Warum wir im Wüstensand nach Tonscherben graben
Angeregt von einem langen
Gespräch mit Michael Köhlmeier über die Odyssee als möglicherweise
ersten modernen Romanentwurf, habe ich mich im Verlauf des
vergangenen Jahres in die Thematik des Trojanischen Krieges, die
umstrittene Autorschaft Homers und den akademischen Streit um die
geographische Lage Trojas sowie die wirtschaftliche und militärische
Bedeutung der antiken Stadt eingelesen. Die unvermeidliche Begegnung
mit dem akademischen Betrieb in Deutschland, den ich mit dem
Verlassen der Universität endgültig hinter mir gelassen zu haben
glaubte, hat mir schmerzlich vor Augen geführt, dass viele seiner
Protagonisten auch in Zeiten fortgeschrittener Vernetzung immer noch
die bequeme Isolation althergebrachter Methodik und jahrhundertealter
wissenschaftlicher Tradition bevorzugen, anstatt die unbegrenzten
Möglichkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit zu erkunden, die
der technische Fortschritt und die Spezialisierung vieler
Forschungsbereiche möglich gemacht haben: ein wachsamer Blick über
den Tellerrand der akademischen Buchstabensuppe scheint vielen
Altphilologen und klassischen Archäologen immer noch undenkbar.
Homer |
Besonders deutlich wird
das im unversöhnlich geführten Streit zwischen dem langjährigen
Grabungsleiter in Troja, Manfred Korfmann (1942-2005), und dem
Geoarchäologen Eberhard Zangger (geboren 1958), der Anfang der
1990er mit einer sensationellen Theorie an die Öffentlichkeit trat,
die international weitgehend begrüßt und mit großem Interesse
diskutiert wurde, in Deutschland aber bis heute vom akademischen
Establishment fast einhellig abgelehnt wird. Zangger hatte nicht nur
die Hypothese aufgestellt, dass der allgemeine Zusammenbruch der
antiken Hochkulturen in Mesopotamien, Ägypten und im östlichen
Mittelmeergebiet um das Jahr 1200 v. Chr. in direktem Zusammenhang
mit der Vernichtung Trojas gesehen werden müsse, er vertrat auch die
Auffassung, dass Troja die führende Macht innerhalb einer
Militärkoalition der in ägyptischen Texten mehrfach erwähnten
sogenannten „Seevölker“ gewesen sein müsse. Und er setzte noch
eine weitere umstrittene Hypothese hinzu: die beiden mystischen
Städte Troja und Atlantis seien in Wirklichkeit ein und dieselbe –
Plato habe in seinem Bericht über Atlantis unwissentlich eine
ägyptische Beschreibung des Untergangs von Troja verzerrt
wiedergegeben. Zangger zog sich Ende der 1990er Jahre aus der
Forschung zurück, während Korfmann bei seinen weiteren Ausgrabungen
nach und nach immer mehr Hinweise fand, die die unbequemen Theorien
seines langjährigen Gegners zu unterstützen schienen und nun den
geläuterten Chefausgräber selbst zum Ziel bösartiger Angriffe
seiner eigenen Zunft machten.
Die Ilias, der große Gesang über den Kampf um Troja, wurde nach Meinung der Forschung um das Jahr 800 v. Chr. schriftlich fixiert, ob basierend auf der genuinen Autorschaft eines Homer, scheint dabei weniger interessant als die Frage, ob es sich hier wesentlich um Dichtung im modernen Sinne handelt, Fiktion also, oder ob der Sänger reale Personen, Orte und Begebenheiten schildert. Alles, was innerhalb der letzten 150 Jahre zur Auffindung Trojas beigetragen hat (über dessen Lokalität bei Hisarlık an der anatolischen Mittelmeerküste heute kaum noch wissenschaftlicher Dissenz besteht) scheint dabei die revolutionäre Auffassung Heinrich Schliemanns (1822-1890) und seiner Informanten zu stützen, dass es sich wesentlich um reale Ereignisse handelt. Die Erfindung der Schrift und ihre Instrumentalisierung zu politischen und religiösen sowie später zu allgemeinen kulturellen Zwecken war zweifellos ein einschneidendes Ereignis, das unsere Auffassung von der Weitergabe von Wissen fundamental verändert hat. Bis heute ist es vorherrschende Meinung innerhalb der vermeintlich überlegenen westlichen Kultur geblieben, dass Wissen im Grunde nur schriftlich übermittelt werden kann, da mündliche Weitergabe zu unzuverlässig sei.
