Jerusalem

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Mittwoch, 30. April 2014

„Super-Marienkäferchen ist schon auf dem Weg“ von Guido van Genechten

Es gibt zahlreiche kleine Ungerechtigkeiten im menschlichen Leben, auf die der einzelne erwiesenermaßen keinen direkten Einfluss hat und die er sich dennoch mit liebenswert-störrischer Beharrlichkeit ein ums andere Mal hinzunehmen weigert: ein ausdrückliches inneres Widersprechen ist noch der geringste Widerstand, den man gegen ein scheinbar übermächtiges Geschick aufzubringen vermag, während die eigene Fantasie noch fieberhaft an der möglichen Lösung des jeweiligen Problems weiterarbeitet. Erwachsene flüchten sich zum Ausgleich ihrer vermeintlichen temporären Unzulänglichkeiten meist in wenig originelle Ersatzbefriedigungen oder sonstige kaum nachhaltige Mechanismen der Selbstbelohnung. Die Superheldenstorys des klassischen amerikanischen Comics präsentieren hingegen wenigstens auf metaphorischer Ebene ein wirksames psychologisches Kompensationsmuster für die gängigen Konflikte des menschlichen Alltags.

Die Wahrnehmung der eigenen Unfertigkeit und situationsabhängigen vorläufigen Unzulänglichkeit ist bei Kindern jedoch eine vollkommen andere: der langsam-stetige Verlauf ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung bedingt geradezu naturgemäß, dass sie bestimmte Situationen – wenn auch nur vorübergehend – weniger erfolgreich aufzulösen und zu bestehen vermögen als Erwachsene. Während Kinder noch spielerisch-bewusst nach dem Erreichen ihrer natürlichen Grenzen streben und lediglich die unermesslich scheinende Zeit des Wartens darauf zu beklagen brauchen, haben Erwachsene diese in der Regel bereits seit langem erreicht und müssen die eigene, nahezu unverrückbare Machtlosigkeit in bestimmten Situationen schmerzhaft anzuerkennen lernen.




Ideal abgestimmt auf natürliche kindliche Erfahrungshorizonte und die großen ungeklärten Fragen eines frisch erwachenden organischen Gerechtigkeitsempfindens sowie die grenzenlose Neugier auf die vielfältigen Erscheinungsformen des Lebens hat der für sein ebenso umfangreiches wie wandlungsreiches zeichnerisches Werk bereits vielfach prämierte belgische Illustrator Guido van Genechten (geboren 1957) einen kongenialen neuen Superhelden erfunden, der sich mit einer liebevoll-perfekten Symbiose aus Natur und Technik bereits erfolgreich anschickt, nicht nur die Kinderzimmer Europas im Sturm zu erobern, sondern mit seiner unwiderstehlichen Mischung aus Empathie, Mitleid und vorbehaltloser Liebe zu allen Lebewesen auch jene skeptischen Eltern für sich einzunehmen, die Superhelden bisher als vermeintlich geistloses Teufelswerk aus den finster-undurchschaubaren Niederungen der amerikanischen Popkultur aus Prinzip abgelehnt haben.

Das erzsympathische kleine Super-Marienkäferchen jedoch, das Guido van Genechten nun ersonnen und zeichnerisch ins Leben gerufen hat, ist als unwahrscheinlicher Held seines vor kurzem erschienenen ersten Bilderbuch-Abenteuers für die Allerjüngsten gleichsam mit den besten Eigenschaften ausgestattet, die Herz und Geist eines lebendigen Wesens Kraft ihrer Möglichkeiten erfolgreich zu kultivieren vermögen: das ebenso niedliche wie unscheinbare gepunktete kleine Insekt, mystischer Glücksbringer und kindlicher Sympathieträger seit Jahrtausenden, kann mit Hilfe seiner überlegenen emotionalen Sensorik nicht nur jederzeit zweifelsfrei erspüren, wenn irgendwo auf der Welt ein anderes Lebewesen in Not ist, sondern es vermag auch mit seiner ausgefeilten James-Bondhaft-verblüffenden integrierten Technik selbst in den ausweglosesten Situationen jedem von ihnen höchst wirkungsvoll und erfolgreich zu helfen.

Guido van Genechten

Ein afrikanischer Elefant, der rettungslos im Schlamm feststeckt? Ein Hund, der hilflos überm Abgrund des Grand Canyon baumelt? Ein Kamel, das kurz vor dem Verdursten in der Sahara verloren scheint? Eine Riesenschlange, die sich am Amazonas selbst verknotet hat? Ein Wal, der an der steinigen Küste einer Karibikinsel gestrandet ist? – Für den tapferen kleinen, insektoiden Cyborg namens Super-Marienkäferchen alles kein Problem: da werden überdimensionale Fangnetzte ausgeklappt, die sein eigenes Körpervolumen mit Leichtigkeit ums hundertfache übertreffen, riesige Wassertanks ausgefahren, sagenhafte Saugnäpfe und Turboschieber appliziert, und mit seinem feuerspeienden Raketenantrieb eilt der tatkräftige Superheld in atemberaubender Geschwindigkeit stets überall dortin, wo er in der jeweiligen Situation gerade am dringendsten gebraucht wird.

