Jerusalem

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Mittwoch, 30. Oktober 2013

„Stella Menzel und der goldene Faden“ von Holly-Jane Rahlens

Das traditionelle jiddische Kinderlied „Hob ikh mir a mantl“ („Ich hab einen Mantel“) erzählt aus der Perspektive eines armen jüdischen Schneiders die kuriose Geschichte seines ehemaligen Meisterstücks, eines von ihm heißgeliebten und ebenso vielgeflickten Mantels, den er zum wachsenden Verdruss seiner formbewussten Frau so gern und häufig aufträgt, dass er ihn im Verlaufe der Zeit immer weiter umarbeiten muss: zunächst zu einer Jacke, dann zu einer Weste, später zu einem Hut, einer Tasche und einem Knopf, bis schließlich, ganz am Ende, nichts als das reine Lied vom Mantel übrig bleibt, in welchem nicht nur das bleibende, unzerstörbare Ergebnis gefeiert wird, sondern auch der Weg dorthin.

Dieses in Struktur und Gehalt deutlich das altbekannte, gewöhnlich am Ende der Haggada erklingende aramäische Pessachlied „Chad gajda“ vor Augen rufende klassische Zemerl ist in der Vergangenheit bereits von mindestens zwei amerikanischen Jugendbuchautoren als dankbare Vorlage für ihre Bücher verwendet worden: von Phoebe Gilman für „Something from Nothing“ sowie von Simms Taback für „Joseph Had a Little Overcoat“. Die selbstbewusste, optimistische Grundaussage des Liedes, dass man auch aus den bescheidensten Ressourcen immer noch etwas Sinnvolles herstellen könne, ist nicht nur ein Lob der verfeinerten Mittel der Kunst, sondern auch eine Bekräftigung des menschlichen Gedächtnisses und ein Aufruf, auch aus unserer Erinnerung Sinn zu beziehen.



Die unnachahmliche Erzählerin, Performance-Künstlerin und Schauspielerin Holly-Jane Rahlens, geboren 1950 in New York City, die es in den 1980er und 90er Jahren mit ihren einzigartigen humoristischen Programmen zu großer Popularität auf den Kleinkunstbühnen ihrer Wahlheimat brachte und nach der Geburt ihres Sohnes eine sogar noch erfolgreichere zweite Karriere als Schriftstellerin startete (Deutscher Jugendbuchpreis 2003 für „Prinz William, Maximilian Minsky und ich“), hat diesen Ausgangsstoff nun ebenso wörtlich genommen und ihn für eine unterhaltsame literarische Jugendbuchreise durch die vier Generationen einer jüdischen Familie zu einem kunstvollen seidenen Wandbehang umgedichtet.

Es war einmal im Januar 1919, weit zurück im letzten Jahrhundert und weit entfernt in Russland, hoch oben an der Ostsee, da nahmen Galja und Lew Nussbaum an einem klaren, aber noch sehr dunklen und bitteren Morgen Abschied von ihrer einzigen Tochter Channa, die gerade neunzehn geworden war.

So beginnt die im Laufe der Handlung immer wieder aufs Neue bekräftigte Ur-Geschichte der deutsch-jüdischen Familie Menzel, die Holly-Jane Rahlens in ihrem jetzt erschienenen neuen Buch „Stella Menzel und der goldene Faden“, laut Verlagsempfehlung geeignet für Kinder ab neun Jahren, die Großmutter der heranwachsenden Protagonistin gleichsam als Trost-Ritual immer dann erzählen lässt, wenn der nachtblaue, mit Sternen und Schneeflocken besetzte und mit einem goldenen Faden kunstvoll zusammengehaltene Stoff aus Seidensatin nach einem weiteren der kapitelweise mit unberechenbarer, höchst ergötzlicher Heimtücke auftretenden, haarsträubenden Unglücksfälle erneut eingekürzt und zu einem neuen Accessoire umgearbeitet werden muss.

Eine Geschichte handelt von Schneestern und Russland und Berlin“, fuhr Stella fort. „Und New York. Und vom Krieg. Und – „
Vom Krieg?“ Isabel schaute ihre Mutter streng an. „Mama, ist sie nicht ein bisschen zu jung für Geschichten über den –„
Nein, kein bisschen“, sagte Josephine. „Für Geschichten über die eigene Familie ist es nie zu früh – auch wenn sie in Kriegszeiten stattfinden.“ Sie lächelte Isabel zu. „Kommst du nicht zu spät zu deinem Tangokurs?“
Ja, da hast du Glück.“

Der wertvolle Wandbehang aus Sankt Petersburg begleitet die Familie Nussbaum-Auerbach-Zwickel-Menzel zunächst auf verschlungenen, wundersamen Pfaden ins Berlin der 1920er Jahre und als von freundlichen deutschen Nachbarn bewahrter Kinderzimmervorhang noch nachträglich ins New Yorker Exil, um schließlich als Tischdecke ins Wirtschaftswunder-Berlin zurückzukehren, wo er nach einem beinahe fünfzigjährigen mottenkugelgestärkten Schattendasein im Wäscheschrank zunächst als Babydecke für die neu geborene, jüngste Tochter Stella Alisa Menzel dient, in deren Besitz sein rapider, von der Autorin minutiös aufgezeichneter Niedergang erst beginnt.

Aber die Geschichte? Ist sie schon zu Ende?“
Nein, natürlich nicht. Das ist nur der Anfang. Aber erst musst du noch ein bisschen leben, bevor wir weitererzählen.“
Stella dachte kurz darüber nach und sagte dann: „Du meinst, groß werden?“
Ja, so ungefähr.“
Gut“, sagte Stella und stand auf. „Das mach ich. Aber nicht heute Abend, okay?“
Lass dir Zeit, mein Liebes.“

So dürfen wir die aufgeweckte, leicht chaotische Stella zu unserer großen Freude durch ihre von zahlreichen besonderen Ereignissen erleuchtete Kindheit begleiten, welche die Autorin mit dem ihr eigenen menschenfreundlichen, resolut-schlagfertigen und unverwüstlichen Humor ebenso lebensnah wie mit sicherem Gespür für die kuriosen Details des kindlichen Alltags vor uns auszubreiten versteht – und während der samtene Stoff im Verlauf der Handlung langsam dahinschwindet, wächst proportional dazu das kostbare Material der Erinnerung, das nicht nur Stella sich selbst als wesentlichen Teil ihrer Familiengeschichte begreifen lässt, sondern schließlich auch ihre spöttisch-distanzierte Mutter („Aus nichts kann man nichts machen!“), wieder lebhaften Anteil daran nehmen lässt.



