Im soeben
erschienenen zweiten Band seiner faszinierenden
Southern-Reach-Trilogie macht es der vielfach ausgezeichnete
amerikanische Science-Fiction-Autor Jeff VanderMeer seinen
erwartungsvollen Lesern zunächst sehr viel schwerer als im
glänzenden, leicht zugänglichen und hoch spannenden, bereits im vergangenen Herbst unter
ebenso lautem wie berechtigtem Beifall erschienenen Auftaktband
„Auslöschung“, in dem eine aus fünf Wissenschaftlerinnen
bestehende Expedition in einem bereits seit Jahrzehnten hermetisch
abgeschirmten militärischen Sperrgebiet namens Area X auf ein
fremdartiges Lebewesen ungeklärter Herkunft stößt, dessen
furchterregende, makellose biologische Intelligenz der geballten
menschlichen Zerstörungskraft so haushoch überlegen ist, dass am
Ende keine der Wissenschaftlerinnen die Forschungsreise überlebt.
Diese ausschließlich
aus Sicht der verantwortlichen Biologin geschilderte Expedition, nach
offizieller Lesart der federführenden geheimen Regierungsbehörde
bereits die zwölfte ihrer Art, nachdem deren Vorgängerunternehmen
auf teilweise katastrophale Art und Weise gescheitert sind, ist dabei
synchron zur offensichtlichen äußeren Handlungsebene deutlich
erkennbar auch als atemberaubende innere Begegnung mit der
dunkel-furchtbesetzten Welt des individuellen und kollektiven
Unbewussten gestaltet, dem sich die von hochinfektiösen Mikrosporen
des Organismus unumkehrbar kontaminierte Protagonistin am Ende des
Buches in einem intuitiven, möglicherweise heilsamen Streben nach
Einheit aus freiem Willen ergibt.
„Was ist ihre
letzte Erinnerung an Area X?“
Die unerwartete
Antwort schwappte über ihn hinweg wie eine Angriffswelle aus Licht,
das die Dunkelheit attackiert: „Ertrinken. Ich war am Ertrinken.“
Im nahezu doppelt so
umfangreichen zweiten Band der Trilogie erarbeitet Jeff VanderMeer
nun zunächst mit großem inhaltlichen Aufwand einen wesentlichen
thematischen Kontrapunkt zu der von der Biologin gefühlsmäßig
angestrebten inneren und äußeren Vereinigung mit dem Prinzip des
Unbewussten als Erscheinungsform der Natur, die für den
fremdartig-feindlichen Organismus aus Area X kennzeichnend ist, indem
er unter dem überaus treffenden programmatischen Titel „Autorität“
nun die menschliche Ratio in Verkörperung des frisch ernannten,
ausgesprochen verstandesbetonten Leiters der geheimen
Southern-Reach-Behörde in Bezug zu den Ereignissen setzt, des in
anderen Positionen bereits gescheiterten etwa vierzigjährigen
Geheimdienstlers John Rodriguez, um ein wirksames Gegengewicht zum
ungebremsten Unbewussten zu schaffen.
Area X - Militärisches Sperrgebiet |
Das hier war keine echte Wildnis, war angenehm nah an der Zivilisation, aber doch so anders, dass eine Grenze markiert wurde. Und genau das wollten die meisten Menschen: sie wollten nah dran, aber nicht Teil davon sein. Sie wollten keine "unberührte Wildnis", die ihnen Angst machte. Sie wollten aber auch kein seelenloses, synthetisches Leben.
John Rodriguez, genannt „Control“, der aufgrund der Protektion seiner in einflussreicher Position ebenfalls für den Geheimdienst tätigen Mutter zum neuen Leiter von Southern Reach ernannt worden ist, findet zunächst einige erstaunliche Details über die gescheiterten Expeditionen heraus, die für den Leser des ersten Bandes von entscheidender Bedeutung sind. Zum einen hat es bislang nicht, wie der Leser mit den Teilnehmerinnen der letzten wissenschaftlichen Kampagne geglaubt hat, nur zwölf Expeditionen nach Area X gegeben, sondern achtunddreißig:
Nach der real fünften [Expedition] war Southern Reach hängen geblieben, hatte einen Sprung in der Platte. Expedition 5 wurde zu X.5.A, gefolgt von X.5.B und X.5.C, bis hinunter zu X.5.G. Bei jeder der nachfolgenden Expeditionen musste eine Reihe von Kriterien eingehalten werden und jeder Buchstabe fügte der Gleichung eine Variable hinzu. Zum Beispiel hatten sämtliche elfte Expeditionen aus Männern bestanden, während die zwölften, hätte es eine X.12.B und so weiter gegeben, nur mit Frauen besetzt sein sollten.