Die augenzwinkernd-unerbittliche Konsequenz dieses tröstlich-heiteren Szenarios ist wohl die ultimative literarische Erfüllung eines nur allzu naheliegenden uralten Traums aller empathisch fühlender, liebender Lebewesen: dass die eigene Erkenntnis über die plötzliche Notsituation eines anderen und das daraus dringlich erwachsende Mitgefühl selbst schon wirksames Handeln und hilfreiches Bereinigen der Leiden auslösenden Situation wäre! Freilich kann diese hoffnungsvoll-ermutigende Idee in unserer realen Lebenswirklichkeit kaum mehr als eine schöne Utopie sein, im Rahmen der Erzählung erfüllt sie jedoch bereits höchst wirkungsvoll die nützliche Funktion einer zwar kindgerechten, jedoch auch allgemeingültigen Formulierung eines möglichen Idealzustands des Umgangs der Menschen und Lebewesen untereinander, den man wohl allgemein unbestritten als in höchstem Maße erstrebenswert bezeichnen darf. Mit seinem wunderbaren Bilderbuch-Kabinettstückchen im Geiste des Humanismus ist Guido van Genechten erneut ein ganz großer künstlerischer Wurf gelungen!

„Super-Marienkäferchenist schon auf dem Weg“, aus dem Flämischen von Martin Rometsch, erschienen bei Aracari, 32 Seiten, € 14,90

Dienstag, 29. April 2014

„Sommer in Brandenburg“ von Urs Faes

Es gibt Phasen im Leben eines Menschen, die von ihm so intensiv erlebt und erfahren werden, dass er ihnen später intuitiv buchstäblich alles, was sich davor oder danach zugetragen hat, unweigerlich unterordnen muss. Diese Zeit des Übergangs, des geistigen und sexuellen Erwachens sowie der ureigenen persönlichen Charakterbildung, die man sprichwörtlich getrost als jeweils individuelle „goldene Ära“ bezeichnen darf, lässt sich oft nur im Nachhinein zeitlich bemessen, sich aber nicht auch nur annähernd wiederholen; sie ist dem einzelnen für gewöhnlich lebenslang ein stets gegenwärtiger Quell einer unstillbaren persönlichen Sehnsucht, aber vermag ihn dennoch für den Rest seines Lebens zu motivieren und innerlich zu stützen: sie bleibt der unverrückbare Bezugspunkt der eigenen Persönlichkeit.



Der für sein bisheriges umfangreiches Werk bereits vielfach ausgezeichnete deutschsprachige Schweizer Schriftsteller Urs Faes (geboren 1947) hat in seiner jüngst erschienenen, ebenso eindringlichen wie berührenden und hoch poetischen Recherche „Sommer in Brandenburg“ über eines von zweiunddreißig Hachschara-Lagern in Nazi-Deutschland, die junge deutsche Juden auch während der eskalierenden Verfolgung durch Nazi-Deutschland noch auf die angestrebte Auswanderung nach Palästina vorbereiten sollten, die Stimmung einer solchen „goldenen Zeit“ unter denkbar schwersten Rahmenbedingungen auf kongeniale Art und Weise literarisch eingefangen.


Er blickte in die Nacht hinaus. Alles still, auf der nahen Chaussee kein Laut. Im Haus waren noch vereinzelte Stimmen zu hören, Mädchenstimmen; drüben in der Unterkunft der Jungen herrschte Ruhe, auch in den Ställen. Über allem die Kuppel des nachtblauen Himmels. Noch nirgends hatte er den Himmel so überwältigend hoch wahrgenommen wie hier, als wäre die Erde bloß eine Scheibe und über ihr dieses Halbrund, mit Sternen gesprenkelt, ein sichelfeiner Mond, abnehmend. Seine Hand streifte den Sims der Brüstung. Das Mauerwerk war noch warm, er stellte sich vor, Lissys Hand hätte da gelegen und ein wenig Wärme für ihn zurückgelassen.

Das ehemalige Hachschara-Lager des jüdischen Pfadfinderbundes „Makkabi Hazair“ im Jagdschloss Ahrensdorf bei Trebbin, dreißig Kilometer südlich von Berlin gelegen, ist heute die einzige baulich intakt gebliebene Stätte dieser Art auf deutschem Boden, an deren öffentlich kaum bekannte, faszinierende Geschichte als landwirtschaftliche Ausbildungsstätte für jüdische Jugendliche im Alter von vierzehn bis siebzehn Jahren bereits seit 1989 von einem privaten Förderverein mit großer internationaler Resonanz erinnert wird, dessen zahlreiche verdienstvolle Publikationen in kleiner Auflage Urs Faes offensichtlich zu seinem unvergesslichen, stillen und bescheidenen neuen Roman angeregt haben.

Übel sind die Zeiten, und übel geht es uns in ihnen. Ihr Gesicht verschattete sich, keine Spur mehr von jenem übermütigen Lachen, das durchs Landwerk gedrungen war. Schiller, sagte sie. Sie griff sich an die Stirn und schob eine Strähne auf die Seite. Und wieder, nur für einen Moment, waren da ihre offenen Augen, die in seine fielen, strahlten und sich wieder trübten. Er lächelte ihr zu. Aber wir können hier auch immer wieder vergessen, was uns bedrückt. Wir hoffen auf die Ausreise. Dafür arbeiten wir, unser Tagesplan ist straff geordnet, und wie. Du wirst sehen, von morgens bis abends, immer an der Arbeit.

In dem von seinen turnusgemäß wechselnden Bewohnern aufgrund seiner spezifischen Funktion liebevoll „Kibbuz Ahrensdorf“ genannten Lager konnten sich zwischen 1936 und 1941 mindestens 268 Mädchen und Jungen unter genossenschaftlichen Bedingungen auf die angestrebte Emigration nach Palästina vorbereiten, unter ihnen die bis heute ungebrochen kämpferische Vorsitzende des deutschen Auschwitz-Komitees Esther Bejarano, deren eindrucksvolle Erinnerungen im vergangenen Jahr erschienen sind. Mindestens 34 Teilnehmer der Schulungen überlebten die Schoah nachweislich nicht, und die Spuren von weiteren 44 ehemaligen Teilnehmern der Kurse verlieren sich im bitteren Dunkel der Kriegsjahre. 130 Ahrensdorfer Juden jedoch gelang im Verlauf der Jahre der große rettende Schritt nach Palästina, und einige von ihnen etablierten sich dort während der israelischen Staatsgründung als bis heute hochgeachtete Pioniere in so namhaften Kibbuzim wie Degania oder Scha'ar ha Golan.

