Jerusalem

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Dienstag, 25. Februar 2014

„Auf der Lichtung“ von Aharon Appelfeld

Kaum ein anderer bedeutender literarischer Chronist jüdischer Verfolgung im Zwanzigsten Jahrhundert hat sein erzählerisches Werk einer solchen Fülle von Einzelaspekten der Shoah sowie ihres Nachwirkens auf die Überlebenden und auf nachfolgende Generationen gewidmet wie der 1932 in Czernowitz geborene Aharon Appelfeld. Wer Appelfelds vielschichtiges literarisches Werk aufmerksam liest und es mit anderen dichterischen Zeugnissen des Holocaust vergleicht, wird überrascht sein, wie sich aus all seinen Romanen ein Bild ergibt, das uns auf geradezu beiläufige Art und Weise, aber dennoch sehr unmissverständlich klar macht, dass die Erfahrung der Verfolgung durch die Nationalsozialisten unter keinen Umständen nur als abstrakte Geschichtslektion verstanden werden darf.


Sie muss stattdessen als ganz reale und unmittelbare persönliche Erfahrung einer Vielzahl von höchst unterschiedlichen menschlichen Individuen begriffen werden, deren einzige Gemeinsamkeit in der totalen gesellschaftlichen Ausgrenzung durch ihre Verfolger zu bestehen schien: einzelnen Menschen aus „unserer Mitte“, wie der österreichische Schriftsteller Erich Hackl in seinen Werken betont, die in ihren jeweiligen Lebensentwürfen und in ihrer persönlichen Entwicklung vor ganz anderen wesentlichen Herausforderungen standen, als sie von Hitler-Deutschland und dessen Verbündeten auf den Kampf ums Überleben reduziert wurden, nebenher aber trotzdem weiterhin ihre fundamentalen ureigenen Lebensäußerungen umzusetzen versuchen mussten.

Mein Name ist Edmund, und ich bin siebzehn Jahre alt. Seit dem Frühling kriechen wir über diese Hügel, die meisten kahl, einige dünn bewaldet. Die Lichtungen sind unser Unglück, aber wir haben gelernt, uns zu tarnen, über die Erde zu robben, Verstecke zu finden und den Feind zu täuschen. [...] Das Tageslicht ist eher hinderlich, aber die Nacht gehört uns. Man muss zwar auch bei Nacht sehr vorsichtig sein, im Lauf der Zeit haben wir jedoch gelernt, welche Vorzüge die Dunkelheit bietet. Am besten ist ein Hinterhalt in einer Sommernacht...

So verschafft uns die Beschäftigung mit Appelfelds Werken immer wieder das besondere Erlebnis, einem höchst originellen und einfallsreichen Schriftsteller begegnen zu dürfen, der zwar ein recht hermetisches schriftstellerisches Lebensthema gefunden hat, diesem aber dennoch immer wieder neue Aspekte und fantasievolle Plots abzutrotzen vermag, die ihn letztlich immer wieder davor bewahren, sich im Kern zu wiederholen. Denn Appelfeld ist ohne jeden Zweifel ein absolut originärer Schriftsteller, seine Werke sind in aller Regel nicht autobiografisch im eigentlichen Sinne, sondern lediglich inspiriert von der bitteren Erfahrung seines eigenen Lebens: der Ermordung seiner geliebten Mutter am ersten Tag der deutschen Okkupation, seine anschließende Verschleppung in ein Konzentrationslager, dortige Trennung vom Vater, den er erst zwanzig Jahre später in Israel wiedertreffen sollte, seine dreijährige Flucht durch die ukrainischen Wälder sowie die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg als Küchenjunge der sowjetischen Armee.

In der Nacht hatte ich einen Traum: Meine Mutter, mein Vater und ich fuhren wie früher nach Baden bei Wien. Kaum zu glauben, aber alles war wie immer. [...] Nun sind sie weit weg, und ich bin hier. Manchmal glaube ich, dass das, was mir in den letzten Monaten passiert ist, nur ein Erschrecken sein kann, das sich erst in der Zukunft klären wird.