Es ist durchaus bemerkenswert, wie leicht es Holly-Jane Rahlens fällt, aus der schönen, aber eben doch inhaltlich eher beschränkten Idee ihrer musikalischen Vorlage dennoch eine ebenso tragfähige wie unterhaltsame Handlung zu erarbeiten, die den poetischen Gehalt des Liedes nicht nur deutlich erkennbar mit einbezieht, sondern diesen sogar noch überzeugend zu einer umfangreicheren Aussage weiterzuentwickeln vermag. Das ist gerade in einer Zeit, in der intakte Familienverhältnisse nicht unbedingt die Regel sind, ein wunderbares integratives Moment: wahrhaft „zauberhaft“, wie es der Autorin gelingt, mit Hilfe eines metaphorischen goldenen Fadens, gleichsam durch die Macht des Erzählens, nicht nur Sinn, sondern auch familiären Zusammenhalt zu stiften.

Der vielfach ausgezeichnete Grafiker Reinhard Michl hat zu jeder einzelnen Transformation des nachtblauen Seidenstoffes eine entzückende kleine Illustration geschaffen, die auch die einzelnen Etappen der an seiner schwindenden Gestalt ablesbaren wechselhaften Familiengeschichte auf wunderbare Art und Weise abbildet und diese auch in ihrem historischen Zusammenhang wiedererkennbar macht.

„Stella Menzel und der goldene Faden“, aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit, erschienen bei Rowohlt Rotfuchs, 159 Seiten, € 16,99

Freitag, 25. Oktober 2013

„Neuland“ von Eshkol Nevo

Die möglicherweise naheliegende, jedoch allzu bequeme Behauptung, der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo (geboren 1971) gebe sich als einer der begabtesten und originellsten Autoren seiner Generation damit zufrieden, ebenso anspielungsreiche wie fantasievolle Beziehungsromane für Intelligente zu schreiben, wird seiner grandiosen poetischen Leistung in seinem allerneuesten, mittlerweile dritten großen Roman „Neuland“ in keiner Weise gerecht. Denn auch wenn der gebürtige Jerusalemer darin einen eher konventionellen, „natürlichen“ und somit besonders zugänglichen Erzählstil pflegt, fühlt man sich doch als Leser inhaltlich geradezu unwiderstehlich gepackt von dem Eindruck, dass dieses Buch auf geradezu magische Art und Weise von niemand anderem als einem selbst handele.



Dabei diskutiert der ehemalige Werbetexter und studierte Psychologe im Rahmen der Handlung auf ausgesprochen behutsame und einfühlsame Art und Weise nichts Geringeres als den aktuellen Zustand seines innerlich tief gespaltenen, an seinen eigenen Ansprüchen und den heterogenen politischen Erfordernissen zerbrechenden Landes sowie die seelische Verfassung seiner traumatisierten und in ihrer persönlichen individuellen Entwicklung durch den kriegerischen Alltag nachhaltig eingeschränkten Bevölkerung. Die Tatsache, dass Nevos Roman in Israel mit 150.000 verkauften Exemplaren (bei einer Gesamtbevölkerung von acht Millionen) zu einem der größten Bestseller der vergangenen Jahre avancieren konnte, scheint den versöhnlichen Ansatz des Autors zu bestätigen, eine unbequeme Wahrheit eher von innen heraus, mit Bedacht und einem empathischen Bewusstsein für die eigene Wunde zu vergegenwärtigen.

Wir hätten nach Uganda gehen sollen, fuhr er fort, oder nach Argentinien, oder einfach von Ort zu Ort weiterziehen, dann hätten wir nicht einen solchen Hass auf uns gezogen. Stattdessen haben wir auf diesem alten, schlechten Land beharrt, wo die glühende Sonne alles versengt. Ein Land, an dem die Erwartungen zu vieler Religionen hängen. Ein Land mit einer unerträglichen Akustik. Wie soll ein Klang richtig schwingen, bei so viel Spannung in der Luft?

Wie die kühne Wahl des Romantitels unterstreicht, soll „Neuland“ ausdrücklich als eine zeitgemäße Erwiderung auf Theodor Herzls utopischen Roman „Altneuland“ aus dem Jahre 1902 begriffen werden, einen der wesentlichen Quellentexte des politischen Zionismus, dessen noch im selben Jahr erschienene neuhebräische Übersetzung („Hügel des Frühlings“) sechs Jahre später der in Palästina neu gegründeten jüdischen Stadt Tel-Aviv ihren Namen verleihen sollte. Wo sich „Altneuland“ aus dem Geiste des europäischen Kolonialismus heraus allerdings als fertige Antwort versteht („Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“), dürfen wir Eshkol Nevos aktuelle Entgegnung eher als offene Frage verstehen, oder besser noch: als ganzen Fragenkatalog im Sinne einer Gegenrede zu einem allzu leichtfertig gegebenen, von der Realität bereits widerlegten Versprechen.



„Neuland“ ist das fesselnde literarische Dokument eines umfassenden persönlichen und politischen Aufbruchs: anknüpfend an moderne israelische Klassiker wie Abraham B. Jehoschuas „Die Rückkehr aus Indien“, beschreiten seine beiden unwiderstehlichen, lebensnah gezeichneten Protagonisten, die Radioredakteurin Inbar und der Geschichtslehrer Dori, auf der Suche nach dessen in den Weiten des südamerikanischen Kontinents verschollenem Vater, eine Art positiver Variante der Reise ins „Herz der Finsternis“, denn in der in vielerlei Hinsicht weit offenen, ebenso geheimnisvollen wie beseelten, ursprünglichen, wildwachsenden Natur Südamerikas vermögen sie schließlich einen möglichen freieren Gegenentwurf zu ihrer streng reglementierten Lebensrealität in Israel zu erkennen: hier hat selbst der Genuss von bewusstseinserweiternden Drogen eine andere, zukunftsweisende Bedeutung.

Neuland wird die Mahnung sein. Neuland wird daran erinnern, dass der Staat der Juden ein Athen werden sollte, bevor er ein Sparta wurde.

Nach dem qualvollen Krebstod seiner geliebten Frau ist der erfolgreiche Wirtschaftsberater und hochdekorierte israelische Kriegsheld Meni Peleg zum sprach- und verständnislosen Entsetzen seiner beiden erwachsenen Kinder zu einer Reise nach Südamerika aufgebrochen. Anfangs meldet er sich noch regelmäßig bei seiner Familie, doch eines Tages bleiben Nachrichten von ihm dauerhaft aus. Sein lieblos und unglücklich verheirateter Sohn Dori, begeisterter Vater eines fünfjährigen Sohnes, und seine frisch geschiedene Schwester Ze'ela beauftragen daraufhin den umtriebigen peruanischen Privatdetektiv Alfredo („Du musst unbedingt anfangen zu ficken. Man sieht deinem Körper ja an, dass du nicht richtig fickst.“) mit der Suche nach Meni, obwohl dieser eigentlich auf das Wiederfinden verschwundener Jugendlicher spezialisiert ist.