Mitglieder des Makkabi Hazair in Ahrensdorf/Foto: Herbert Sonnenfeld

In Urs Faes wunderbarem, von strahlender empathischer Mitmenschlichkeit und dem Zauber des Neuen getragenem biographischen Roman beginnt für den jungen Hamburger Juden Ron Berend, der schon vor Monaten in Ahrensdorf heimisch geworden ist und sich als tatkräftiger, geschickter Handwerker bereits berechtigte Hoffnungen auf eines der begehrten Auswanderungszertifikate machen darf, mit der Ankunft der jungen Wienerin Lissy Harb im Frühsommer 1938 eine vollkommen neue, ungeahnte Qualität der Weltwahrnehmung und des Erlebens:

Was war das für eine Stimme, ein Lachen, nicht laut, aber eindringlich, übermütig verspielt, unbekannt, vor allem das: ein Mädchenlachen, das er nie zuvor gehört hatte, ein Klang, der ihm fremd war, kehlig, rauh. [...] Die Stimme, etwas laut für eine Zeit, in der sie gelernt hatten, leise und unauffällig zu sein, kein Aufsehen zu erregen, zu tun, als wären sie nicht da. Und nun lachte da eine, rief hinüber zum Haus, wo die Mädchen waren. Er hielt im Laufen inne, machte ein paar Schritte auf das Gebäude zu, ein Jagdschlößchen aus vergangener Zeit. Da entdeckte er das Mädchen am Brunnen, das zum Fenster hinaufstrahlte, wo zwei andere sich herauslehnten und mit ausgebreiteten Armen winkten. [...] Das Mädchen drehte sich zögernd in seine Richtung, den Fuß nach innen gerichtet. Er schaute auf die Seidenstrümpfe, keine hier im Landwerk trug Seidenstrümpfe.


Obwohl die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Nazi-Deutschland alles andere als hilfreich sind, erscheint die Hachschara-Stätte Ahrensdorf in Faes' konzentriert-poetischer, literarischer Aufarbeitung dem Leser lange Zeit als eine kapitale, der zunehmend aus den Fugen geratenden Außenwelt einigermaßen erfolgreich entrückte ländliche Idylle, die zwar von der Sorge um die der stetig eskalierenden staatlichen Entrechtung ausgesetzten Freunde und Familenmitglieder in Form von Briefen, Anrufen und sorgenvoller Ahnungen wirksam berührt, jedoch selbst noch kaum von der dem Projekt explizit wohlgesonnenen Obrigkeit der kleinen Dorfgemeinde behelligt wird und in der alle Mitglieder des äußerlich fragilen, aber innerlich starken und kampfesmutigen Gemeinwesens mit ganzer Kraft auf das große, realistischerweise noch erreichbare Ziel der Auswanderung und der Flucht vor der sich abzeichnenden Verfolgung durch die Nationalsozialisten hinarbeiten.

Hachschara-Stätte Ahrensdorf/Foto: Herbert Sonnenfeld

Lissy und Ron fühlen sich von der ersten Begegnung an als auf rührende Art und Weise seelenverwandt Scheinende zueinander hingezogen und werden innerhalb des Lagers im Verlauf der folgenden Jahre zu jenem exemplarischen Paar der Paare, dem selbst noch der Unbeteiligste ein gutes Gelingen sowie ein glückliches Ende für ihre nicht allein von der unkalkulierbaren Zuteilung der Auswanderungszertifikate bedrohte, in hohem Maße augenfällige, besonders innige Beziehung wünscht: so arrangiert die strenge Leiterin des Lagers persönlich eine heimliche Liebesnacht. Dennoch wird die Situation mit den Jahren immer schwieriger, die Auswanderung nach Palästina nur noch auf hochgradig riskante, illegale Art und Weise möglich. Immer mehr Jugendliche verlassen Ahrensdorf unter dem desillusionierenden Eindruck des allesentscheidenden Paradigmenwechsels der nationalsozialistischen Judenpolitik von gesellschaftlicher Ausgrenzung zu aktiver brutaler Verfolgung.

Vor dem Einschlafen las er Marleens Brief. Sie blieb knapp in ihren Worten. Aber er begriff, die Begegnung in Amsterdam war nicht geglückt. Keine Hoffnung, keine Liebe, keine neue Heimat.
Ich suche immer so aussichtslose Sachen.
Ein Marleen-Satz.
Im Lesen sah er, wie Marleen die Arme hängen ließ, die Augen niederschlug. So hatte sie im Türrahmen gestanden bei seiner Abreise aus Hamburg.
Ich bleibe bei Vater.
Den Satz hatte sie angefügt, als Postskriptum.
Er hätte Marleen gern in den Arm genommen.

Der Autor bleibt erzählerisch fortlaufend dicht an der Lagergemeinschaft, streng ortsgebunden und stets gleichzeitig mit den Geschehnissen. Das Ausbleiben der Nachrichten von außen allerdings, die Sorge um deportierte Freunde und Familienmitglieder sowie die parallel dazu ablaufenden geschichtlichen Ereignisse und Prozesse stellt Faes jedoch in einigen mit seiner eigenen Person als Schriftsteller namentlich identifizierten Einschüben höchst umsichtig in einen größeren Zusammenhang, indem er unter dem Stichwort „Nacherzählen“ von jenen furchtbaren Dingen berichtet, die den Angehörigen seiner Protagonisten widerfahren – von jenen ungewusst und doch erahnt und befürchtet.