Zum anderen stellt sich heraus, dass die bisherige Direktorin als angebliche Psychologin – so jedenfalls war sie den anderen Teilnehmerinnen vorgestellt worden – selbst als leitende Wissenschaftlerin an der zwölften Expedition teilgenommen hat, in deren Verlauf sie gemeinsam mit ihren Gefährtinnen den im ersten Band geschilderten Ereignissen zum Opfer gefallen ist. Während die anderen Teilnehmerinnen jedoch mittlerweile allesamt in körperlich unversehrtem, wenn auch geistig zerrüttetem Zustand wieder aufgetaucht sind und vom Geheimdienst befragt werden, fehlt von der ehemaligen Direktorin weiterhin jede Spur. Im Zentrum der Befragungen, die von John Rodriguez selbst geleitet werden, steht die Biologin als dem Leser vertraute Protagonistin des ersten Bandes. Mysteriöserweise bestreitet sie jedoch bis zuletzt vehement, die bewusste Biologin zu sein, was am Ende des zweiten Bandes schließlich von ebenso furchterregender wie entscheidender Bedeutung sein wird.
John Rodriguez, genannt „Control“, der aufgrund der Protektion seiner in einflussreicher Position ebenfalls für den Geheimdienst tätigen Mutter zum neuen Leiter von Southern Reach ernannt worden ist, findet zunächst einige erstaunliche Details über die gescheiterten Expeditionen heraus, die für den Leser des ersten Bandes von entscheidender Bedeutung sind. Zum einen hat es bislang nicht, wie der Leser mit den Teilnehmerinnen der letzten wissenschaftlichen Kampagne geglaubt hat, nur zwölf Expeditionen nach Area X gegeben, sondern achtunddreißig:
Nach der real fünften [Expedition] war Southern Reach hängen geblieben, hatte einen Sprung in der Platte. Expedition 5 wurde zu X.5.A, gefolgt von X.5.B und X.5.C, bis hinunter zu X.5.G. Bei jeder der nachfolgenden Expeditionen musste eine Reihe von Kriterien eingehalten werden und jeder Buchstabe fügte der Gleichung eine Variable hinzu. Zum Beispiel hatten sämtliche elfte Expeditionen aus Männern bestanden, während die zwölften, hätte es eine X.12.B und so weiter gegeben, nur mit Frauen besetzt sein sollten.
Zum anderen stellt sich heraus, dass die bisherige Direktorin als angebliche Psychologin – so jedenfalls war sie den anderen Teilnehmerinnen vorgestellt worden – selbst als leitende Wissenschaftlerin an der zwölften Expedition teilgenommen hat, in deren Verlauf sie gemeinsam mit ihren Gefährtinnen den im ersten Band geschilderten Ereignissen zum Opfer gefallen ist. Während die anderen Teilnehmerinnen jedoch mittlerweile allesamt in körperlich unversehrtem, wenn auch geistig zerrüttetem Zustand wieder aufgetaucht sind und vom Geheimdienst befragt werden, fehlt von der ehemaligen Direktorin weiterhin jede Spur. Im Zentrum der Befragungen, die von John Rodriguez selbst geleitet werden, steht die Biologin als dem Leser vertraute Protagonistin des ersten Bandes. Mysteriöserweise bestreitet sie jedoch bis zuletzt vehement, die bewusste Biologin zu sein, was am Ende des zweiten Bandes schließlich von ebenso furchterregender wie entscheidender Bedeutung sein wird.
Die Natur kehrt zurück/Foto: Honza Groh |
John Rodriguez versucht währenddessen, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln das Material über Area X zu sichten und nach strengen rationalen Gesichtspunkten zu ordnen, um innerhalb einer noch aufzudeckenden Systematik den Sinn hinter den geheimnisvollen Ereignissen und den rätselhaften Beweggründen der ehemaligen Direktorin begreifen zu können. In diesem Streben wird er vor allem von der langjährigen Stellvertreterin der Verschollenen massiv behindert, die in ungebrochener Loyalität zu letzterer steht und Johns Bemühungen massiv hintertreibt. Aber auch zu den anderen Mitarbeitern von Southern Reach, die allesamt etwas vor ihm zu verbergen scheinen, gelingt es ihm zu keiner Zeit, einen nennenswerten persönlichen oder professionellen Zugang zu finden. Und versteckt hinter einem Bücherregal im Büro der verschollenen Direktorin findet sich zu seinem Erstaunen auch der verschroben-prophetische Satz, den der unbekannte Organismus in Area X an die Wände des labyrinthischen Stollens geschrieben hat:
Wo liegt die alles erstickende Frucht die aus der Hand des Sünders erwuchs Ich werde die Saat der Toten gebären und mit den Würmern teilen die in der Dunkelheit sich versammeln und die Welt mit der Macht ihrer Leben umzingeln während in düsteren Gängen anderer Orte Formen die niemals waren und niemals sein durften sich mit der Ungeduld der Wenigen krümmen die nie erblickten was hätte sein können in den schwarzen Wassern über denen die Sonne um Mitternacht scheint werden die Früchte zur Reife kommen und im Dunkel dessen was golden ist aufbrechen und enthüllen die Offenbarung der verheerenden Sanftheit der Erde
Nachdem wir als Leser gemeinsam mit dem zunehmend desillusionierten Protagonisten lange Zeit ausführlich dessen deprimierenden Zustand umfassender Trennung von seinen Mitmenschen, der Sphäre des Berufs, seiner Familie, seiner eigenen Gefühlswelt sowie von der Natur und den verschiedensten Aspekten von Wahrheit – sowohl universeller Ausprägung als auch bezüglich Area X – erkundet haben, überschlagen sich schließlich die Ereignisse auf spektakuläre Art und Weise, als John in einem unscheinbaren Lagerraum von Southern Reach zuerst eine schockierende Entdeckung macht und dann die Biologin, zu der er mittlerweile eine heimliche, uneingestandene Zuneigung entwickelt hat, unter ungeklärten Umständen aus ihrer Sicherheitsverwahrung flieht. Gleichzeitig mit dem Erscheinen der ehemaligen Direktorin, gleichsam aus dem Nichts heraus, als Vorbotin der Apokalypse, beginnt sich Area X plötzlich gänzlich unerwartet für alle Beteiligten immer weiter unkontrolliert auszubreiten. In Johns umfassendem persönlichen Scheitern manifestiert sich damit auch die Unmöglichkeit, dem Phänomen von Area X mit den Mitteln des menschlichen Verstandes beizukommen.
Jeff VanderMeer |
Bei seiner unkontrollierten, panischen Flucht vor der drohenden Katastrophe nähert sich John zunächst widerwillig seiner von ihm lange Zeit in unreifer kindlicher Hassliebe missachteten Mutter an, die ihm schließlich entgegen aller offiziellen Direktiven zu einem geschützten Rückzug verhilft. Am Ende seiner Flucht in die äußerste Wildnis des Staates Washington findet er – an ihrem Lieblingsort, wie erwartet – schließlich und am Ende seiner mentalen und physischen Kräfte die Biologin wieder, die ihm mit vorgehaltenem Revolver eine schmerzvolle Wahrheit enthüllt, die alle seine Hoffnungen schließlich auf einen einzigen, allerletzten verzweifelten Ausweg reduzieren, der die totale Auslöschung durch einen erbarmungslosen Feind bedeuten kann, möglicherweise aber auch absolute Akzeptanz des furchtbesetzten Fremden – so jedenfalls der Titel des Anfang März erscheinenden dritten Bandes.
„Es ist
gefährlich“, sagte er flehentlich zu ihr, als ob sie das nicht
wüsste. „Nichts ist bewiesen. Wir wissen nicht, wo wir
herauskommen.“ Das Loch war so tief und so zerklüftet und das
Wasser durch die Wellen zunehmend aufgewühlt. Er hatte Wunder
gesehen und er hatte Schreckliches gesehen. Er musste einfach
glauben, dass dies ein weiteres Wunder war, dass es wahr und
erfahrbar war.
Sie taxierte ihn.
Sie hatte genug gesagt. Sie warf die Pistole weg. Dann sprang sie,
tauchte tief, tief hinab ins Wasser.
Er warf einen
letzten Blick zurück auf die Welt, die er kannte. Sog alles tief in
sich hinein, alles, was er sehen konnte, alles, woran er sich
erinnerte.
„Spring“,
sagte eine Stimme in seinem Kopf.
Control sprang.
Dieser letzte, die Southern-Reach-Trilogie beschließende Band muss schließlich die alles entscheidende Frage beantworten, ob die Wesensart des fremdartigen Organismus von Area X gutartiger oder böser Natur ist, heilsam oder zerstörerisch für die Menschheit, göttlichen Ursprungs oder psychotischer Natur. Oder aber, ob er möglicherweise konventionellen menschlichen Maßstäben und somit einer moralischen Beurteilung von Außen vielleicht vollkommen entzogen ist. Nach der ebenso begeisternden wie nachhaltig inspirierenden Lektüre der ersten beiden Bänden muss die Erwartungshaltung des Lesers an den abschließenden dritten Band geradezu astronomisch hoch sein. Es kann aber gleichzeitig kaum berechtigten Zweifel daran geben, dass Jeff VanderMeer dieser Erwartung auch im dritten Band auf überraschende Art und Weise gerecht werden wird. Die Southern-Reach-Trilogie gehört zum Besten und intellektuell Aufregendsten, was die zeitgenössische Science-Fiction zu bieten hat.
„Southern Reach Trilogie, Band II: Autorität“, aus dem Amerikanischen von Michael Kellner, erschienen bei Antje Kunstmann, 354 Seiten, € 18,95