Die Ilias, der große Gesang über den Kampf um Troja, wurde nach Meinung der Forschung um das Jahr 800 v. Chr. schriftlich fixiert, ob basierend auf der genuinen Autorschaft eines Homer, scheint dabei weniger interessant als die Frage, ob es sich hier wesentlich um Dichtung im modernen Sinne handelt, Fiktion also, oder ob der Sänger reale Personen, Orte und Begebenheiten schildert. Alles, was innerhalb der letzten 150 Jahre zur Auffindung Trojas beigetragen hat (über dessen Lokalität bei Hisarlık an der anatolischen Mittelmeerküste heute kaum noch wissenschaftlicher Dissenz besteht) scheint dabei die revolutionäre Auffassung Heinrich Schliemanns (1822-1890) und seiner Informanten zu stützen, dass es sich wesentlich um reale Ereignisse handelt. Die Erfindung der Schrift und ihre Instrumentalisierung zu politischen und religiösen sowie später zu allgemeinen kulturellen Zwecken war zweifellos ein einschneidendes Ereignis, das unsere Auffassung von der Weitergabe von Wissen fundamental verändert hat. Bis heute ist es vorherrschende Meinung innerhalb der vermeintlich überlegenen westlichen Kultur geblieben, dass Wissen im Grunde nur schriftlich übermittelt werden kann, da mündliche Weitergabe zu unzuverlässig sei.
"Trojanisches Pferd", nach einer Vorlage von Henri-Paul Motte (1846-1922) |
Hier lohnt es jedoch,
einen Blick auf die sehr viel längere Kontinuität der östlichen
Kulturen und ihre bewährte Tradition des klassischen
Lehrer-Schüler-Verhältnisses zu werfen, das auch heute noch wie vor
tausenden von Jahren nahezu unverändert existiert und das etwa in
der klassischen Musik Persiens, Zentralasiens oder Indiens ganze
Tonleitern, Melodiefolgen und Kompositionen absolut werkgetreu über
Jahrhunderte weitergegeben hat. Innerhalb dieses geschlossenen
Systems existiert auch Improvisation, in die der Vortragende seine
eigenen Auffassungen und Interpretationen einbringen kann, aber das
eigentliche Gerüst der jeweiligen Kunstform steht absolut fest, und
es gibt auch keinerlei Disput über diese Form: auch mündliche
Überlieferung ist – solange diese Tradition gepflegt wird – eine
sichere Form der Wissensübermittlung. Es spricht sehr viel dafür –
und das ist anders als in Deutschland heute international weitgehend
unbestritten –, dass es sich mit der Überlieferung der Ilias
ähnlich verhalten haben dürfte, bis um das Jahr 800 v. Chr. ein
begabter Autor und Improvisator diese in schriftlicher Form fixiert
hat. Man kann die Odyssee mit ihren zahlreichen märchenhaften
Handlungszügen im Kontrast zur Ilias deshalb leicht als Dokument
einer Zeitenwende betrachten, insofern sie viel deutlicher das
Kunstprodukt eines Schriftstellers im heutigen Sinne ist, der ein
Werk vollkommen eigenmächtig aus sich selbst heraus erschaffen und
vollkommen frei ausgestaltet hat.
Burgmauer von Troja, Hisarlık, Türkei |
Aus dieser Perspektive ist
es gerade mit unserem umfangreichen Wissen über literarische Fiktion
absolut naheliegend, die Ilias als historische Quelle ernst zu nehmen
und gleichzeitig den Realitätsgehalt von Platons „literarischem“
Atlantisbericht, der 400 Jahre später entstanden ist – zu einem
Zeitpunkt also, von dem wir schon eine herablassende Einstellung des
Schriftkundigen gegenüber der mündlichen Überlieferung annehmen
dürfen – zu bezweifeln: gerade weil jener in seinen beiden
Dialogen Timaios und Kritias immer wieder betont, dass
die von ihm im Rahmen seiner dialektischen Abhandlungen skizzierten
Ereignisse absolut der Wahrheit entsprechen. Tatsächlich aber dienen
sie vor allem seiner Beweisführung. Es gibt außerdem eine
Argumentation in seinem Werk, die nicht besonders schlüssig scheint:
zum einen behauptet er, dass die griechische Kultur sehr viel älter
(und höher entwickelt sei) als die ägyptische, andererseits will er
von Atlantis aber ausgerechnet aus schriftlichen Zeugnissen der
ägyptischen Kultur erfahren haben, deren Schriftzeichen er gar nicht
mächtig gewesen ist. Man darf den Wahrheitsgehalt der
Atlantis-Erzählung also getrost als ebenso gering einschätzen wie
den der von ihr inspirierten Bildungsutopien der mitteleuropäischen
Renaissance sowie ihrer zahlreichen Parodien. Vermutlich deshalb hat
Plato den mystischen Kontinent auch jenseits der Straße von
Gibraltar angesiedelt, an einem gleichfalls mystischen Ort also, den
zu erreichen zu seiner Zeit wohl niemand ernsthaft hoffen durfte.
