Jerusalem

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Samstag, 28. Februar 2015

„Autorität“ von Jeff VanderMeer

Im soeben erschienenen zweiten Band seiner faszinierenden Southern-Reach-Trilogie macht es der vielfach ausgezeichnete amerikanische Science-Fiction-Autor Jeff VanderMeer seinen erwartungsvollen Lesern zunächst sehr viel schwerer als im glänzenden, leicht zugänglichen und hoch spannenden, bereits im vergangenen Herbst unter ebenso lautem wie berechtigtem Beifall erschienenen Auftaktband „Auslöschung“, in dem eine aus fünf Wissenschaftlerinnen bestehende Expedition in einem bereits seit Jahrzehnten hermetisch abgeschirmten militärischen Sperrgebiet namens Area X auf ein fremdartiges Lebewesen ungeklärter Herkunft stößt, dessen furchterregende, makellose biologische Intelligenz der geballten menschlichen Zerstörungskraft so haushoch überlegen ist, dass am Ende keine der Wissenschaftlerinnen die Forschungsreise überlebt. 



Diese ausschließlich aus Sicht der verantwortlichen Biologin geschilderte Expedition, nach offizieller Lesart der federführenden geheimen Regierungsbehörde bereits die zwölfte ihrer Art, nachdem deren Vorgängerunternehmen auf teilweise katastrophale Art und Weise gescheitert sind, ist dabei synchron zur offensichtlichen äußeren Handlungsebene deutlich erkennbar auch als atemberaubende innere Begegnung mit der dunkel-furchtbesetzten Welt des individuellen und kollektiven Unbewussten gestaltet, dem sich die von hochinfektiösen Mikrosporen des Organismus unumkehrbar kontaminierte Protagonistin am Ende des Buches in einem intuitiven, möglicherweise heilsamen Streben nach Einheit aus freiem Willen ergibt.

Was ist ihre letzte Erinnerung an Area X?“
Die unerwartete Antwort schwappte über ihn hinweg wie eine Angriffswelle aus Licht, das die Dunkelheit attackiert: „Ertrinken. Ich war am Ertrinken.“

Im nahezu doppelt so umfangreichen zweiten Band der Trilogie erarbeitet Jeff VanderMeer nun zunächst mit großem inhaltlichen Aufwand einen wesentlichen thematischen Kontrapunkt zu der von der Biologin gefühlsmäßig angestrebten inneren und äußeren Vereinigung mit dem Prinzip des Unbewussten als Erscheinungsform der Natur, die für den fremdartig-feindlichen Organismus aus Area X kennzeichnend ist, indem er unter dem überaus treffenden programmatischen Titel „Autorität“ nun die menschliche Ratio in Verkörperung des frisch ernannten, ausgesprochen verstandesbetonten Leiters der geheimen Southern-Reach-Behörde in Bezug zu den Ereignissen setzt, des in anderen Positionen bereits gescheiterten etwa vierzigjährigen Geheimdienstlers John Rodriguez, um ein wirksames Gegengewicht zum ungebremsten Unbewussten zu schaffen.


Area X - Militärisches Sperrgebiet

Das hier war keine echte Wildnis, war angenehm nah an der Zivilisation, aber doch so anders, dass eine Grenze markiert wurde. Und genau das wollten die meisten Menschen: sie wollten nah dran, aber nicht Teil davon sein. Sie wollten keine "unberührte Wildnis", die ihnen Angst machte. Sie wollten aber auch kein seelenloses, synthetisches Leben. 