Aharon Appelfeld 2007

Im nachhinein jedoch nehmen sich viele Romane aus Appelfelds bisherigem sowohl zahlenmäßig als auch inhaltlich beeindruckenden Gesamtwerk lediglich als virtuose Fingerübungen und innere Vorbereitung dessen aus, was er in seiner Autobiographie „Geschichte eines Lebens“ (2005) oder in seinem im Januar 2012 in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“ wagt, nämlich die schmerzhafte Reise in seine ureigene, allerpersönlichste Erinnerung an die brutale Zerstörung seiner Kindheit im Alter von acht Jahren durch die Nationalsozialisten. In diesem Roman, dessen eigentliche Handlung erst bei Kriegsende einsetzt, beschreibt Appelfeld seine Reise durch Europa als langsames Erwachen im wörtlichen Sinne:

Seit der Krieg vorbei war, lebte ich in einer nicht enden wollenden Müdigkeit. Ich stieg von Zug zu Zug, von Lastwagen zu Lastwagen, und manchmal fand ich mich sogar auf Pferdekarren wieder, aber stets war ich in einem dichten, traumlosen Schlaf gefangen. [...] Schlaf war für mich der geeignete Zustand. Im Schlaf lebte ich auf, ich brauchte ihn wie die Luft zum Atmen. Manchmal stieg ein Traum in mir auf und bedrohte mich.

In seinem auch in der Entstehungsgeschichte neuesten, erst 2012 im hebräischen Original erschienenen Roman „Auf der Lichtung“ scheint Appelfeld direkt an dieses mächtige Bild anknüpfen zu wollen, indem er uns ins unbewusst-lebenserhaltende Dunkel einer in der Leserwahrnehmung geradezu mystische Züge annehmende Parallelversion der realen transnistrischen Wälder mitnimmt, dem unter der ständigen Bedrohung immer wieder aufs Neue verlagerten unzulänglichen Versteck einer gut sechzig Personen umfassenden jüdischen Partisanengruppe, die das unbarmherzige Schicksal quer durch alle Altersgruppen, Gesellschaftsschichten und allgemeine Lebensentwürfe bunt zusammengewürfelt und zu einer aufs Unmittelbarste fest aufeinander angewiesenen Schicksalsgemeinschaft gemacht hat.

Yad Vashem Photo Archive 85FO4

Die einzelnen dabei von dem unverbraucht-jugendlichen Icherzähler Edmund mit hellwachem, empathischem Blick und kongenialer kindlicher Beobachtungsgabe beschriebenen Mitglieder der jüdischen Partisaneneinheit scheinen auf geradezu ferngesteuerte, unausweichlich-alternativlose Art und Weise nach und nach zu der stetig anwachsenden Gruppe dazugestoßen zu sein, weil dieser von kaum einem von ihnen in ihren bürgerlichen Berufen jemals vorausgesehene oder ernsthaft erwogene Weg des bewaffneten Kampfes für jeden von ihnen gewissermaßen die einzige und letzte Möglichkeit war, nach ihrer individuell unterschiedlichen, zum Teil zufällig-beiläufig erscheinenden Rettung aus dem Ghetto, Konzentrationslager oder aus einem Transport und unerreichbar fern von Familie, Freunden und Geliebten noch sinnvoll weiterzuleben und sich dabei eine aktive Perspektive eines möglichen „Danach“ zu erhalten: auch in dieser unwahrscheinlichen, von Appelfeld treffend charakterisierten Waldgemeinschaft ist das von ihr gestaltete kollektive Schicksal eine Auswirkung des individuell wirkenden Zufalls.