Wir ahnten nicht, wie schlimm es werden würde, und haben im Sommer 1940 vieles nicht gesehen, was wir hätten sehen müssen. Es hält ihn nicht auf seinem Stuhl, er geht im Zimmer auf und ab, wiederholt den Satz. So kurz der Aufenthalt im Landwerk war, betont er, die Hachschara war für ihn und für viele andere auch eine prägende Zeit, ein Ort zwischen den Welten, wenn auch vielleicht von der Erinnerung verklärt. Aus den Gesichtern von Ron und Lissy hatte jenes Glück auf Zeit gesprochen, das sie in dieser kleinen Welt mit ihrer strengen Ordnung gefunden hatten. [...] Er erinnert sich, wie er die beiden auf ihren Spaziergängen sah, sich nah, selbst dann, wenn sie Abstand hielten. Noch nie hatte er zwei erlebt, die so zusammengehörten, so selbstverständlich: ihre Augen, die sich suchten, ihre Hände, die sich fanden; sogar Lissys Haare schienen in die Richtung des Geliebten zu fallen, so wie das Strahlen seiner Augen ihr Gesicht hell machte.

Urs Faes/Foto: Renate Amuat

Durch die jahrelange akribische dokumentarische Arbeit der beiden jüdischen Berliner Fotografen Herbert und Leni Sonnenfeld, die bis in die unmittelbare Vorkriegszeit hinein das Leben in den jüdischen Gemeinden Deutschlands aktiv fotografisch begleiteten und deren umfangreiches Archiv heute von verschiedenen renommierten Museen in Deutschland und Israel verwaltet wird, sind uns zahlreiche zeitgenössische Aufnahmen aus dem Alltag in Ahrensdorf, aber auch aus anderen Hachschara-Stätten in ganz Deutschland erhalten geblieben: im virtuellen Fotoarchiv der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem sind nicht weniger als 2176 Fotos dieser fleißigen zeitgenössischen Chronisten direkt einsehbar. Die israelische Künstlerin Yael Bartana hat im Jahr 2008 mit einer eigenen Serie direkt auf diese Serie Bezug genommen, indem sie einzelne Motive der Sonnenfelds mit israelischen Arabern und arabischen Juden in bewusster Künstlichkeit und unterkühlter Perfektion rekonstruierte. Eine dieser faszinierenden Aufnahmen diente den klugen Suhrkamp-Covergestaltern nun als kongeniale Coverabbildung für Urs Faes wunderbares Buch, das mit seinen zahlreichen unvergesslichen Gestalten und intensiv gezeichneten, universellen menschlichen Stimmungsbildern dem Leser ähnlich unmittelbar greifbar und kostbar erscheinen muss wie eine eigene prägende Zeit.

„Sommer in Brandenburg“, erschienen bei Suhrkamp, 262 Seiten, € 19,95

Freitag, 25. April 2014

„Heilige Mörderin“ von Keigo Higashino

Das sogenannte „perfekte Verbrechen“ ist ein Mythos, an dem sich – zumindest in der Theorie – schon zahlreiche ambitionierte Kriminalschriftsteller und Filmemacher abgearbeitet haben. Aber ist es moralisch überhaupt zulässig, Perfektion und Verbrechen in einem Atemzug zu nennen und so miteinander identifizierbar zu machen? Der findig-geistreiche japanische Autor Keigo Higashino, dessen packend-raffinierte Bücher seit dem letzten Jahr auch den deutschen Markt erobern, hat den nicht nachweisbaren Mord, der aus kriminalistischer Sicht auf den ersten Blick keinen rationalen Beweggründen zu gehorchen scheint und somit zunächst für Polizei und Staatsanwaltschaft unerklärlich bleiben muss, zum unverkennbaren Markenzeichen seiner ungewöhnlichen Krimis gemacht.



Sein überaus origineller Master Mind und sympathischer Protagonist ist der ebenso lebenserfahrene wie empathische Tokioter Physik-Professor Yukawa, der es als unabhängiger Sachverständiger der Polizei nicht nur aus originärem wissenschaftlichen Erkenntnisdrang, sondern auch aufgrund seiner ganz persönlichen, individuellen charakterlichen Veranlagung gewohnt ist, innerhalb der klar umrissenen Grenzen mathematischer Logik auch das scheinbar Undenkbare und sogar das Unfassbare, vom Menschen intuitiv Verdrängte absolut nüchtern und vorurteilsfrei mit seinem scharfe, überlegenen Verstand abzuwägen und dabei stets unermüdlich zur Lösung des jeweiligen Problems vorzustoßen.

Zwischen einem trickreichen Verbrechen und einem Zaubertrick besteht ein großer Unterschied. Ist der Zaubertrick beendet, hat das Publikum keine Chance mehr, ihn zu durchschauen. Bei einem Verbrechen hat der Ermittler die Möglichkeit, den Tathergang bis ins Detail zu erkunden. Jede Methode hinterlässt irgendwelche Spuren. Das Schwierigste an einem kriminellen Trick ist es, diese völlig verschwinden zu lassen.“

Am Ende seines ersten Falles „Verdächtige Geliebte“, an dem man als unwillkürlich mitleidender und -fühlender Leser bis zuletzt im Stillen hoffte, dass die rührende, geheime Liaison des hilfreichen und aus moralisch nur allzu nachvollziehbaren Gründen schuldig gewordenen Täters mit seiner auf naive Art und Weise unverschuldet in Not geratenen, heimlich geliebten Nachbarin am Ende unentdeckt bleiben dürfe, hatte sich Yukawa innerlich von seinem langjährigen Freund und ehemaligen Kommilitonen, Polizei-Inspektor Kusanagi, entfremdet, eben weil er den Mord ebenfalls am liebsten ungesühnt gewusst hätte. So bleibt es diesmal Kusanagis junger ehrgeiziger Assistentin Utsumi vorbehalten, den zunächst unwilligen Physiker um Hilfe bei einem rätselhaften neuen Fall zu bitten.

