Jerusalem

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Dienstag, 25. Februar 2014

„Auf der Lichtung“ von Aharon Appelfeld

Kaum ein anderer bedeutender literarischer Chronist jüdischer Verfolgung im Zwanzigsten Jahrhundert hat sein erzählerisches Werk einer solchen Fülle von Einzelaspekten der Shoah sowie ihres Nachwirkens auf die Überlebenden und auf nachfolgende Generationen gewidmet wie der 1932 in Czernowitz geborene Aharon Appelfeld. Wer Appelfelds vielschichtiges literarisches Werk aufmerksam liest und es mit anderen dichterischen Zeugnissen des Holocaust vergleicht, wird überrascht sein, wie sich aus all seinen Romanen ein Bild ergibt, das uns auf geradezu beiläufige Art und Weise, aber dennoch sehr unmissverständlich klar macht, dass die Erfahrung der Verfolgung durch die Nationalsozialisten unter keinen Umständen nur als abstrakte Geschichtslektion verstanden werden darf.


Sie muss stattdessen als ganz reale und unmittelbare persönliche Erfahrung einer Vielzahl von höchst unterschiedlichen menschlichen Individuen begriffen werden, deren einzige Gemeinsamkeit in der totalen gesellschaftlichen Ausgrenzung durch ihre Verfolger zu bestehen schien: einzelnen Menschen aus „unserer Mitte“, wie der österreichische Schriftsteller Erich Hackl in seinen Werken betont, die in ihren jeweiligen Lebensentwürfen und in ihrer persönlichen Entwicklung vor ganz anderen wesentlichen Herausforderungen standen, als sie von Hitler-Deutschland und dessen Verbündeten auf den Kampf ums Überleben reduziert wurden, nebenher aber trotzdem weiterhin ihre fundamentalen ureigenen Lebensäußerungen umzusetzen versuchen mussten.

Mein Name ist Edmund, und ich bin siebzehn Jahre alt. Seit dem Frühling kriechen wir über diese Hügel, die meisten kahl, einige dünn bewaldet. Die Lichtungen sind unser Unglück, aber wir haben gelernt, uns zu tarnen, über die Erde zu robben, Verstecke zu finden und den Feind zu täuschen. [...] Das Tageslicht ist eher hinderlich, aber die Nacht gehört uns. Man muss zwar auch bei Nacht sehr vorsichtig sein, im Lauf der Zeit haben wir jedoch gelernt, welche Vorzüge die Dunkelheit bietet. Am besten ist ein Hinterhalt in einer Sommernacht...

So verschafft uns die Beschäftigung mit Appelfelds Werken immer wieder das besondere Erlebnis, einem höchst originellen und einfallsreichen Schriftsteller begegnen zu dürfen, der zwar ein recht hermetisches schriftstellerisches Lebensthema gefunden hat, diesem aber dennoch immer wieder neue Aspekte und fantasievolle Plots abzutrotzen vermag, die ihn letztlich immer wieder davor bewahren, sich im Kern zu wiederholen. Denn Appelfeld ist ohne jeden Zweifel ein absolut originärer Schriftsteller, seine Werke sind in aller Regel nicht autobiografisch im eigentlichen Sinne, sondern lediglich inspiriert von der bitteren Erfahrung seines eigenen Lebens: der Ermordung seiner geliebten Mutter am ersten Tag der deutschen Okkupation, seine anschließende Verschleppung in ein Konzentrationslager, dortige Trennung vom Vater, den er erst zwanzig Jahre später in Israel wiedertreffen sollte, seine dreijährige Flucht durch die ukrainischen Wälder sowie die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg als Küchenjunge der sowjetischen Armee.

In der Nacht hatte ich einen Traum: Meine Mutter, mein Vater und ich fuhren wie früher nach Baden bei Wien. Kaum zu glauben, aber alles war wie immer. [...] Nun sind sie weit weg, und ich bin hier. Manchmal glaube ich, dass das, was mir in den letzten Monaten passiert ist, nur ein Erschrecken sein kann, das sich erst in der Zukunft klären wird.

Aharon Appelfeld 2007

Im nachhinein jedoch nehmen sich viele Romane aus Appelfelds bisherigem sowohl zahlenmäßig als auch inhaltlich beeindruckenden Gesamtwerk lediglich als virtuose Fingerübungen und innere Vorbereitung dessen aus, was er in seiner Autobiographie „Geschichte eines Lebens“ (2005) oder in seinem im Januar 2012 in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“ wagt, nämlich die schmerzhafte Reise in seine ureigene, allerpersönlichste Erinnerung an die brutale Zerstörung seiner Kindheit im Alter von acht Jahren durch die Nationalsozialisten. In diesem Roman, dessen eigentliche Handlung erst bei Kriegsende einsetzt, beschreibt Appelfeld seine Reise durch Europa als langsames Erwachen im wörtlichen Sinne:

Seit der Krieg vorbei war, lebte ich in einer nicht enden wollenden Müdigkeit. Ich stieg von Zug zu Zug, von Lastwagen zu Lastwagen, und manchmal fand ich mich sogar auf Pferdekarren wieder, aber stets war ich in einem dichten, traumlosen Schlaf gefangen. [...] Schlaf war für mich der geeignete Zustand. Im Schlaf lebte ich auf, ich brauchte ihn wie die Luft zum Atmen. Manchmal stieg ein Traum in mir auf und bedrohte mich.