John Rodriguez, genannt „Control“, der aufgrund der Protektion seiner in einflussreicher Position ebenfalls für den Geheimdienst tätigen Mutter zum neuen Leiter von Southern Reach ernannt worden ist, findet zunächst einige erstaunliche Details über die gescheiterten Expeditionen heraus, die für den Leser des ersten Bandes von entscheidender Bedeutung sind. Zum einen hat es bislang nicht, wie der Leser mit den Teilnehmerinnen der letzten wissenschaftlichen Kampagne geglaubt hat, nur zwölf Expeditionen nach Area X gegeben, sondern achtunddreißig:

Nach der real fünften [Expedition] war Southern Reach hängen geblieben, hatte einen Sprung in der Platte. Expedition 5 wurde zu X.5.A, gefolgt von X.5.B und X.5.C, bis hinunter zu X.5.G. Bei jeder der nachfolgenden Expeditionen musste eine Reihe von Kriterien eingehalten werden und jeder Buchstabe fügte der Gleichung eine Variable hinzu. Zum Beispiel hatten sämtliche elfte Expeditionen aus Männern bestanden, während die zwölften, hätte es eine X.12.B und so weiter gegeben, nur mit Frauen besetzt sein sollten.

Zum anderen stellt sich heraus, dass die bisherige Direktorin als angebliche Psychologin – so jedenfalls war sie den anderen Teilnehmerinnen vorgestellt worden – selbst als leitende Wissenschaftlerin an der zwölften Expedition teilgenommen hat, in deren Verlauf sie gemeinsam mit ihren Gefährtinnen den im ersten Band geschilderten Ereignissen zum Opfer gefallen ist. Während die anderen Teilnehmerinnen jedoch mittlerweile allesamt in körperlich unversehrtem, wenn auch geistig zerrüttetem Zustand wieder aufgetaucht sind und vom Geheimdienst befragt werden, fehlt von der ehemaligen Direktorin weiterhin jede Spur. Im Zentrum der Befragungen, die von John Rodriguez selbst geleitet werden, steht die Biologin als dem Leser vertraute Protagonistin des ersten Bandes. Mysteriöserweise bestreitet sie jedoch bis zuletzt vehement, die bewusste Biologin zu sein, was am Ende des zweiten Bandes schließlich von ebenso furchterregender wie entscheidender Bedeutung sein wird.


Die Natur kehrt zurück/Foto: Honza Groh


John Rodriguez versucht währenddessen, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln das Material über Area X zu sichten und nach strengen rationalen Gesichtspunkten zu ordnen, um innerhalb einer noch aufzudeckenden Systematik den Sinn hinter den geheimnisvollen Ereignissen und den rätselhaften Beweggründen der ehemaligen Direktorin begreifen zu können. In diesem Streben wird er vor allem von der langjährigen Stellvertreterin der Verschollenen massiv behindert, die in ungebrochener Loyalität zu letzterer steht und Johns Bemühungen massiv hintertreibt. Aber auch zu den anderen Mitarbeitern von Southern Reach, die allesamt etwas vor ihm zu verbergen scheinen, gelingt es ihm zu keiner Zeit, einen nennenswerten persönlichen oder professionellen Zugang zu finden. Und versteckt hinter einem Bücherregal im Büro der verschollenen Direktorin findet sich zu seinem Erstaunen auch der verschroben-prophetische Satz, den der unbekannte Organismus in Area X an die Wände des labyrinthischen Stollens geschrieben hat: 

Wo liegt die alles erstickende Frucht die aus der Hand des Sünders erwuchs Ich werde die Saat der Toten gebären und mit den Würmern teilen die in der Dunkelheit sich versammeln und die Welt mit der Macht ihrer Leben umzingeln während in düsteren Gängen anderer Orte Formen die niemals waren und niemals sein durften sich mit der Ungeduld der Wenigen krümmen die nie erblickten was hätte sein können in den schwarzen Wassern über denen die Sonne um Mitternacht scheint werden die Früchte zur Reife kommen und im Dunkel dessen was golden ist aufbrechen und enthüllen die Offenbarung der verheerenden Sanftheit der Erde 