Als Sie mich anriefen, wollte ich zuerst ablehnen. Ich habe kein Interesse mehr an polizeilichen Ermittlungen. Ich habe nur zugestimmt, weil Sie sagten, Kusanagi solle nichts davon erfahren. Das hat mich neugierig gemacht, nur deshalb nehme ich mir die Zeit. Also möchte ich auch zuerst hören, warum er nichts wissen darf. Und ob ich mir die Geschichte Ihres Falls anhöre oder nicht, entscheide ich hinterher.“ [...]
Kommissar Kusanagi“, sagte sie und sah Yukawa weiter in die Augen, „ist verliebt.“
Wie bitte?“ Das sarkastische Glitzern in Yukawas Augen verschwand. Sein Blick verschwamm wie bei einem kleinen Jungen, der sich verlaufen hat. Er starrte Utsumi an. „Was soll das heißen?“
Liebe“, wiederholte sie. „Kommissar Kusanagi ist verliebt.“

Ein erfolgreicher Unternehmer war unlängst in seinem eigenen Haus von seiner heimlichen Geliebten Hiromi Wakayama, der Geschäftspartnerin und langjährigen Freundin seiner Frau Ayane, einer bekannten Patchwork-Künstlerin, leblos aufgefunden worden. Ayane selbst hatte Hiromi den Hausschlüssel für die Zeit ihrer kurzfristig angetretenen Flugreise zu ihrem kranken Vater in der Präfektur Hokkaido überlassen. Die Obduktion des Toten hat eine Vergiftung mittels Arsensäure ergeben, die sich offensichtlich in dem von ihm selbst frisch zubereiteten Kaffee befunden hatte. Trägermedium des Giftes war aller Wahrscheinlichkeit nach ein im Hauswassersystem fest installierter verunreinigter Wasserfilter, der keinerlei Anzeichen einer gezielten Manipulation aufwies.

Rainbow Bridge in Tokio

Obwohl Ehefrau wie auch Geliebte des Ermordeten für den mit sicherer Präzision bestimmbaren Todeszeitpunkt absolut lückenlose Alibis vorweisen können, gelten beide dem Ermittlerteam unabhängig voneinander als dringend tatverdächtig. Während der in seinen akribischen Nachforschungen diesmal ungewöhnlich befangen wirkende Inspektor Kusanagi die naive, schwangere Hiromi verdächtigt, legt sich seine Assistentin Utsumi intuitiv auf die gleichermaßen am Boden zerstört scheinende Witwe Ayane fest. Als die Ermittlungen schon bald ergebnislos zu scheitern drohen und die Staatsanwaltschaft bereits die Einstellung der Untersuchungen erwägt, wendet sich Utsumi um Hilfe an Professor Yukawa, der nach langem Zögern wegen eines vollkommen unscheinbaren Details einwilligt.

Wir haben nicht die geringste Ahnung. Wir haben also eine Gleichung ohne Lösung vor uns. Obwohl es doch eine geben könnte.“
Eine Lösung?“
Allerdings ist sie rein theoretisch.“
Inwiefern theoretisch?“
Theoretisch ist sie denkbar, praktisch jedoch unmöglich. Es gäbe da einen Trick, aber es ist nahezu unmöglich, ihn durchzuführen.“
Utsumi zuckte die Achseln. „Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen. Heißt das, ich führe diese Untersuchung durch, um zu beweisen, dass die Tat unmöglich ist?“
Zu beweisen, dass es auf etwas keine Antwort gibt, kann auch wichtig sein. [...] Das ist eine Berufskrankheit bei Wissenschaftlern. Auch wenn eine Lösung nur theoretisch möglich ist, muss ich sie finden.“

Keigo Higashino

Das Ergebnis seiner akribischen Nachforschungen und sherlockhaft-zwingenden Überlegungen ist ebenso ungeheuerlich wie genial – und entlarvt am Ende (ähnlichwie im ersten Fall) das Mordopfer selbst als eigentliche pathologische Täterpersönlichkeit, deren Gefühlskälte und psychische Grausamkeit unwillkürlich Sympathien für die einsamen Beweggründe der dem Leser von Anfang an bekannten märtyrerhaften Täterin zu wecken vermögen. Deren ausführliche, intime Selbstreflexion beschließt das Buch auf melancholische Art und Weise und offenbart dabei erneut das herausragende Talent des Autors, die moderne urbane Gesellschaft Japans nicht nur in all ihren kulturellen Widersprüchen literarisch zu erforschen, sondern auch in ihren unbestreitbaren Stärken kongenial abzubilden. Keigo Higashinos kluge, empathische Romane sind mit ihren packenden, die Handlung vorantreibenden Dialogen, einem geradezu filmreifen Timing sowie ihrem bemerkenswerten Gespür für die irritierenden kleinen Zwischentöne der menschlichen Psychologie eine absolute Bereicherung für die internationale Krimilandschaft.

„Heilige Mörderin“, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, erschienen bei Klett-Cotta, 316 Seiten, € 19,95

Dienstag, 22. April 2014

„Schlump“ von Hans Herbert Grimm

Am 1. August dieses Jahres jährt sich zum hundertsten Mal der blindhaft-bündnistreue, sich für das Schicksal von ganz Europa schnell als verhängnisvoll erweisende Eintritt Deutschlands in jene apokalyptischen Kampfhandlungen, die nach vier Jahren erbittert geführter militärischer Materialschlachten und einem bis dahin ungeahnten Fanal von siebzehn Millionen sinnlos vergeudeter Menschenleben als Erster Weltkrieg in die menschliche Geschichte eingehen sollte und als kaum aufgearbeitetes kollektives Trauma von mystischen Dimensionen den blutigen Nährboden für den nur zwanzig Jahre später mit umso schrecklicherer blind entfesselter Gewalt zurückschlagenden Zweiten Weltkrieg bildete.