In seinem auch in der Entstehungsgeschichte neuesten, erst 2012 im hebräischen Original erschienenen Roman „Auf der Lichtung“ scheint Appelfeld direkt an dieses mächtige Bild anknüpfen zu wollen, indem er uns ins unbewusst-lebenserhaltende Dunkel einer in der Leserwahrnehmung geradezu mystische Züge annehmende Parallelversion der realen transnistrischen Wälder mitnimmt, dem unter der ständigen Bedrohung immer wieder aufs Neue verlagerten unzulänglichen Versteck einer gut sechzig Personen umfassenden jüdischen Partisanengruppe, die das unbarmherzige Schicksal quer durch alle Altersgruppen, Gesellschaftsschichten und allgemeine Lebensentwürfe bunt zusammengewürfelt und zu einer aufs Unmittelbarste fest aufeinander angewiesenen Schicksalsgemeinschaft gemacht hat.

Yad Vashem Photo Archive 85FO4

Die einzelnen dabei von dem unverbraucht-jugendlichen Icherzähler Edmund mit hellwachem, empathischem Blick und kongenialer kindlicher Beobachtungsgabe beschriebenen Mitglieder der jüdischen Partisaneneinheit scheinen auf geradezu ferngesteuerte, unausweichlich-alternativlose Art und Weise nach und nach zu der stetig anwachsenden Gruppe dazugestoßen zu sein, weil dieser von kaum einem von ihnen in ihren bürgerlichen Berufen jemals vorausgesehene oder ernsthaft erwogene Weg des bewaffneten Kampfes für jeden von ihnen gewissermaßen die einzige und letzte Möglichkeit war, nach ihrer individuell unterschiedlichen, zum Teil zufällig-beiläufig erscheinenden Rettung aus dem Ghetto, Konzentrationslager oder aus einem Transport und unerreichbar fern von Familie, Freunden und Geliebten noch sinnvoll weiterzuleben und sich dabei eine aktive Perspektive eines möglichen „Danach“ zu erhalten: auch in dieser unwahrscheinlichen, von Appelfeld treffend charakterisierten Waldgemeinschaft ist das von ihr gestaltete kollektive Schicksal eine Auswirkung des individuell wirkenden Zufalls.

Außerdem haben sie ein etwa zweijähriges Kind mitgenommen, das sie hinter dem Zaun gefunden hatten. Kamil behauptet, das Kind sei der Glücksbringer der Gruppe und mit seiner Hilfe würden wir Wunder vollbringen. [...] Nach jedem Training und jeder Aktion umringen wir ihn, als wäre er nicht ein Kind, das nicht sprechen kann, sondern jemand, der uns zum Abschied Glück wünscht und uns bei unserer Rückkehr begrüßt. Wir empfinden allein seine Existenz schon ein Wunder. [...] Die meiste Zeit des Tages sitzt er im Zelt. Seltsam, das kleine stumme Geschöpf, unfähig einen Ton herauszubringen, erfreut uns durch die kleinsten Regungen.

Auch in der neuesten folgerichtigen Fortschreibung seines Lebensthemas gelingt Aharon Appelfeld erneut eine erschütternd genaue, tiefgreifende Schilderung unbeirrt weitergelebten Lebens unter den denkbar ungünstigen, menschenunwürdigen Bedingungen, wie sie für die unselige Zeit der unerbittlichen Verfolgung und fabrikmäßigen Ermordung der europäischen Juden durch Nazi-Deutschland leider charakteristisch und typisch waren. Gerade in der von tiefem emotionalen Schmerz gekennzeichneten literarischen Anrufung der intakten, selbst von ungefährer Vorahnung der Kriegsereignisse noch unberührten Familienverhältnisse und der unstillbaren Sehnsucht danach wird die geradezu übermenschlich scheinende psychische Leistung Aharon Appelfelds beispielhaft deutlich. Auch nach der Lektüre seines neuen Buches bleibt der positiv überwältigende Eindruck, die persönliche Geschichte des Autors als Spiegel des kollektiven Schicksal des jüdischen Volkes sei auch in seinem diesen Monat glücklich vollendeten zweiundachtzigsten Lebensjahr noch lange nicht auserzählt.

„Auf der Lichtung“, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, erschienen bei Rowohlt, 320 Seiten, € 19,95


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