Nachdem wir als Leser gemeinsam mit dem zunehmend desillusionierten Protagonisten lange Zeit ausführlich dessen deprimierenden Zustand umfassender Trennung von seinen Mitmenschen, der Sphäre des Berufs, seiner Familie, seiner eigenen Gefühlswelt sowie von der Natur und den verschiedensten Aspekten von Wahrheit – sowohl universeller Ausprägung als auch bezüglich Area X – erkundet haben, überschlagen sich schließlich die Ereignisse auf spektakuläre Art und Weise, als John in einem unscheinbaren Lagerraum von Southern Reach zuerst eine schockierende Entdeckung macht und dann die Biologin, zu der er mittlerweile eine heimliche, uneingestandene Zuneigung entwickelt hat, unter ungeklärten Umständen aus ihrer Sicherheitsverwahrung flieht. Gleichzeitig mit dem Erscheinen der ehemaligen Direktorin, gleichsam aus dem Nichts heraus, als Vorbotin der Apokalypse, beginnt sich Area X plötzlich gänzlich unerwartet für alle Beteiligten immer weiter unkontrolliert auszubreiten. In Johns umfassendem persönlichen Scheitern manifestiert sich damit auch die Unmöglichkeit, dem Phänomen von Area X mit den Mitteln des menschlichen Verstandes beizukommen.

Jeff VanderMeer

Bei seiner unkontrollierten, panischen Flucht vor der drohenden Katastrophe nähert sich John zunächst widerwillig seiner von ihm lange Zeit in unreifer kindlicher Hassliebe missachteten Mutter an, die ihm schließlich entgegen aller offiziellen Direktiven zu einem geschützten Rückzug verhilft. Am Ende seiner Flucht in die äußerste Wildnis des Staates Washington findet er – an ihrem Lieblingsort, wie erwartet – schließlich und am Ende seiner mentalen und physischen Kräfte die Biologin wieder, die ihm mit vorgehaltenem Revolver eine schmerzvolle Wahrheit enthüllt, die alle seine Hoffnungen schließlich auf einen einzigen, allerletzten verzweifelten Ausweg reduzieren, der die totale Auslöschung durch einen erbarmungslosen Feind bedeuten kann, möglicherweise aber auch absolute Akzeptanz des furchtbesetzten Fremden – so jedenfalls der Titel des Anfang März erscheinenden dritten Bandes. 

Es ist gefährlich“, sagte er flehentlich zu ihr, als ob sie das nicht wüsste. „Nichts ist bewiesen. Wir wissen nicht, wo wir herauskommen.“ Das Loch war so tief und so zerklüftet und das Wasser durch die Wellen zunehmend aufgewühlt. Er hatte Wunder gesehen und er hatte Schreckliches gesehen. Er musste einfach glauben, dass dies ein weiteres Wunder war, dass es wahr und erfahrbar war.
Sie taxierte ihn. Sie hatte genug gesagt. Sie warf die Pistole weg. Dann sprang sie, tauchte tief, tief hinab ins Wasser.
Er warf einen letzten Blick zurück auf die Welt, die er kannte. Sog alles tief in sich hinein, alles, was er sehen konnte, alles, woran er sich erinnerte.
Spring“, sagte eine Stimme in seinem Kopf.
Control sprang.


Dieser letzte, die Southern-Reach-Trilogie beschließende Band muss schließlich die alles entscheidende Frage beantworten, ob die Wesensart des fremdartigen Organismus von Area X gutartiger oder böser Natur ist, heilsam oder zerstörerisch für die Menschheit, göttlichen Ursprungs oder psychotischer Natur. Oder aber, ob er möglicherweise konventionellen menschlichen Maßstäben und somit einer moralischen Beurteilung von Außen vielleicht vollkommen entzogen ist. Nach der ebenso begeisternden wie nachhaltig inspirierenden Lektüre der ersten beiden Bänden muss die Erwartungshaltung des Lesers an den abschließenden dritten Band geradezu astronomisch hoch sein. Es kann aber gleichzeitig kaum berechtigten Zweifel daran geben, dass Jeff VanderMeer dieser Erwartung auch im dritten Band auf überraschende Art und Weise gerecht werden wird. Die Southern-Reach-Trilogie gehört zum Besten und intellektuell Aufregendsten, was die zeitgenössische Science-Fiction zu bieten hat. 