Alfredo ist nicht der Typ, der aufgibt. Er hat uns zwei Wochen lang an Orte gebracht, die in keinem Reiseführer und auch auf keiner Landkarte stehen. An einem dieser Orte haben wir zum Schluss unsern Schlomi gefunden. Völlig unterernährt. Die Ärzte sagten, wenn wir ihn, Gott behüte, eine Woche später gefunden hätten, hättte er nicht mehr gelebt. Allen, für die Nichtfinden nicht infrage kommt, empfehlen wir Alfredo aufs Wärmste. Er sieht vielleicht ein bisschen ruppig aus, aber er hat ein Riesenherz. Und das Wichtigste: er ist professionell, absolut professionell.

Zu Alfredos Unterstützung reist Dori schließlich allein nach Quito, um gemeinsam mit ihm die Spur seines Vaters aufzunehmen, dessen möglicherweise unverwechselbarstes Kennzeichen die stets von ihm überall hin mitgeschleppte orthopädische Sitzhilfe „Dr. Gav“ ist. Unterwegs begegnet Dori der Radioredakteurin Inbar, die jahrelang eine populäre psychologische Ratgebersendung im israelischen Rundfunk betreut hat, in deren Rahmen Hörer per Telefon um professionellen Rat bitten können. Der nur wenige Wochen zurückliegende dramatische Selbstmord eines Hörers hat die verzweifelt um persönlichen Halt ringende Frau innerlich auf den nie verwundenen Suizid ihres Bruders während dessen Militärdienst zurückgeworfen – was sie dazu bewog, kurzentschlossen ihren Job zu kündigen und spontan das erstbeste Flugzeug ins Ausland zu besteigen.

Eshkol Nevo/Foto: Stephan Röhl


So befinden sich unverhofft zwei seelenverwandte, nach Halt ringende, emotional disziplinierte – oder wie Alfredo sagen würde: verkrampfte Erwachsene, die mehr vom Leben erwarten als in liebloser Routine erstarrte zwischenmenschliche Beziehungen, auf einer der beliebtesten und am stärksten frequentierten touristischen Routen junger, aus dem Militärdienst entlassener Israelis.

Sind sie nicht schön, diese jungen Menschen? [...] In den ersten drei Monaten meiner Reise hab ich sie nur beobachtet. Denn bevor... bevor ich den Trank genommen habe, verlief alles ziemlich normal. [...] Zuerst habe ich mir junge Leute aus der ganzen Welt angeschaut, aber nach und nach konzentrierte ich mich auf die Israelis. Sie haben etwas ... Hypnotisierendes. So viel Energie. Und so wenig Freude. Bei jedem von ihnen habe ich gleich die Wunde gesehen. Ich habe sie mir nicht vorgestellt, ich habe sie gesehen. Die meisten wollten ihre Wunde nicht wahrhaben, aber es gab auch einige, die ihren Reisegefährten davon erzählten. Eure Generation ist da so viel offener. Und ich hab am Nebentisch gesessen und mitgehört. Habe sie einerseits bewundert, und auf der anderen Seite ... nichts verstanden. [...] Wie junge Leute dermaßen deprimiert sein können. Warum sie im Vorhinein schon die Hoffnung aufgeben, nach ihrer Rückkehr etwas verändern zu können.

Während sich Dori und Inbar auf ihrer mühseligen, unwahrscheinlichen und zahlreiche ungeahnte Wendungen nehmenden Reise durch Peru, Bolivien und Argentinien unaufhaltsam aufeinander zubewegen, erfahren wir in regelmäßigen, erzählerisch höchst überzeugend und mit großem psychologischen Einfühlungsvermögen ausgestalteten Rückblenden auch vom wechselhaften Schicksal ihrer Eltern im jungen, krisengeschüttelten Staat Israel sowie ihrer aus Europa eingewanderten Großeltern, für die der Zionismus nicht nur eine abstrakte politische Idee war, sondern vor allem auch ein ganz konkreter Ausweg aus dem Elend ihrer Herkunftsländer – und ein geeignetes, segensreiches, allerletztes Mittel, der unmittelbar bevorstehenden Schoah noch lebendig zu entkommen. So hat Eshkol Nevo seinen über sechshundert Seiten starken epochalen Roman auch namentlich dem Andenken seiner verstorbenen Großmutter gewidmet:

Wäre sie dort nicht weggegangen, wäre ich nicht hier.

Die Suche nach Meni Peleg führt Dori und Inbar schließlich nicht nur zu einer nahezu vergessenen, einstmals populären, jedoch heute verwaisten, real existierenden historischen Alternative zum Zionismus mit dem klangvollen kuriosen Namen Moises Ville, sondern am Ende ihrer Reise auch zu einem neuen hoffnungsvollen individuellen Ansatz, sich dem Strom des Lebens in Israel auf zukunftsweisende, optimistische und selbstbestimmte Art und Weise wieder neu zu stellen.

Siehst du das Meer?, fragt sie ihn schließlich.
Welches Meer?, fragt er und dreht den Kopf zu ihr.
Das Meer von Jerusalem, sagt sie und drückt leicht seine Hand, die in ihrer liegt.
Und er schaut wieder nach vorne. Erst versteht er nicht, wovon sie redet, und sieht kein Meer, nur einen Stand mit Darbukatrommeln und ein Taxi, das mit zwei Rädern auf dem Gehweg parkt –
Doch nach und nach geschieht es –
Der Abendwind weht Wellen des Exils und Wellen der Heimkehr über die Welt, Wellen des Fremdseins und Wellen der Nähe –
Die Wellen schlagen immer höher wie Druckwellen einer sehr starken Explosion, die eine nach der anderen in der Tiefe der Wüste Judäa geboren werden, auf den die Stadt umgebenden Hügeln ihren Höhepunkt erreichen und sich immer wieder zu seinen und Inbars Füßen auslaufen und dort den feinen Schaum einer Möglichkeit hinterlassen.
Dann ziehen sie sich zurück, um wieder von Neuem zu beginnen.

