter Umständen sein kann. Ein Buch also, das uns mit aller Macht der realen Welt öffnet – welche literarische Leistung könnte größer sein?

„Was mit dem weißen Wilden geschah“, aus dem Französischen von Sylvia Spatz, erschienen bei C.H. Beck, 318 Seiten, € 19,95

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