Das traditionelle jiddische
Kinderlied „Hob ikh mir a mantl“ („Ich hab einen Mantel“)
erzählt aus der Perspektive eines armen jüdischen Schneiders die
kuriose Geschichte seines ehemaligen Meisterstücks, eines von ihm
heißgeliebten und ebenso vielgeflickten Mantels, den er zum
wachsenden Verdruss seiner formbewussten Frau so gern und häufig
aufträgt, dass er ihn im Verlaufe der Zeit immer weiter umarbeiten
muss: zunächst zu einer Jacke, dann zu einer Weste, später zu einem
Hut, einer Tasche und einem Knopf, bis schließlich, ganz am Ende,
nichts als das reine Lied vom Mantel übrig bleibt, in welchem nicht
nur das bleibende, unzerstörbare Ergebnis gefeiert wird, sondern
auch der Weg dorthin.
Dieses in Struktur und Gehalt
deutlich das altbekannte, gewöhnlich am Ende der Haggada erklingende
aramäische Pessachlied „Chad gajda“ vor Augen rufende klassische
Zemerl ist in der Vergangenheit bereits von mindestens zwei
amerikanischen Jugendbuchautoren als dankbare Vorlage für ihre
Bücher verwendet worden: von Phoebe Gilman für „Something from
Nothing“ sowie von Simms Taback für „Joseph Had a Little
Overcoat“. Die selbstbewusste, optimistische Grundaussage des
Liedes, dass man auch aus den bescheidensten Ressourcen immer noch
etwas Sinnvolles herstellen könne, ist nicht nur ein Lob der
verfeinerten Mittel der Kunst, sondern auch eine Bekräftigung des
menschlichen Gedächtnisses und ein Aufruf, auch aus unserer
Erinnerung Sinn zu beziehen.
Die unnachahmliche Erzählerin,
Performance-Künstlerin und Schauspielerin Holly-Jane Rahlens,
geboren 1950 in New York City, die es in den 1980er und 90er Jahren
mit ihren einzigartigen humoristischen Programmen zu großer
Popularität auf den Kleinkunstbühnen ihrer Wahlheimat brachte und
nach der Geburt ihres Sohnes eine sogar noch erfolgreichere zweite
Karriere als Schriftstellerin startete (Deutscher Jugendbuchpreis
2003 für „Prinz William, Maximilian Minsky und ich“),
hat diesen Ausgangsstoff nun
ebenso wörtlich genommen und ihn für eine unterhaltsame
literarische Jugendbuchreise durch die vier Generationen einer
jüdischen Familie zu einem kunstvollen seidenen Wandbehang
umgedichtet.
Es
war einmal im Januar 1919, weit zurück im letzten Jahrhundert und
weit entfernt in Russland, hoch oben an der Ostsee, da nahmen Galja
und Lew Nussbaum an einem klaren, aber noch sehr dunklen und bitteren
Morgen Abschied von ihrer einzigen Tochter Channa, die gerade
neunzehn geworden war.
So beginnt die im Laufe der
Handlung immer wieder aufs Neue bekräftigte Ur-Geschichte der
deutsch-jüdischen Familie Menzel, die Holly-Jane Rahlens in ihrem
jetzt erschienenen neuen Buch „Stella Menzel und der goldene
Faden“, laut Verlagsempfehlung geeignet für Kinder ab neun Jahren,
die Großmutter der heranwachsenden Protagonistin gleichsam als
Trost-Ritual immer dann erzählen lässt, wenn der nachtblaue, mit
Sternen und Schneeflocken besetzte und mit einem goldenen Faden
kunstvoll zusammengehaltene Stoff aus Seidensatin nach einem weiteren
der kapitelweise mit unberechenbarer, höchst ergötzlicher Heimtücke
auftretenden, haarsträubenden Unglücksfälle erneut eingekürzt und
zu einem neuen Accessoire umgearbeitet werden muss.