Eshkol Nevos unwiderstehlicher dritter Roman „Neuland“ ist nicht nur eine äußerst kluge und packende gedankliche Reise zu den historischen Quellen und Auswirkungen des politischen Zionismus, sondern auch eine wunderbare, zärtliche und poetische Liebesgeschichte der reinen Möglichkeitsform, die viel Raum für die Widersprüchlichkeiten und Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur lässt und uns aus diesem Grund umso stärker zu packen und aufzurütteln vermag als manches politische Sachbuch. Wer wirklich am Schicksal des modernen Israel interessiert ist, kommt an der höchst angenehmen und inspirierenden Lektüre dieses Roman nicht vorbei.

„Neuland“, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, erschienen bei dtv, 638 Seiten, € 24,90

Dienstag, 15. Oktober 2013

„An den Ufern der Dunkelheit“ von Taha Muhammad Ali

Dass der klassische akademische Literaturbetrieb mit seinem analytisch-rationalistischen Ansatz lückenloser wissenschaftlicher Ausdeutbarkeit und seinem ebenso ärmlichen wie eigennützigen Bestreben, einen letztlich nur sehr schmalen elitären literarischen Kanon des einfachsten Konsens blindwütig zu fördern und zu bewahren, der Herausbildung von wirklich eigenständigen, kraftvollen, neuen künstlerischen Persönlichkeiten nicht gerade förderlich zu sein scheint, ist heute kaum mehr als eine beklagenswerte Binsenweisheit: Literatur wird hierdurch nicht nur bagatellisiert, sondern auch vom tatsächlichen Leben abgetrennt.

Dennoch dürfen wir als neugierige Leser auf der Suche nach einer unverfälschten Seelen-Sprache immer wieder fasziniert beobachten, wie gerade jenseits des akademischen Lehrbetriebs und des populären Irrtums der technischen Erlernbarkeit literarischen Schaffens vollkommen einzigartige, kraftvolle Poeten heranwachsen, die für die Beschreibung ihrer individuellen Lebenswirklichkeit ganz neue, bisher ungehörte, unnachahmliche Worte, Bilder und Formen zu finden vermögen, deren wunderbarem Reichtum wir uns willkürlich kaum entziehen können, weil in ihnen unwiderstehlich deutlich wird, dass die poetische Weltsicht eine ganz eigene, allgemeingültige und -verständliche Sprache ist, die wir auch ohne akademische Vorbildung intuitiv zu durchdringen vermögen.

Sein Lebtag lang
Las er nichts, schrieb er nichts.
Er fällte keinen Baum
Und schlachtete keine Kuh.
Er las nicht die New York Times,
Und ließ auch niemals ihren Namen fallen.
Sein Lebtag lang
Erhob er gegen niemanden die Stimme,
Außer um zu sagen:
Bitte sehr...
In Gottes Namen, bitte sehr!

Dennoch
Hat er immer schon verloren.
Seine Lage ist hoffnungslos,
Sein Menschenrecht ein Körnchen Salz,
Aufgelöst im Ozean.

Meine Damen und Herren,
Mein Klient weiß nichts über seinen Feind,
Und ich versichere Ihnen,
Begegnete er dem Raumschiff Enterprise,
Er würde der Besatzung Spiegeleier anbieten
Und frische Milch!

Der Schöpfer dieser entwaffnenden Verse, der palästinensische Dichter Taha Mohammad Ali, wurde 1931 in Saffoura in Galiläa geboren, dem antiken Sepphuris, das bis ins Zwanzigste Jahrhundert hinein als wichtiges landwirtschaftliches Zentrum Galiläas bekannt und für seine weitläufigen Weizenfelder, seine Granatäpfel und Oliven berühmt war. Im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 wurden alle seine Einwohner von der israelischen Armee vertrieben und das Dorf anschließend dem Erdboden gleich gemacht; heute, nach umfangreichen Ausgrabungsarbeiten, sind dort im Rahmen eines sogenannten „archäologischen Parks“ vor allem jüdische Überreste aus Römischer und Byzantinischer Zeit zu besichtigen, während die Geschichte der arabischen Kalifate und des Osmanischen Reichs offiziell keinerlei Erwähnung findet.

Wenn sie lächelt erscheinen in ihren Augen die Gärten der Trauer,
Wenn sie klagt, klingen in ihrem Gurren die Trümmer der Freude.

Nach einem Flüchtlingsjahr im Libanon siedelte sich Taha Muhammad Alis Familie im nahe gelegenen Nazareth an, wo der literarische Autodidakt, der lediglich eine Grundschulbildung von vier Jahren besaß, mit seinen Söhnen einen Souvenirladen neben der christlichen Verkündigungskirche führte, während er sich nachts intensiv mit der klassischen arabischen sowie wie mit moderner amerikanischer und englischer Literaur beschäftigte.



Erst in seinem fünften Lebensjahrzehnt, Anfang der 1970er Jahre, begann Ali erste Gedichte und Kurzgeschichten zu veröffentlichen, hauptsächlich in seiner arabischen Muttersprache, zum Teil aber auch in modernem Hebräisch. Obwohl in seinen unmittelbar zugänglichen Gedichten immer auch die tausendjährige arabische Poesie durchscheint, ist es ihm, anders als etwa seinem vor allem als politischer Dichter und poetisches Gewissen Palästinas wahrgenommenen, im Exil lebenden Landsmann Mahmoud Darwish (1941-2008), gelungen, seine eigene Lyrik nahezu vollkommen von den strengen formalen und thematischen Zwängen der arabischen Tradition zu befreien und eine ganz eigenständige, im westlichen Sinne moderne Dichtung zu schaffen, die auch sprachlich im schwierigen Hier und Jetzt seiner spezifischen widersprüchlichen Lebenswirklichkeit verwurzelt war.

Ich liebe das Leben für das,
Was zu begreifen,
Aufzuzeichnen,
Auszusprechen,
Mir unmöglich ist.
Liebenswert sind mir die Träume und die Welt
Bei jenem Wald aus Licht
An den Ufern der Dunkelheit
Aufgrund meiner beschämenden Unwissenheit
Über die Richtung des Schiffs
Und der Reise Ziel –
Liebenswert daran ist mir,
Was ich nicht anzudeuten,
Nicht aufzuzeigen wage!

*

Selbst wenn es keine Tage mehr
Mit dem berauschenden Rascheln
Des Schilfrohrs gäbe,
Keine Tage mehr
Mit der wohligen Wärme
Eines winterlichen Ofens;
Selbst wenn es keine Tage mehr gäbe,
Mit all den Dingen, die so liebenswert sind,
Wie ein „Hallo, wie geht's?“,
Das von einem süßen Lächeln begleitet wird,
Selbst dann noch
Werde ich das Leben
Tausend Todesarten vorziehen.