Southern Reach Trilogie, Band II: Autorität“, aus dem Amerikanischen von Michael Kellner, erschienen bei Antje Kunstmann, 354 Seiten, € 18,95

Freitag, 27. Februar 2015

„Wenn wir bleiben könnten“ von Lily Brett

In Salomon An-Skis (1863-1920) für das jiddische Theater wie für den jiddischen Film gleichermaßen stilbildendem, dem literarischen Expressionismus nahestehenden Theaterstück „Zwischen zwei Welten – Der Dybbuk“ wird die Seele der lieblos einem älteren Mann versprochenen Leah unmittelbar nach dem tragischen Tod ihres wahren Geliebten, des jungen Gelehrten und begnadeten Kabbalisten Chanan, von einem Dybbuk, einem bösartigen Dämon, in Besitz genommen, den jener möglicherweise selbst in seinem verzweifelten Versuch, die Heirat mit Hilfe von Magie zu verhindern, heraufbeschworen hat. Im Verlauf der von einem chassidischen Wunderrabbi begonnenen und später zunächst erfolglos vor einem Rabbinatsgericht weitergeführten Versuch eines Exorzismus wird allgemein offenbar, dass die Väter der beiden unglücklichen Liebenden einst ihre beiden Kinder einander in einer heiligen Übereinkunft fest versprochen hatten, Leahs Vater Sender jedoch hatte diesen Schwur dann in Aussicht einer reichen Mitgift für seine Tochter gebrochen.




Im Rahmen des folgenden langwierigen Rituals, das Sender schwer belastet und zu lebenslangen materiellen und spirituellen Entschädigungen auffordert, wird mit Hilfe eines Kreidestrichs ein Schutzkreis um Leah gezogen, während der chassidische Gelehrte mit Gebeten und kabbalistischen Beschwörungen sowie diversen Kultgegenständen den Dybbuk weiter auszutreiben versucht. Als der Dämon Leahs Körper nach langem Ringen endlich verlassen hat, bricht die Gemeinde geschlossen auf, um die ausgesetzte Hochzeit vorzubereiten, die junge Frau jedoch wird allein im Kreidekreis zurückgelassen, unter strengsten Ermahnungen, diesen bis zur Vermählung auf keinen Fall zu verlassen. Doch die mystische Verbindung zwischen ihr und ihrem wahren Geliebten, derer sie sich immer bewusst geblieben ist, ist so stark und die Grenze des spirituellen Schutzes beiderseits so durchlässig, dass Leah den Kreidekreis schließlich willentlich verlässt und im Tod mit Chanan vereint wird.

Ich vergesse dauernd
die Fakten und Statistiken
und jedes Mal
wenn ich sie wissen muss

schaue ich in Büchern nach
diese Bücher nehmen
zwölf Regale
in meinem Zimmer ein


Wer heute gemeinsam mit erstaunlichen 81 Prozent der Deutschen, wie es eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung nahelegt, allen Ernstes mit der Schoah abschließen will, muss sich bewusst sein, dass ein solcher gedanklicher Schlussstrich letztlich ähnlich wirkungslos bleiben muss, wie der Kreidestrich in An-Skis Drama. Denn angesichts der Dimensionen der Verbrechen, über die wir hier reden – und dringend auch im Gespräch bleiben müssen, kann jede künstlich gezogene gedankliche Grenze nur vollkommen unangemessen bleiben, weil sie der Sache in keiner Weise und in keiner Richtung gerecht zu werden vermag und deshalb naturgemäß in jedem Fall durchlässig bleiben muss, wofür schon allein der vollkommen im Bereich des Unbewussten angesiedelte Wunsch nach einem Schlussstrich als erster unwiderlegbarer Beweis gelten kann, denn was einen nicht unablässig bedrängt, muss man auch nicht von sich schieben – man würde es gar nicht bemerken.