Bereits im Verlauf des letzten Jahres ist eine ganze Fülle von neuen hochinformativen, sorgfältig recherchierten und stilistisch wie inhaltlich ausgezeichneten Sachbüchern über diese europäische Ur-Katastrophe erschienen, die uns auf ebenso faktenreiche wie unvoreingenommene Art und Weise in unserem natürlichen Bestreben unterstützen können, zu einem umfangreicheren verstandesmäßigen Begreifen der historischen Ereignisse zu gelangen. Daneben war allerdings auch eine ganze Reihe von neuen Romanen zu diesem vielschichtigen Thema zu registrieren, die dem komplexen sachlichen Hintergrund die ganz unmittelbaren, persönlichen Auswirkungen des Krieges auf das Erleben des menschlichen Individuums hinzufügen.

Schlump stand oft vor seiner Ladentür und betrachtete das Leben und Treiben der kleinen Etappenstadt. Er sah die sauberen und wohlgenährten Etappenoffiziere vorbeigehen mit ihren blanken Gamaschen und nachlässig und elegant die armseligen Verwundeten grüßen, die sich bescheiden an die Wand drückten.

In diesem grundsätzlich lobenswerten Zusammenhang ist soeben unter nicht geringem medialem Blätterrauschen ein schon im Jahr 1928 anlässlich seines ersten Erscheinens von Verlegerlegende Kurt Wolff (1887-1963) offensiv beworbener Antikriegs- und Schelmenroman wieder neu aufgelegt worden, der seinerzeit ohne nennenswerte öffentliche Resonanz im übermächtigen Schatten des bahnbrechenden internationalen Bestseller-Erfolgs von Erich Maria Remarques nur wenige Wochen zuvor veröffentlichtem epochalen und auf kongeniale Art und Weise den Nerv der Zeit treffenden Roman „Im Westen nichts Neues“ unweigerlich untergehen musste und 1933 zu den wohl am wenigsten bekannten Werken unter jenen den Nationalsozialisten verhassten Büchern zählte, die von den neuen Matchhabern vor den Augen einer entrüsteten Weltöffentlichkeit verbrannt wurden.

Jetzt ging die Hölle los: Granaten, schwere, leichte, Schrappnells, Flachbahner, kleine, große, kleine, immer toller wurde die Schießerei, immer verrückter, Torpedominen, Brandminen. Man sah sie ganz deutlich glühen in der Luft, die Minen, große und kleine; dazu die Leuchtkugeln! Endlich kam auch unsere Artillerie, aber nur spärlich. Aber sie sausten ganz knapp über den Kopf, und drüben zerplatzten sie, ganz hart. Es war aufregend. Schlump mußte lachen; er lachte laut in den Höllenkrawall hinein. Das gefiel ihm.

Zerbombter Wald bei Ypern

Dass eben dieser Roman mit dem barock-ausufernden Titel „Geschichten und Abenteuer aus dem Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt 'Schlump', von ihm selbst erzählt“ heute allenfalls noch einigen Literaturwissenschaftlern oder wackeren Publizisten wie dem Feuilleton-Chef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Volker Weidemann (der das vergessene Werk in sein verdienstvolles „Buch der verbrannten Bücher“ aufnahm und für die vorliegende Ausgabe ein absolut notwendiges und überaus erhellendes Nachwort verfasste) darf aus zeitgenössischer Sicht allerdings kaum verwundern: angelehnt an Grimmelshausens Schelmenroman „Simplicissimus“ wird darin die wenig mitreissende und sprachlich uninspiriert-kauzige Geschichte eines sprichwörtlichen Glückskindes erzählt, das sich wegen der schönen, von der holden Weiblichkeit allseits geschätzten Uniformen freiwillig zum Militär meldet, an der französischen Front neben zahlreichen unbeschwerten Liebschaften schließlich auch das Grauen des Stellungskriegs erlebt, woran er aber letztendlich aufgrund seines sonnigen Gemüts und seiner vorbehaltlosen Menschenliebe nicht zerbricht und schließlich sogar wohlbehalten nach Hause zurückkehren darf, wo er bereits unverhofft von einer treuen weiblichen Seele erwartet wird.

Und unten an den Stufen, vor dem Eingang, da stand jemand. Die heilige Johanne. Schlump stürzte auf sie zu: „Woher wußtest du?“ Sie sah ihn glücklich an. „Ich hab alle Tage auf dich gewartet“, sagte sie. Er schloß sie in die Arme und gab ihr vor allen Leuten einen Kuß. Dann zogen sie vereint zu seiner Mutter, die in diesem Augenblick nicht ahnte, daß die glücklichste Stunde ihres Lebens geschlagen hatte.

Die eigentliche Bedeutung des von dem Altenburger Gymnasiallehrer Hans Herbert Grimm (1896-1950) unter dem Eindruck der eskalierenden gesellschaftlichen Radikalisierung gegen Ende der Weimarer Republik lediglich anonym veröffentlichten Romans scheint sich somit erst durch die Geschichte seiner zeitgenössischen Nicht-Rezeption, seines späteren Verbots durch die Nationalsozialisten sowie die durch seine späte Wiederentdeckung erstmals offenbarten tragischen Lebens- und insbesondere Todesumstände seines unglücklichen Autors zu ergeben. Denn exemplarisch wird der „Schlump“ aus heutiger Sicht vor allem durch die darin geradezu visionär vorweggenommene Spiegelung eines dickfelligen, sich selbst als unpolitisch begreifenden kollektiven Mitläufertums, das schon den Ersten Weltkrieg vornehmlich als abenteuerliche Weltreise und zwiespältig-lebensgesättigtes Phänomen des Menschseins an sich betrachtet hatte und so gleichermaßen unbedarft schließlich auch in die unvorstellbaren Verbrechen des Zweiten Weltkriegs hineinstolperte, ohne sich seiner Mitverantworung bewusst zu werden. In bestimmten Grenzsituationen jedoch – so die Erkenntnis aus dieser für viele Deutsche während des Nationalsozialismus wohl durchaus charakteristischen Grundeinstellung – reicht es nicht zu wissen, dass man selber gut und unschuldig ist.