*

Aber
Die Tragödie meiner Gegner
Ist,
Dass sie den Mord an mir
Voller Hast abwickeln,
Wie ein gehetzter Dieb
Sein verlogenes Gebet abspult.
Sie begreifen nicht,
Warum ich meine Seele verschenke,
Als würde ich gefälschtes Geld ausgeben.

Wie könnte ich aber mein Blut verleugnen?
Jahrzehnte
Voller Freuden und Liebe,
Wie könnte ich sie
Auf dem Pfad der Liebe achtlos verschütten?

Taha Muhammad Alis Poesie ist ebenso persönlich wie politisch, ebenso kämpferisch wie verletzlich, ebenso sinnlich wie konkret, ebenso streitbar wie versöhnlich. Sie vermag die zahlreichen, scheinbar widersprüchliche Emotionen eines mit wachen Sinnen aktiv gelebten erwachsenen Lebens ebenso aufrichtig und glaubwürdig zu transportieren, auch in ihrem emotionalen Gehalt, wie die komplexen Befindlichkeiten angesichts des ungeklärten Status des palästinensischen Volkes sowie der gesellschaftlichen Diskriminierung der arabischen Bürger im Staate Israel.

Der kundige Übersetzer Stefan Weidner weist in seinem ausgesprochen informativen Nachwort besonders auf den immer wiederkehrenden Aspekt des Verlusts innerhalb der klassischen arabischen Poesie hin – die Trauer um die verlorenen Zelt- und Weideplätze sowie das Leiden am unbarmherzigen Walten des Schicksals – den er bei Ali auf kongeniale Art in die Lebenswirklichkeit der Moderne übertragen sieht, welche das Individuum nunmehr mit aller Macht als autonomen Herrn über sein eigenes Schicksal zu betrachten gewillt ist.

Diese sachlich-akademische Erklärung greift allerdings angesichts der großen Universalität der Lyrik als direkte Sprache der Seele zu kurz: denn die Erfahrung des Verlusts ist, losgelöst vom kollektiven Schicksal der Palästinenser, aber auch der europäischen Juden im Nationalsozialismus oder jedes anderen Emigranten, eben auch eine der wesentlichen universellen individuellen Erfahrungen, deren tiefen Schmerz jeder Leser für sich allein unmittelbar nachvollziehen kann. Aus dieser Perspektive darf Taha Muhammad Alis Poesie ohne jede Einschränkung als eine der bedeutendsten Dichtungen des Schmerzes im Zwanzigsten Jahrhundert gelten – nicht zufällig greift der Lyriker in zahlreichen Gedichten immer wieder auch ganz bewusst den vornehmlich durch das jüdische Schicksal besetzten Begriff des Exodus auf.

Ein Bauer,
Sohn eines Bauern,
Habe ich die Arglosigkeit einer Mutter,
Und die Gerissenheit
Eines Fischverkäufers.
Ich höre nicht auf zu mahlen,
Solang im Hals meiner Mühle
Noch ein einziges Korn steckt.
Ich höre nicht auf zu säen,
Solang in meinem Sack
Noch eine Handvoll
Von Korn ist.

Die Tatsache, dass Taha Muhammad Alis unverkennbare Stimme gehört werden kann, nicht nur in seiner Muttersprache oder in Hebräisch, sondern auch in englischer, französischer und deutscher Übersetzung, obwohl er Zeit seines Lebens weder zum literarischen Establishment seines eigenen Landes noch des Staates Israel gehörte, grenzt an ein kleines literaturwissenschaftliches Wunder. Für uns Leser ist seine Poesie ein echter Glücksfall, da wir darin nicht nur das Schicksal Palästinas, sondern auch unser eigenes persönliches Empfinden aufs Wahrhaftigste gespiegelt sehen dürfen: die Poesie als Sprache der Seele. Taha Muhammad Ali starb am 2. Oktober 2011 als weltweit geachteter, vollendeter Dichter in Nazareth.

„Anden Ufern der Dunkelheit – Gedichte aus Palästina“, aus dem Arabischen und mit einem Nachwort von Stefan Weidner, erschienen als Fischer Taschenbuch, 110 Seiten, € 9,99

Mittwoch, 9. Oktober 2013

"Erinnerungen" von Esther Bejarano


Die Geschichte der versuchten Vernichtung des europäischen Judentums durch Nazi-Deutschland ist so überaus vielschichtig, dass bis heute mit jeder weiteren Neuveröffentlichung zu diesem Thema nicht nur bisher unbekannte Details, sondern vor allem auch ganz neue persönliche Sichtweisen unser Bewußtsein erschüttern und uns auf diese Weise unmissverständlich vor Augen führen, dass sich diese bitterste kollektive Erfahrung des Zwanzigsten Jahrhunderts tatsächlich aus zahlreichen schrecklichen Einzelschicksalen zusammensetzt, welches jedes für sich allein betrachtet schon eine weltaufrüttelnde Tragödie und fundamentale Anklage darstellt.

Dass die traumatische Erfahrung der Schoah mit der in manchen Fällen selbst herbeigeführten Rettung oder aber mit der glücklichen Befreiung durch die Alliierten dennoch nicht überwunden sein kann, sondern das Leben der Überlebenden unwiderruflich weiterhin davon in höchstem Maße betroffen bleiben muss, ist jedoch eine Geschichte, die die wenigsten Bücher zu diesem Thema erzählen: zu sehr möchten wir als Leser und Zuhörer glauben, dass mit der letztendlichen Überwindung der unmittelbaren Gefahr nun auch sprichwörtlich „alles gut“ sei.

Und auch wenn die literarische Auseinandersetzung für viele Betroffenen eine wirksame Hilfe sein kann, was wir als empathische, aufgeklärte und fest an die integrativen Mittel der modernen Psychologie glaubenden Leser ebenso gerne glauben möchten, zeigen doch die traurigen Beispiele mancher der tapfersten und radikalsten Chronisten des Holocaust, etwa Primo Levis (1919-1987) oder Tadeusz Borowskis (1922-1951), dass selbst die Erinnerung an das Erlebte und Erlittene auch noch nach Jahrzehnten scheinbarer Normalität sich als unentrinnbar und tödlich zu erweisen vermag.