Ich kenne ihn
als das
Panik-Phantom

kalte Luft wallt
aus den Falten
seines langen schwarzen Mantels

er schüttelt
seine knochigen Finger
und spricht in gebrochenem Bariton

möchtest du
mal erleben
was wirkliche
Probleme sind


Das Werk der in New York lebenden australischen Schriftstellerin, Lyrikerin und Essayistin Lily Brett, geboren 1946 in einem Flüchtlingscamp in Feldafing am Starnberger See, wäre ohne die umfassende emotionale Erschütterung, der sie auch als Tochter von Holocaust-Überlebenden lebenslang unweigerlich aufs Schmerzvollste ausgesetzt bleiben muss, überhaupt nicht ansatzweise denkbar. So hat sie in allen ihren bisherigen Romanen sowie Essay- und Lyrikbänden vor allem eine schonungslose Aufarbeitung des gemeinsamen Traumas ihrer Eltern und ihrer selbst als deren Tochter betrieben, mitunter sogar auf überraschend schwerelose, geradezu burleske Art und Weise wie in ihrem möglicherweise besten, unterhaltsamsten und eindrücklichsten Roman „Chuzpe“ aus dem Jahr 2006, der 2012 in einer Theateradaption mit Otto Schenk sogar in den Wiener Kammerspielen Premiere feiern durfte.

Mutter, ich wusste nie
wo du endetest

vierzig Jahre lang
trug ich uns ineinandergeblendet

ich lief durch Melbourne
als wäre es Warschau
 
Eine unverkennbare Sonderstellung in ihrem Werk nehmen jedoch zweifellos ihre eindringlichen Gedichte ein, die, wenn auch dem breiten Publikum bislang weniger bekannt, noch direkter, konzentrierter und in vielerlei Hinsicht auch persönlicher und emotionaler die zahlreichen Bruchstellen in der Biografie einer gewissermaßen typischen Vertreterin der Zweiten Generation zu benennen versuchen, durch die die kaum fassbare, gewaltige Monstrosität der Schoah in zahlreichen, zum Teil unscheinbaren Details unentrinnbar in ihr eigenes Leben eindringt. Sich diesen ungeheuerlichen sichtbaren wie unsichtbaren Durchlässigkeiten in einem lebenslangen persönlichen und literarischen Ringen in äußerster Konsequenz voll und ganz zu stellen, darin besteht der unschätzbare Verdienst der Lyrikerin Lily Brett, die erst relativ spät, im Alter von vierzig Jahren mit ihrem Band „The Auschwitz Poems“ (1988) debütierte.

Deine Augen
sind wieder aufgeleuchtet
in einem kleinen Mädchen

geboren zweiundzwanzig Jahre
nach deinem Tod
deine Augen kamen an

in diesem Kind
meines Kindes
mit einer Klarheit

und einer Sicherheit
die Angst
war herausgetrennt worden

Im Insel-Verlag ist nun erstmals eine repräsentative Auswahl eigener Hand aus Lily Bretts eindrucksvollem, auf mittlerweile sieben Bände angewachsenen lyrischen Werk erschienen, in dem die Autorin mit zarter Empathie, wacher Beobachtungsgabe und untrüglichem Gespür für die zahlreichen Brüche im Leben der Opfer eindrucksvoll aufzeigt, dass jede künstlich gesetzte gedankliche Grenze hier in jedem Fall scheitern muss und stattdessen nur die schmerzhafte Anerkennung des Unvorstellbaren durch den ungebrochenen, immer wieder erneuerten Versuch, angemessene Worte für das Unaussprechliche zu finden, dieses wenigstens ansatzweise zu lindern vermag. 