Hans H. Grimm/Foto: privat

Für seinen heranwachsenden Sohn führte Grimm „als ein närrisches Erinnerungsstück aus meiner zweiten Kriegszeit“ während des Zweiten Weltkriegs eine Art Tagebuch:

Letzten Endes sind wir alle einsam, in eine feste Schale eingeschlossen, aus der es keine Ausgänge gibt. Und jeder lebt sein Leben mehr oder weniger dumpf, mehr oder weniger bewußt und wach. Das ist eine heilsame Einsicht, die das Leben erleichtert und Fehlschläge erspart. Deshalb ist es ebenso heiter, ebenso reich, bunt, wunderbar und ergreifend. Man muß sich diese Freude an der Buntheit, an der unfaßlichen Schönheit, die es auf Schritt und Tritt bietet, nicht trüben lassen, sondern sie immer und überall dankbar empfinden – wissen, daß sie der unerschöpfliche Ausfluß ist einer heimlichen und alles durchströmenden Harmonie. Und an diese geheime Wirklichkeit, die Harmonie des Universums, die Du im kleinsten und größten findest, muß man Anschluß finden, dann strömt sie in Dich und erfüllt Dich und durchströmt Dich und leuchtet aus Dir heraus und schafft Dir geheime Verbündete, die Dich mit ihrer Kraft in der Seele stärken und Dich schlank und biegsam machen, wenn das Leben stürmt und starke Stämme fällt und zerbersten läßt.“

Hans Herbert Grimm selbst hielt seinen Roman bis zuletzt für ein wichtiges Buch von hohem literarischem Rang, dessen Zeit seiner Meinung nach unweigerlich kommen müsse: „Es wird allerdings langsamer gehen als es meiner Geduld gefällt“. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, mauerte er sein Manuskript weitsichtig in die Hauswand ein, später trat er „sicherheitshalber“ in die Partei ein, um weiterhin unbehelligt unterrichten zu können und sich somit ein gewisses Maß an Ungehorsam zu erhalten. Seine unermessliche Tragik besteht vor allem in der Tatsache, dass er sich erst zu seiner Autorschaft bekannte, als er sich einen direkten persönlichen Nutzen davon versprach: die DDR-Organe hatten ihn als ehemaliges NSDAP-Mitglied aus dem Schuldienst entlassen und mit dauerhaftem Berufsverbot belegt – für den leidenschaftlichen Lehrer eine persönliche Katastrophe. Zwei Tage nach einer letzten dringlichen Unterredung mit den maßgeblichen Behörden nahm Hans Herbert Grimm sich in seinem Haus das Leben.

„Schlump“, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, 348 Seiten, € 19,99

Mittwoch, 2. April 2014

„Der König von Midian“ von Julius H. Schoeps

Im November 1891 brach unter dem Kommando des wohlhabenden Berliner Historikers und Philanthropen Paul Friedmann an Bord von dessen Dampfyacht Israel eine denkwürdige Expedition russischer Juden von Bremerhaven nach Ägypten auf, die der stets auch für die abseitigeren Phänomene der jüdischen Historie offene Begründer des renommierten Moses-Mendelssohn-Zentrums an der Universität Potsdam, Julius H. Schoeps, in seinem neuen, aufschlussreichen dokumentarischen Buch „Der König von Midian“ recht zutreffend als lediglich kuriose pittoreske Fußnote der Geschichte des politischen Zionismus einordnet.



Die prekären Lebensverhältnisse der Juden im zaristischen Russland unter der ständigen Bedrohung der sich regelmäßig immer wieder aufs Neue blutig entfesselnden und von der Zentralmacht nicht energisch genug unterbundenen Pogrome hatten den für seine zahlreichen wissenschaftlichen Werke über das Tudor-Zeitalter in ganz Europa geachteten Paul Friedmann (geboren 1840/gestorben nach 1911) schon recht früh dazu veranlasst, sich wie viele andere seiner Zeitgenossen dezidierte Gedanken über die mögliche Schaffung einer neuen sicheren Heimat für verfolgte Juden außerhalb von Europa zu machen. Anders als der gebürtige Münchener Baron Maurice de Hirsch (1831-1896), der als einflussreicher Bankier höchst erfolgreich Siedlungsprojekte in Argentinien (Moises Ville) und Kanada förderte, sah Friedmann diese mögliche neu zu schaffende Heimat allerdings im Norden der Arabischen Halbinsel, namentlich auf dem schmalen Küstenstreifen südlich von Akaba schräg gegenüber der Sinai-Halbinsel, dem biblischen Midian.

Dieser heute zum Staatsgebiet Saudi-Arabiens zählende, eher unbedeutend erscheinende Landstrich hatte aus Sicht des Berliner Historikers indes zwei entscheidende Vorteile: erstens musste der enge Bezug zur historischen geographischen Heimat der jüdischen Religion auch dem Außenstehenden vollkommen offensichtlich erscheinen und zweitens handelte es sich hierbei um eine nahezu menschenleere, nach Meinung zahlreicher mit den lokalen Bedingungen vertrauter westlicher Forscher für Siedlungsprojekte nicht gerade ungeeignete Region, die nach der gängigen Rechtsauffassung des seit Anfang des Jahrhunderts nunmehr unabhängigen Ägyptens zudem demjenigen zuzufallen habe, der sie aktiv bewirtschafte.