Ob hilfreich oder nicht: es ist ein unkonventioneller, aber faszinierender Gedanke, die mit militärischen Gewalt vernichtete Stadt Troja mit der durch Naturkatastrophen untergegangenen Stadt Atlantis gleichzusetzen. Da die klassische Archäologie dazu tendiert, ihr jeweiliges Forschungsobjekt entweder isoliert zu betrachten oder zu überhöhen, war es in höchstem Maße überfällig, Troja auch mit seiner Umgebung in Beziehung zu setzen, anstatt lediglich mit den gegen die Stadt anrennenden Griechen, die die Erinnerung daran auf eine Art bewahrt haben, die uns bis heute elektrisiert. Niemand würde in einem aktuellen politischen Konflikt ernsthaft in Betracht ziehen, einen Staat unabhängig von möglichen Verbündeten oder Konkurrenten in seiner unmittelbaren geographischen Umgebung zu betrachten, besonders dann nicht, wenn es sich um einen Staat im Binnenland handelt. Der Versuch Zanggers, Troja als identisch mit der in hethitischen Texten mehrfach erwähnten Stadt Wilusa und als wichtige Führungsmacht der Seevölker-Koalition anzusehen, ist zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung. Diese Sichtweise besäße sogar die Universalität, Kernaussagen einer anderen umstrittene Troja-Hypothese der letzten Jahre in sich zu integrieren, in der der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Raoul Schrott (geboren 1964) behauptet, in der hethitischen Ruinenstätte Karatepe in der Südwesttürkei Homers wahren Wirkungsort und gleichzeitig ein ergänzendes Vorbild für seine Troja-Beschreibung erkannt zu haben: dann wäre Homer nicht nur derjenige, der eine bis dahin lediglich mündlich überlieferte Geschichte aufschreibt, sondern sie auch an seiner Wirkungsstätte, die logischerweise nicht mit einem existenten Troja übereinstimmt, mit weiteren Details ausschmückt, die auf die Topographie dieses Ortes zutreffen.
Ob hilfreich oder nicht: es ist ein unkonventioneller, aber faszinierender Gedanke, die mit militärischen Gewalt vernichtete Stadt Troja mit der durch Naturkatastrophen untergegangenen Stadt Atlantis gleichzusetzen. Da die klassische Archäologie dazu tendiert, ihr jeweiliges Forschungsobjekt entweder isoliert zu betrachten oder zu überhöhen, war es in höchstem Maße überfällig, Troja auch mit seiner Umgebung in Beziehung zu setzen, anstatt lediglich mit den gegen die Stadt anrennenden Griechen, die die Erinnerung daran auf eine Art bewahrt haben, die uns bis heute elektrisiert. Niemand würde in einem aktuellen politischen Konflikt ernsthaft in Betracht ziehen, einen Staat unabhängig von möglichen Verbündeten oder Konkurrenten in seiner unmittelbaren geographischen Umgebung zu betrachten, besonders dann nicht, wenn es sich um einen Staat im Binnenland handelt. Der Versuch Zanggers, Troja als identisch mit der in hethitischen Texten mehrfach erwähnten Stadt Wilusa und als wichtige Führungsmacht der Seevölker-Koalition anzusehen, ist zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung. Diese Sichtweise besäße sogar die Universalität, Kernaussagen einer anderen umstrittene Troja-Hypothese der letzten Jahre in sich zu integrieren, in der der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Raoul Schrott (geboren 1964) behauptet, in der hethitischen Ruinenstätte Karatepe in der Südwesttürkei Homers wahren Wirkungsort und gleichzeitig ein ergänzendes Vorbild für seine Troja-Beschreibung erkannt zu haben: dann wäre Homer nicht nur derjenige, der eine bis dahin lediglich mündlich überlieferte Geschichte aufschreibt, sondern sie auch an seiner Wirkungsstätte, die logischerweise nicht mit einem existenten Troja übereinstimmt, mit weiteren Details ausschmückt, die auf die Topographie dieses Ortes zutreffen.
Tonscherbe aus Troja, Hisarlık, Türke |
Warum aber streben wir
überhaupt danach, eine so weit zurückliegende Vergangenheit bis ins
kleinste Detail verstehen zu wollen? Warum verteidigen wir unsere
eigenen Theorien bis aufs Blut und wollen sie als einzig gültige
Wahrheit allgemein anerkannt und fest im Gedächtnis unserer Kultur
verankert sehen? Die Vergangenheit ist die einzige Zeitspanne, über die
wir fälschlicherweise bestimmen zu können glauben, weil sie
bereits unwiderruflich abgeschlossen ist. Durch Theorien und
Hypothesen glauben wir sie sogar, noch endgültiger gestalten zu
können, obwohl wir gerade bei einer so weit zurückliegenden
Vergangenheit wie jener der mythischen Stadt Troja eigentlich
anerkennen müssten, dass die Fähigkeiten des menschlichen Geistes
zu beschränkt sind, sie endgültig zu durchdringen und
wahrheitsgemäß wiederzugeben. Selbst unsere eigene Vergangenheit,
unsere ganz persönlichen Leidenschaften und Bindungen vermögen wir
nicht angemessen wiederzugeben, weder mündlich noch schriftlich –
vielleicht sogar am wenigsten in schriftlicher Form. Mit diesem
Dilemma müssen wir leben. Es ist der Grund, warum wir in der Erde
nach Scherben graben: weil wir glauben, dort den funkelnden Schatz
einer allgemeingültige Wahrheit zu finden, die wir im Alltag nicht
zu suchen wagen.