Lily Brett/Foto: Bettina Strauss

Dabei gibt Lily Brett in ihrem lesenswerten Vorwort unumwunden zu, dass ihr die Auswahl in dieser Zusammenstellung einen so schmerzvollen Blick auf sich selbst ermöglicht habe, dass sie zeitweise eine deutliche thematische Änderung erwogen habe: 

Ich wollte wegkommen vom Lärm der Alpträume und der allgegenwärtigen Angst um mich herum. […] Ich wollte es mir anders überlegen und lieber ein Buch mit skurrileren Gedichten machen. Mit Gedichten ohne Traurigkeit an den Rändern jeder Zeile. Ich habe mich zurückgehalten und nichts geändert. [...] Und, ich habe erfahren, dass es mitunter gar nicht so schlimm ist, wenn einen etwas aus dem Gleichgewicht bringt. […] Die Vergangenheit, die Vergangenheit meiner Eltern und meine eigene, waren Teil meiner Gegenwart seit ich denken kann. Die Vergangenheit meiner Eltern schwebte darüber wie eine tiefhängende Wolke aus Angst und Leid. Sie hat nicht alles andere ausgelöscht, aber es wäre leicht möglich gewesen. 

Wer aber so unbeirrt seinen persönlichen poetischen Weg weiterverfolgt wie Lily Brett und dabei dem allgegenwärtigen Schmerz ebenso wenig ausweicht wie aufkeimendem Zorn, trotz allem aber auch den dahinter verborgenen Zauber der Menschlichkeit zu sehen vermag, muss eine solche Auslöschung des Eigenen und Gegenwärtigen nicht ernsthaft befürchten. Lily Bretts Gedichte werden so zu einem bestechenden literarischen Dokument des bemerkenswerten menschlichen Vermögens, sein individuelles Schicksal als persönliche Herausforderung anzunehmen und mit Hilfe seiner ureigenen Talente und Fähigkeiten aufmerksam zu seinen eigenen Gunsten umzukehren und zu verwandeln. Sie sind somit nicht nur Ausdruck eines lebenslang von Wörtern und Worten positiv besessenen Menschen, der schon in seiner Kindheit lieber als Musik dem Klang gesprochener Sprache lauschte, sondern auch das geeignete Medium zu Welterfahrung, Selbsterkenntnis und persönlichem Gleichgewicht: die Gedichte einer Frau, die entgegen aller Hemmnisse in sich selbst ruht, weil sie die Bedrängnisse ihres Lebens integriert hat. 

Wenn wir bleiben könnten“, zweisprachige Ausgabe, aus dem Englischen von Jutta Kaußen, erschienen bei Insel, 152 Seiten, € 19,95

Montag, 23. Februar 2015

„Blätterrauschen“ von Holly-Jane Rahlens

Holly-Jane Rahlens spannender neuer Jugendroman beginnt sehr stimmungsvoll in einer geradezu archetypischen, altmodisch-verstaubten, kleinen Berliner Stadtteilbuchhandlung, mit hohen Regalen bis zur Decke und dem für alle, die sich von Büchern gern in fiktive Welten und literarische Gedankengebäude entführen lassen, so verheißungsvollen Duft nach bedrucktem Papier und verstaubten Buchrücken. Im Hinterzimmer des kleinen Buchladens haben sich eines düster-stürmischen Herbstnachmittags die drei Vierzehnjährigen Oliver, Iris und Rosa versammelt, um im Rahmen ihres Buchclubs unter der Anleitung der sympathisch-resoluten Buchhändlerin Cornelia Eichfeld über Literatur zu diskutieren.


Während sie noch auf Cornelia warten, die gerade eben von der Ladenglocke in die Verkaufsräume gerufen worden ist, werden sie plötzlich von einem vollkommen unvermittelt auftretenden hellen Lichtblitz und einem markerschütternden Donnern aufgeschreckt. In der direkt darauf folgenden umso intensiveren Stille, hat seltsamerweise jeder einzelne von ihnen das irritierende Gefühl, diese Situation schon einmal erlebt zu haben, möglicherweise sogar schon mehrmals. Und nur wenige Minuten später steht ein etwa gleichaltriger, merkwürdig futuristisch gekleideter Junge namens Colin vor ihnen, der sie zu ihrem großen Erstaunen in englischer Sprache eindringlich darum bittet, ihm behilflich zu sein, das „nächste Level“ zu erreichen.