„Eine
Geschichte handelt von Schneestern und Russland und Berlin“, fuhr
Stella fort. „Und New York. Und vom Krieg. Und – „
„Vom
Krieg?“ Isabel schaute ihre Mutter streng an. „Mama, ist sie
nicht ein bisschen zu jung für Geschichten über den –„
„Nein,
kein bisschen“, sagte Josephine. „Für Geschichten über die
eigene Familie ist es nie zu früh – auch wenn sie in Kriegszeiten
stattfinden.“ Sie lächelte Isabel zu. „Kommst du nicht zu spät
zu deinem Tangokurs?“
„Ja,
da hast du Glück.“
Der wertvolle Wandbehang aus
Sankt Petersburg begleitet die Familie
Nussbaum-Auerbach-Zwickel-Menzel zunächst auf verschlungenen,
wundersamen Pfaden ins Berlin der 1920er Jahre und als von
freundlichen deutschen Nachbarn bewahrter Kinderzimmervorhang noch
nachträglich ins New Yorker Exil, um schließlich als Tischdecke ins
Wirtschaftswunder-Berlin zurückzukehren, wo er nach einem beinahe
fünfzigjährigen mottenkugelgestärkten Schattendasein im
Wäscheschrank zunächst als Babydecke für die neu geborene, jüngste
Tochter Stella Alisa Menzel dient, in deren Besitz sein rapider, von
der Autorin minutiös aufgezeichneter Niedergang erst beginnt.
„Aber
die Geschichte? Ist sie schon zu Ende?“
„Nein,
natürlich nicht. Das ist nur der Anfang. Aber erst musst du noch ein
bisschen leben, bevor wir weitererzählen.“
Stella
dachte kurz darüber nach und sagte dann: „Du meinst, groß
werden?“
„Ja,
so ungefähr.“
„Gut“,
sagte Stella und stand auf. „Das mach ich. Aber nicht heute Abend,
okay?“
„Lass
dir Zeit, mein Liebes.“
So dürfen wir die aufgeweckte,
leicht chaotische Stella zu unserer großen Freude durch ihre von
zahlreichen besonderen Ereignissen erleuchtete Kindheit begleiten,
welche die Autorin mit dem ihr eigenen menschenfreundlichen,
resolut-schlagfertigen und unverwüstlichen Humor ebenso lebensnah
wie mit sicherem Gespür für die kuriosen Details des kindlichen
Alltags vor uns auszubreiten versteht – und während der samtene
Stoff im Verlauf der Handlung langsam dahinschwindet, wächst
proportional dazu das kostbare Material der Erinnerung, das nicht nur
Stella sich selbst als wesentlichen Teil ihrer Familiengeschichte
begreifen lässt, sondern schließlich auch ihre
spöttisch-distanzierte Mutter („Aus nichts kann man nichts
machen!“), wieder lebhaften Anteil daran nehmen lässt.
Es ist durchaus bemerkenswert,
wie leicht es Holly-Jane Rahlens fällt, aus der schönen, aber eben
doch inhaltlich eher beschränkten Idee ihrer musikalischen Vorlage
dennoch eine ebenso tragfähige wie unterhaltsame Handlung zu
erarbeiten, die den poetischen Gehalt des Liedes nicht nur deutlich
erkennbar mit einbezieht, sondern diesen sogar noch überzeugend zu
einer umfangreicheren Aussage weiterzuentwickeln vermag. Das ist
gerade in einer Zeit, in der intakte Familienverhältnisse nicht
unbedingt die Regel sind, ein wunderbares integratives Moment:
wahrhaft „zauberhaft“, wie es der Autorin gelingt, mit Hilfe
eines metaphorischen goldenen Fadens, gleichsam durch die Macht des
Erzählens, nicht nur Sinn, sondern auch familiären Zusammenhalt zu
stiften.
Der vielfach ausgezeichnete
Grafiker Reinhard Michl hat zu jeder einzelnen Transformation des
nachtblauen Seidenstoffes eine entzückende kleine Illustration
geschaffen, die auch die einzelnen Etappen der an seiner schwindenden
Gestalt ablesbaren wechselhaften Familiengeschichte auf wunderbare
Art und Weise abbildet und diese auch in ihrem historischen
Zusammenhang wiedererkennbar macht.
„Stella Menzel und der goldene Faden“, aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit, erschienen
bei Rowohlt Rotfuchs, 159 Seiten, € 16,99