Ich wollte nicht mehr an die Vergangenheit denken. Das gelang mir nur zum Teil, denn nachts hatte ich schreckliche Träume der Verfolgung. Die Stiefel der SS trampelten auf meinen Nerven rum. [...] Viele Juden kamen zu mir und fragten, ob ich ihre Verwandten in Auschwitz gesehen hätte. Obwohl ich die Menschen, die nach ihren Angehörigen fragten, verstehen konnte, war das fast unerträglich. Ich konnte kaum auf die Straße gehen, ohne dass man mich angesprochen und gefragt hätte, denn ich trug ja die Nummer des KZ Auschwitz auf meinem linken Arm.

Wenn man die soeben erstmals erschienenen Memoiren der im hohen Alter von Achtundachtzig immer noch beeindruckend-vitalen Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano liest, als Lead-Sängerin der multikulturell besetzten Kölner Microhone Mafia das vermutlich älteste noch aktiv-musizierende Mitglied einer Rap-Band in Deutschland, oder aber sich das ebenso informative wie bewegende Filmporträt des italienischen Fernsehens auf der diesem Buch beiligenden verdienstvollen 45minütigen DVD anschaut, kann man nicht anders als beeindruckt zu konstatieren, dass die Lebensleistung der sympathischen Wahlhamburgerin, die auch als Vorsitzende des deutschen Auschwitz-Kommitees bis heute politisch ungebrochen-aktiv ist, einem „Happy End“ so nahe kommt, wie man sich es sich unter den gegebenen Bedingungen als Außenstehender nur vorstellen kann.



Dabei ist Esther Bejarano Zeit ihres Lebens immer und gegen alle äußeren Widerstände entschieden ihren eigenen, auch nach 1945 oftmals unbequemen Weg gegangen und kann dennoch heute mit größter innerer Überzeugung von sich selbst behaupten, sie habe eben Glück gehabt: Glück vor allem, nach einer trotz der beginnenden Diskriminierung und Verfolgung durch die Nationalsozialisten noch weitgehend unbeschwerten und liebevollen Kindheit in Saarbrücken und Ulm, beim improvisierten Vorspiel für das Mädchenorchester in Auschwitz, wohin sie nach zwei Jahren Zwangsarbeit im brandenburgischen Neuendorf deportiert worden war, auf dem ihr unbekannten Musikinstrument Akkordeon intuitiv die richtigen Töne getroffen zu haben.

Ich habe viel Glück in meinem Leben gehabt, ein ganz großes Glück, ein unheimliches Glück.

Als innerhalb des Lagers privilegiertes Mitglied dieses international besetzten Orchesters, das üblicherweise morgens und abends am Lagertor spielen musste, um den Ein- und Auszug der zur „Vernichtung durch Arbeit“ verdammten Häftlinge mit Marschmusik zu begleiten, konnte sie der unaussprechliche Hölle von Auschwitz für über sechs Monate die Stirn bieten, wobei ihr ausgerechnet der als wollüstiger Sadist und eiskalter Mörder berüchtigte Hauptscharführer und Leiter der Krematorien Otto Moll als unwahrscheinlicher „Schutzteufel“ mehrere Male aktiv das Leben rettete. Und wieder hatte sie „Glück“:

Beim morgendlichen Appell wurde folgende Bekanntmachung vorgetragen: „Jeder, der arisches Blut in seinen Adern hat, soll sich bei den Blockältesten melden.“ Nach reichlicher Prüfung der Angaben würden diejenigen, die akzeptiert würden, in ein anderes Lager kommen, das kein Vernichtungslager sei. [...] Nach reiflicher Überlegung kamen wir zum Entschluss, dass ich mich [als sogenannte „Vierteljüdin“] erstmal melde. Meine Freundinnen meinten, ich hätte geradezu die Pflicht zu versuchen, aus Auschwitz rauszukommen, damit ich später den Menschen erzählen könnte, was für schreckliche Verbrechen an uns begangen wurden.

Nach ihrer auf diese Weise verursachten Verlegung ins KZ Ravensbrück konnte sie sich für eine der begehrten Tätigkeiten innerhalb der angegliederten Siemens-Werke qualifizieren. Auf einem der berüchtigten Todesmärsche zur Liquidierung des Lagers konnte sie unmittelbar vor Kriegsende gemeinsam mit sechs Kameradinnen vom Wachpersonal unbehelligt in den Wald fliehen, nachdem sie aus einem von ihr heimlich belauschten Gespräch zweier SS-Leute erfahren hatte, dass der strenge Schießbefehl aufgehoben worden sei.

Nach der Befreiung Deutschlands wanderte Esther Bejarano nach Palästina aus, worauf sie sich schon vor Kriegsausbruch intensiv vorbereitet hatte. Nach schwierigen Anfangsjahren und der Teilnahme am Unabhängigkeitskrieg als Mitglied der Unterhaltungstruppe heiratete Esther ihre große Liebe, den im Jischuv geborenen Nissim Bejarano, und erarbeitete sich über einen Zeitraum von zehn Jahren mit viel Fleiß eine bescheidene Existenz als freiberufliche Musiklehrerin, bis sie im Jahr 1960 endlich als ordentliche Lehrkraft in das neu eröffnete Konservatorium von B'er Sheva aufgenommen wurde.

Es gibt Leute, die sagen, nach Auschwitz kann man keine Musik mehr spielen und komponieren, keine Bilder mehr malen, keine Gedichte mehr schreiebn. Das stimmt alles nicht. Im Gegenteil, man muss Musik machen, und ich bin so froh, dass ich heute solche Musik machen kann, die uns hilft, zu erinnern und nachzudenken. [...] Das ist meine Devise, nur so kann ich weiter leben und überwinden, was ich in der Vergangenheit erlebt habe.

Im selben Jahr allerdings kehrte die Familie Bejarano mit ihren beiden Kindern auf dringenden Wunsch von Nissim und gegen Esthers Bedenken in die Bundesrepublik Deutschland zurück: der aufgrund der jahrelangen kriegerischen Auseinandersetzungen Israels mit den unmittelbaren Nachbarstaaten und angesichts der andauernden Diskriminierung der Palästinenser mittlerweile überzeugte Pazifist wollte nicht länger innerhalb massiver kriegerischer Auseinandersetzungen auf der Seite des Aggressors kämpfen müssen – eine Haltung, die wir in diesem gesellschaftlichen Umfeld selbst aus heutiger Sicht noch als in höchstem Maße visionär und mutig anerkennen müssen.

Im Jahre 1956 begann der Sinaikrieg. Nissim wurde eingezogen. [...] Er kam mit dem festen Entschluss von der Front zurück, nie wieder in den Krieg zu gehen, nie wieder zu kämpfen. Das war kein Verteidigungskrieg mehr, das wollte er nicht mehr mitmachen. [...] Es gab heute wie damals keine Kriegsdienstverweigerung. Wenn er sich geweigert hätte, in die Armee zu gehen, wenn er nicht mitgekämpft hätte, wäre er im Knast gelandet.