Colin beugte sich vor. „Ich kann alles in der imaginären Umgebung sehen, hören, schmecken, spüren und riechen. In diesem speziellen Spiel ist die künstlich erzeugte Welt das frühe 21. Jahrhundert in Berlin, der zweitgrößten Stadt der Europäischen Union, wenige Jahre vor Beginn des Dark –„
Stopp mal!“, unterbrach Rosa ihn. „Das geht alles viel zu schnell.“ Sie sortierte ihre Gedanken. „Du willst also damit behaupten, dass wir ein Spiel mit Dir spielen?“
Nein, ich spiele es ganz allein. Ihr seid bloß Figuren in dem Spiel.“

Colin hat, wie die drei Freunde schon bald ebenso ungläubig wie misstrauisch von ihm erfahren, im Jahr 2273 in den Räumen des Olga-Zhukova-Institut für Angewandte Physik im Rahmen eines Computerspiel-Previews an einem freiwilligen, in der virtuellen Realität angesiedelten Experiment teilgenommen, das offensichtlich in kaum überschaubarem Umfang außer Kontrolle geraten ist. Aber noch bevor die vier Jugendlichen sich weiter über die Folgen des Experiments austauschen können, müssen sie Hals über Kopf vor drei zwielichtigen Männern in Trenchcoats fliehen, die aus unerfindlichen Gründen hinter ihnen her zu sein scheinen und die geistesgegenwärtige Buchhändlerin Cornelia, die Ihnen entschlossen in den Weg tritt, einfach niederschlagen. 

Stehen bleiben!“, donnerte es über den Hof.
Die Kinder drehten sich um und sahen die drei Kapuzenmänner am anderen Ende des Hofes. Und sie kamen direkt auf sie zugerannt. „Bleibt, wo ihr seid!“, rief einer von ihnen.

Die vier Jugendlichen flüchten sich in die unüberschaubare Unordnung des alten Geräteschuppens im Hinterhof, der für sie unerwarteterweise zu einem Portal in die Zukunft des Jahrs 2273 wird – und zum unverhofften Ausgangspunkt eines schier unglaublichen Abenteuers, in dessen Verlauf sie mehr über ihr persönliches Schicksal und die Zukunft der Erde erfahren als ihnen lieb ist. Unklar bis zum Schluss bleibt vor allem, ob es ihnen gelingen wird, wohlbehalten in die wohlvertraute Gegenwart des Jahrs 2015 zurückzukehren – und nicht etwa in eine der zahlreichen unterschiedlichen parallelen Zeitebenen, in denen wesentliche Details wie etwa die Anzahl ihrer Geschwister oder ihre sozialen Lebensbedingungen zum Teil beträchtlich differieren können.


Futuristic City/© Cronus Caelestis

Dabei ist „Blätterrauschen“ als geglücktes Beispiel einer moderaten Science Fiction für Jugendliche ein durch und durch untypischer, eher weiniger repräsentativer Roman für das bisherige erzählerische Werk der in New York City aufgewachsenen, aber bereits seit 1972 in Berlin lebenden amerikanisch-deutschen Schriftstellerin Holly-Jane Rahlens (geboren 1950), die bislang in fast allen ihrer teils überaus erfolgreicher Bücher für Kinder und Erwachsene fest in der Realität der Gegenwart verwurzelt geblieben ist, die sie dabei stets mit ihrem unnachahmlichen sarkastischen und dennoch lebensbejahenden Humor auf so unvergleichliche Art und Weise kommentiert , verwandelt und bereichert hat – in den 1980er und 90er Jahren auch als erfolgreiche Kleinkunstdarstellerin in ihren humoristischen autobiografischen Soloprogrammen in englischer Sprache, mit denen sie regelmäßig im legendären Amerika-Haus gastierte.