Die bemerkenswerte Tatsache, dass Friedmann sich im Gesamtkontext des seinerzeit vorherrschenden aggressiven europäischen Kolonialismus nach verschiedenen praktischen Erwägungen für ein weniger prestigeträchtiges Siedlungsgebiet entschied, in dem jedoch – anders als im von den Vordenkern des politischen Zionismus von jeher favorisierten Palästina – nicht mit nennenswertem Widerstand einer dort seit Generationen fest ansässigen Bevölkerung zu rechnen sein würde, verdient zweifellos gerade aus heutiger Sicht und in Kenntnis der fatalen Auswirkungen der bewussten Negierung arabischer Interessen bei der Staatsgründung Israels eine besondere Würdigung.

In augenfälligem, ausgesprochen kauzigem Kontrast zu dieser scheinbar unzeitgemäßen, auf friedlichen Ausgleich bedachten Grundhaltung engagierte Friedmann als ihm untergeordnetes Führungsteam für sein Siedlungsprojekt schon in der komplizierten Vorbereitungsphase eine Gruppe ehemaliger preussischer Offiziere, die den zukünftigen jüdischen Kolonisten zu Selbstverteidigungszwecken eine umfangreiche militärische Grundausbildung zuteil werden lassen sollten. Ausgerechnet diese Maßnahme sollte sich schon bald nach der Ankunft in Suez am 1. Dezember 1891 als absolut fatal für die Motivation der vierundzwanzig Teilnehmer erweisen, die sich schon vor der Weiterreise nach Scherm el-Moyeh, dem auf der Sinai-Halbinsel gelegenen Basislager zur intendierten Erkundung des eigentlichen Siedlungsgebietes, plötzlich einem wohl angesichts der Umstände vollkommen übertriebenen militärischen Drill ausgesetzt sahen.

Und während selbst einzelne kleine Details des Projekts augenscheinlich höchst akribisch ausgearbeitet waren und aus heutiger Sicht zumindest in theoretischer Hinsicht noch äußerst durchdacht erscheinen, hinterlässt der Prozess der ganz konkreten praktischen Umsetzung von Friedmanns Theorien von Beginn an – etwa bei der allzu kurzfristigen Anwerbung der zukünftigen Kolonisten unter armen, aus Russland geflüchteten und in Krakau gestrandeten Juden – den Eindruck von erschreckender Halbherzigkeit und zauderhaft-unentschlossener, kaum auf Nachhaltigkeit bedachter Beliebigkeit, so dass ein Scheitern der Expedition trotz peinlich genau ausgearbeiteter Verträge über deren Inhalt im Rückblick als nahezu unvermeidlich charakterisiert werden muss.

Das endgültige und für Paul Friedmann nicht nur in finanzieller Hinsicht ausgesprochen bittere Scheitern seines ambitionierten noblen Projekts innerhalb von nur zwei Monaten besitzt nahezu alle Zutaten, die eine gelungene Farce als beispielhafte Zeitkritik braucht: wilde Beduinen, osmanische Soldaten, Winkelzüge der internationalen Diplomatie, Meuterei, Bestechung, einen tragischen Todesfall sowie zahlreiche denkwürdige Auftritte des Expeditionsleiters in farbenfrohen Fantasieuniformen sowie mit einer martialischen Bewaffnung, die selbst Karl May zur Ehre gereicht hätte. All diese grotesk scheinenden, für Zeit und Ort jedoch durchaus charakteristischen Umstände bieten mehr als genug Unterhaltungswert, um Friedmanns Expedition zum dankbaren Objekt künftiger Filme oder Romane zu machen – wofür Julius H. Schoeps gründlich recherchiertes Buch eine Fülle von interessanten Details und aufschlussreichen Originaldokumenten in Form von authentischen Briefen und sonstigen Zeitzeugnissen liefert.

Julius H. Schoeps

Die nach seiner Rückkehr aus Ägypten äußerst unstet verlaufende Lebensspur Paul Friedmanns verliert sich nach 1911 endgültig. Das klägliche Scheitern seines Midian-Projekts sowie die damit verbundenen vehementen öffentlichen Anfeindungen in seiner preussischen Heimat, die in mehreren wenig erfolgreichen Gerichtsprozessen mündeten, hatten ihn nicht nur eines großen Teils seines nicht unbeträchtlichen Vermögens beraubt, sondern ihn auch nachhaltig verbittert und seiner kreativen Schaffenskraft beraubt. Tragischerweise hätte sein ehrgeiziges Vorhaben, russische Juden auf der arabischen Halbinsel anzusiedeln, jedoch auch bei sorgfältigerer Auswahl der Expeditionsteilnehmer und einem umsichtigeren Krisenmanagement zwangsläufig scheitern müssen:

Aufgrund einer nahezu zeitgleich mit Beginn der Expedition erfolgten symbolischen Besetzung des Zielgebiets durch osmanische Truppen und einer dadurch ausgelösten kleineren diplomatischen Krise, zu deren Lösung schließlich auch die gierig nach Einfluss im Nahen Osten strebenden europäischen Großmächte aktiv beitragen konnten, durfte sich Friedmann letztlich keinerlei offizieller Unterstützung mehr für sein Unternehmen gewiss sein, weder von ägyptischer Seite noch von westlicher. Hier wird gerade in der grundlegenden Analyse des unkalkulierbaren Zusammenspiels des Zufalls mit den unterschiedlichsten politischen Interessen und Machtfaktoren am Ende beispielhaft deutlich, wie leicht die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina ebenfalls lediglich als Fußnote in die Geschichte hätte eingehen können.

„Der König von Midian“, erschienen bei Koehler & Amelang, 223 Seiten, € 29,95