Der Neuanfang in Hamburg war schwer und gleicht dem Leben der zahlreichen Gastarbeiter aus Ländern wie Italien, Griechenland und der Türkei: Nissim arbeitete zunächst in einer Hähnchenbraterei auf der Reeperbahn, Esther in einer Wäscherei. 1969 konnte Esther eine kleine Boutique eröffnen, mit der sie wenige Jahre später an einen attraktiveren Standort umzog, während ihr Mann als Feinmechaniker arbeitete. In diese Jahre der persönlichen Konsolidierung, die zeitlich mit dem Auszug der mittlerweile erwachsenen Kinder zusammenfällt, begann auch ihr politisches Engagement gegen Rechts, das sie bis heute vor allem auch mit musikalischen Mitteln betreibt, zunächst mit jiddischen Liedern und der Band Coincidence (gemeinsam mit ihren Kindern Joram und Edna), seit 2009 als Mitglied der Kölner Microphone Mafia.



Was an Esther Bejaranos Erinnerungen unwillkürlich begeistert, ist ihr ureigener, ganz persönlicher Erzählton, eine mitreißende, sympathische Mischung aus leidgeprüfter, welterfahrener Bescheidenheit, ungebrochener Lebenslust, scharfem Verstand und klarer Urteilskraft, mit deren Hilfe sie stets die eigene Dankbarkeit über das Wunder ihres Überlebens bekräftigt und die persönliche Freude an den einfachen Dingen des Lebens glaubwürdig zu feiern vermag. Mitunter bedient sie sich eines distanziert-chronistischen Untertons, der auf den ersten Blick sachlich wirkt, in Wahrheit aber nur die glücklichen Umstände ihres beeindruckenden Lebenswegs unterstreicht.

Fast ebenso informativ jedoch ist der zweite Teil des Buches, der im wesentlichen aus den von der italienischen Journalistin und verdienstvollen Hauptinitiatorin des Buches, Antonella Romeo, zusammengetragenen sowie ausführlich kommentierten und gründlich nach Themenkreisen geordneten Redebeiträgen Esther Bajaranos aus dem beiliegenden DVD-Filmporträt besteht. In deren entschieden politischer Weltsicht und warmherziger Mitmenschlichkeit, wie sie aus ihren hier aufgezeichneten eigenen Worten und Taten deutlich wird, vermögen wir als nachhaltig beeindruckte Leser einen durch und durch geglückten Lebensweg zu erkennen, dem man nur den tiefsten Respekt zollen kann.

„Erinnerungen“, mit einem Grußwort von Kultursenatorin Barbara Kisseler sowie Nachworten von Peggy Parnass und Bruno Maida, erschienen im Laika Verlag, 208 Seiten, DVD 45 min., € 21,-

Donnerstag, 3. Oktober 2013

„Der grüne Blitz“ von Jules Verne

Jules Verne (1828-1905) ist bis heute eine Ausnahmeerscheinung der Literaturgeschichte geblieben. Kein anderer Autor hat wie der überall auf der Welt von ganzen Generationen von begeisterten Lesern leidenschaftlich verehrte prophetische Vordenker technischen Fortschritts und wissenshungrige Stifter des Sciencefiction-Genres die menschliche Existenz im Spiegel der Erlebnisse seiner Protagonisten so sehr als mit wachen Sinnen gelebtes, immerwährendes geistiges und physisches Abenteuer inszeniert.

Diese vom spannenden Grundcharakter seiner Romane meist gekonnt überdeckte, höchst entschiedene optimistische Weltsicht wird erstaunlicherweise besonders deutlich am überraschenden Beispiel eines innerhalb seines umfangreichen Werkes kaum bekannten und für seine Art der Literatur alles andere als typischen, unscheinbaren kleinen Buches, des nun seit Jahrzehnten erstmals wieder greifbaren kuriosen Liebesromans „Der grüne Blitz“ aus dem Jahr 1882, der in neuer deutscher Übersetzung soeben innerhalb der ebenso verdienstvollen wie schmucken, stets unvorhersehbaren Klassikerreihe des mare-Buchverlags erschienen ist.



Einziges bescheidenes Kriterium für die bei mare erscheinenden Bücher ist ein darin deutlich erkennbarer Bezug zum Meer oder zur Seefahrt, der durchaus weitläufiger Natur sein kann. Diese Vorbedingung wird in Jules Vernes sympathisch-schrulligem einzigen Liebesroman allerdings mit zahllosen wunderbaren Beschreibungen einer zeitgenössischen sommerlichen Dampferfahrt durch die landschaftlich reizvolle, wilde Inselwelt der Hebriden an der schottischen Ostküste sowie zahlreichen oft seitenlangen Schilderungen der tobenden See aufs Leichteste wie nebenbei erfüllt.

Das Meer hat in Wahrheit keine eigene Farbe. Es ist nur ein Spiegelbild des Himmels! Ist es blau? Mit Blau kann man es nicht malen! Ist es grün? Mit Grün auch nicht! Eher würde man es in seinem Wüten erfassen, wenn es dunkel, bleigrau, bösartig ist, wenn der Himmel sämtliche Wolken, die er darüber dräuen lässt, zu vermengen scheint! Ach, Miss Campbell, je länger ich ihn mir anschaue, desto überwältigender finde ich diesen Ozean. Ozean! Dieses Wort sagt alles! [...] In seinen unauslotbaren Tiefen erstrecken sich grenzenlose Wiesen, gegen welche die unseren wüst und leer sind, hat Darwin gesagt.

Der titelgebende, so genannte „grüne Blitz“, dem die in Vernes Buch versammelte illustre Gruppe von sechs liebenswert-versnobten schottischen Romantikern bis zum Schluss vergeblich hinterherjagt, ist ein bereits seit altägyptischer Zeit bekanntes, äußerst selten zu beobachtendes real existierendes Naturphänomen, das der weit gereiste Schriftsteller und Dichter James Hamilton-Paterson (geboren 1941) in seinem lesenswerten Nachwort ausführlich erläutert:

Die Atmosphäre funktioniert wie ein Prisma, welches das Sonnenlicht in seine Spektralfarben aufspaltet, von denen jede in einem anderen Winkel gebrochen wird. Wenn die Sonne sinkt, dringen ihre Strahlen durch die nach unten immer dichter werdende Atmosphäre zum Betrachter, und immer mehr Spektralfarben werden absorbiert oder zerstreut, bis nur noch Rot und Grün übrig sind. [...] Dieses Grün wird für das Auge erst sichtbar, wenn das Rot nicht mehr da ist. Plötzlich zeigt sich ein grellgrüner Fleck, und wir nehmen einen grünen Blitz wahr. Dass wir dies nicht jedes Mal sehen, wenn die Sonne am wolkenlosen Himmel untergeht, liegt daran, dass die atmosphärischen Bedingungen genau richtig sein müssen. Werden die gelben und orangefarbenen Wellenlängen des Lichts nicht gründlich genug absorbiert, geht der Effekt verloren.