Sind wir jetzt wirklich in der Zukunft?“
Hallo? Wart's ab, bis du die Toiletten siehst!“

Ihr einzigartiges Vermögen, die unentrinnbaren alltäglichen Erscheinungsformen der Realität mit heilsamer Ironie widerzuspiegeln und damit gleichzeitig anzuerkennen, kommen auch ihrem fantasievollen Science Fiction zu Gute, der stets – selbst bei den unglaublichsten Einfällen bezüglich unserer zukünftigen möglichen technischen und ethischen Entwicklung – auf das gute Augenmaß einer lebenserfahrenen Rationalität zurechtgeschnitten zu bleiben scheint und dadurch letztlich umso überzeugender und realistischer wirkt.“Blätterrauschen“ ist allerdings auch eine Art zugänglicher Fußnote für Jugendliche zu Holly-Jane Rahlens bereits vor gut zwei Jahren unter dem Titel „Everlast“ veröffentlichtem Zeitreiseroman für Erwachsene – einzelne Motive und Charaktere des neun Jahre früher, im Jahr 2264, angesiedelten Buches tauchen hier in neuem Zusammenhang wieder auf.

Rosa schoss hoch. „Also echt jetzt. Wenn das hier ein Buch wäre, würde ich es auf der Stelle zuklappen und gegen die Wand werfen. Das ist viel zu kompliziert. Ich fange an, mich zu langweilen.“
Weil du nur immer Bücher mit simpler Handlung und primitiver Sprache und Pappfiguren und Happy Ends liest“, konterte Iris. „Wenn ein Buch mal ein bisschen komplizierter ist, stellst du es immer gleich wieder ins Regal. Warte es doch mal ab! Manche Bücher nehmen erst langsam Fahrt auf, dann aber werden sie richtig aufregend. Manche Bücher geben dir versteckte Hinweise nicht nur über das, was passiert, sondern auch, warum es passiert. Gib den Büchern eine Chance, ihren Zauber zu entfalten!“

Besonders reizvoll sind der Autorin dabei die zahlreichen Passagen gelungen, in denen die Jugendlichen gemeinsam über mögliche Parallelentwicklungen und die Veränderlichkeit ihrer Lebensläufe infolge unterschiedlichen persönlichen Handelns spekulieren: Denn die zutiefst menschliche, in unserem üblichen Erleben rein hypothetische Frage „Was wäre, wenn...?“ wird hier angesichts der zahlreichen parallel verlaufenden gleichzeitigen Zeitebenen eine ganz konkrete – zwar ist die Zeitreisetechnologie in Holly-Jane Rahlens Fiktion bereits weit fortgeschritten, aber gleichzeitig längst nicht so weit perfektioniert, dass Wissenschaftler eine zuverlässige Garantie auf das korrektes Erreichen der richtigen Zeitebene garantieren könnten. So werden die verschiedensten intellektuellen und geistigen Erfahrungsebenen auf überaus reizvolle und gleichzeitig spielerische Art und Weise in einer spannenden konkreten Handlung abgebildet, so dass sie auch jugendliche Leser intuitiv mühelos nachvollziehen können.

Holly-Jane Rahlens/Foto: Heike Barndt

Mit ihrem neuen Jugendroman hat Holly-Jane Rahlens möglicherweise nicht nur ihre Leser, sondern vermutlich sogar sich selbst überrascht. In der Tradition jener faszinierenden, der Fantastik verpflichteten Jugendbücher von „Peter Pan“ bis zu „Tintenherz“, die ihre Protagonisten im Verlauf der Handlung in eine mehrdimensionale, doppelt gespiegelte Realität hineinziehen, erzählt sie die spannende Geschichte einer abenteuerlichen Zeitreise, die auf spielerische Art und Weise Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der virtuellen Realität von Computerspielen und den inneren Erfahrungsebenen der literarischen Fiktion erkundet und dabei doch immer nur mit viel Witz und Fantasie den Wert und Reichtum des Lebens feiert.

„Blätterrauschen“, aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, erschienen bei Rowohlt Rotfuchs, 320 Seiten, € 14,99