Im Buch liest die von ihren beiden wohlhabenden, unverheirateten und in Gefühlsdingen absolut unerfahrenen Onkeln an Eltern statt aufgezogene und zu deren großer Freude neuerdings von einem ihrer unzulänglichen eigenen Meinung nach in höchstem Maße geeigneten und noch dazu standesgemäßen Bewerber bedrängte ebenso hübsche wie selbstbewusste Helena in einem wissenschaftlichen Zeitungsartikel zufällig vom Phänomen des grünen Blitzes und erfährt außerdem, dass laut einer alten Highland-Legende derjenige, der diesen einmal gesehen habe, sich in Gefühlsdingen künftig nicht mehr irren könne:

Sein Erscheinen vernichtet Illusionen und Lügen; und wer das Glück hatte, ihn einmal zu erblicken, kann in seinem eigenen Herzen und in dem der anderen lesen.

Da Onkel Sam und Onkel Sib, zwei kauzige Alte, deren symbiotische Schrulligkeit sie als mögliche Kultfiguren der Schwulenbewegung zu prädestinieren scheint, ihrer Nichte in rührender väterlicher Liebe niemals eine Bitte abzuschlagen vermögen, willigen sie ein, mit ihr sowie ihren beiden Dienern von Glasgow aus zur schottischen Ostküste aufzubrechen, um einen Ort zu suchen, dessen geographische Lage ihnen die besten Voraussetzungen für die ersehnte gemeinsame Sichtung des seltenen Phänomens bieten könnte.

Allerdings wissen es die beiden verschlagenen Onkel gleichzeitig ebenso einzurichten, dass auch der von Helena aufgrund seiner bornierten Selbstbezogenheit und tölpelhaften Ungeschicklichkeit verachtete Bewerber mit dem lächerlichen Namen Aristobulus Ursiclos am Zielort Oban wie zufällig auf die kleine, dank ihrer finanziellen Mittel bestens ausgestattete Reisegesellschaft treffen kann, um sich ihr für die nächsten Wochen mit eigenmächtiger Impertinenz anzuschließen.

Jules Verne/Porträt von Nadar


Leider erweist sich Oban als gänzlich ungeeignet, um den grünen Blitz zu beobachten, da das beliebte Seebad keine unverstellte Horizontlinie aufweist. Also geht die Reise weiter, mit prominenten Zwischenstationen auf den Inseln Seil, Iona und Staffa, wo mal ungünstiges Wetter, mal andere unvorhersehbare Umstände bewirken, dass die wackeren Ausflügler das Naturphänomen ein ums andere Mal verpassen. Allerdings vermögen sie unterwegs dank Helenas ausgeprägter Geistesgegenwart einen jungen kernigen Maler aus dem gefürchteten Mahlstrom des Corryvreckan zu retten, der sich bald als charakterlicher Antagonist und Rivale des gefühlskalten, wissenschaftsgläubig-rationalen Aristobulus Ursiclos um die Gunst der schönen Helena erweist.

Durch sein Erscheinen verstärkt sich schließlich auch der wesentliche weltanschauliche Konflikt des Buches: denn während die Gruppe um Helena von einer beseelten Welt ausgeht, die es mit wachen Sinnen, rationalem Verstand, aber auch mit einem herzensoffenen Blick für die Schönheiten der Natur aktiv zu entdecken gilt, reduziert Ursiclos dieselbe allein auf einzelne, aus einem allgemeinen Zusammenhang herausgerissene, nüchtern erklärbare Erscheinungen, die er mit wissenschaftlichen Erklärungen vollkommen entzaubert und somit endgültig gebändigt zu wissen meint.

Am nächsten Tag und in den ersten Septembertagen ward Aristobulus Ursiclos nicht mehr gesehen. [...] In jedem Fall tat er gut daran, sich nicht zu zeigen. Es war nicht mehr nur Gleichgültigkeit, es war eine Art Abneigung, die er bei dem jungen Mädchen hervorrief. Ihrem Blitz die Poesie genommen zu haben, ihren Traum zur bloßen Materie gemacht zu haben, den Schal einer Walküre in ein ordinäres optisches Phänomen verwandelt zu haben! Vielleicht hätte sie ihm alles verziehen, alles, nur das nicht.

Doch auch nachdem man sich der lästigen Gesellschaft des humorlosen Wissenschaftlers auf glückliche Weise aktiv entledigt hat, sind noch zahlreiche abenteuerliche Hürden zu überwinden, bis die kuriose Reisegruppe im herandämmernden Herbstlicht die möglicherweise letzte Chance erhält, das Phänomen des grünen Blitzes mit eigenen Augen zu betrachten. Als es dann endlich soweit ist, scheinen jedoch andere Dinge wichtiger zu sein.

Die Tränen? ..., fragte Mistress Sinclair.
... nur eine Laune sind, die den Augapfel befeuchtet, eine Mischung aus Natriumchlorid, Calciumphosphat und Sodachlorat!
In chemischer Hinsicht haben sie recht, Sir, sagte Olivier Sinclair, aber auch nur in dieser.
Diese Einschränkung verstehe ich nicht, erwiderte Aristobulus Ursiclos säuerlich.

„Der grüne Blitz“ ist in seinem angenehm-altertümlichen, weltgewandten Plauderton trotz einer in weiten Teilen durchaus vorhersehbaren Handlung eine wunderbare, erfrischende und höchst unterhaltsame Lektüre, die Dank ihres auch heute noch gültigen Grundkonflikts sowie der vom Autor ebenso reizvoll wie treffend in Szene gesetzten Naturkulisse der Hebriden und einer ganzen Reihe von typisch-Verne'schen humorvoll-überzeichneten originellen Charaktere einen reizvollen Kontrapunkt zum bisher bekannten Werk des französischen Bestsellerautors zu setzen vermag.

„Dergrüne Blitz“, aus dem Französischen von Cornelia Hasting, erschienen bei mare, 287 Seiten, € 26,-