Außerdem haben sie ein etwa zweijähriges Kind mitgenommen, das sie hinter dem Zaun gefunden hatten. Kamil behauptet, das Kind sei der Glücksbringer der Gruppe und mit seiner Hilfe würden wir Wunder vollbringen. [...] Nach jedem Training und jeder Aktion umringen wir ihn, als wäre er nicht ein Kind, das nicht sprechen kann, sondern jemand, der uns zum Abschied Glück wünscht und uns bei unserer Rückkehr begrüßt. Wir empfinden allein seine Existenz schon ein Wunder. [...] Die meiste Zeit des Tages sitzt er im Zelt. Seltsam, das kleine stumme Geschöpf, unfähig einen Ton herauszubringen, erfreut uns durch die kleinsten Regungen.

Auch in der neuesten folgerichtigen Fortschreibung seines Lebensthemas gelingt Aharon Appelfeld erneut eine erschütternd genaue, tiefgreifende Schilderung unbeirrt weitergelebten Lebens unter den denkbar ungünstigen, menschenunwürdigen Bedingungen, wie sie für die unselige Zeit der unerbittlichen Verfolgung und fabrikmäßigen Ermordung der europäischen Juden durch Nazi-Deutschland leider charakteristisch und typisch waren. Gerade in der von tiefem emotionalen Schmerz gekennzeichneten literarischen Anrufung der intakten, selbst von ungefährer Vorahnung der Kriegsereignisse noch unberührten Familienverhältnisse und der unstillbaren Sehnsucht danach wird die geradezu übermenschlich scheinende psychische Leistung Aharon Appelfelds beispielhaft deutlich. Auch nach der Lektüre seines neuen Buches bleibt der positiv überwältigende Eindruck, die persönliche Geschichte des Autors als Spiegel des kollektiven Schicksal des jüdischen Volkes sei auch in seinem diesen Monat glücklich vollendeten zweiundachtzigsten Lebensjahr noch lange nicht auserzählt.

„Auf der Lichtung“, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, erschienen bei Rowohlt, 320 Seiten, € 19,95


Freitag, 21. Februar 2014

„Die Gottespartitur“ von Edgar Rai


Für seine unnachahmliche, dunkel-makabre Erbschleicher-Hymne „Tante Marie“ (1984) erfand der österreichische Sänger und Schauspieler Ludwig Hirsch, der sich im Herbst 2011 durch einen Sprung aus einem Fenster des Wiener Wilhelminenspitals das Leben nahm, wo er aufgrund einer frisch diagnostizierten Krebserkrankung in Behandlung war, ein kleines, auf hinterhältige Art und Weise simples Klaviermotiv, dessen ungewöhnliche Eigenschaft es war, dass es den nichts ahnenden fiktiven Hörer innerhalb kurzer Zeit und ohne sichtbare Spuren zuverlässig zu töten vermochte. Um in den Besitz des prächtigen Konzertflügels seiner Tante zu gelangen, spielt der im Text auftretende Virtuose der armen alten Dame diese teuflische kleine Melodie so oft vor, bis die Unglückliche schließlich erwartungsgemäß daran verscheidet. Am Ende des Liedes – und das ist die letzte, unerwartete Pointe – bricht der Instrumentalist indes voll Tatendrang zu einer weiteren betagten Verwandten auf: denn die besitzt eine schöne Orgel. Und so erklingt zum Schluss das Klaviermotiv noch einmal, diesmal als prächtiger Orgelchoral...


Es ist im Grunde nicht weiter von Belang, ob der in Berlin lebende Schriftsteller Edgar Rai, der bislang vor allem als Autor von Liebes- und Familienromanen der eher anspruchsvolleren Art hervorgetreten ist sowie (unter Pseudonym) für die sogenannten „Erdmännchen-Krimis“ verantwortlich zeichnet, das erwähnte Lied kennt: sein neuer, ausgesprochen spannend zu lesender Roman mit dem klangvollen Titel „Die Gottespartitur“ bedient sich allerdings eines frappierend ähnlichen Motivs als Grundthema einer atemlosen literarischen Jagd nach der Wahrheit, die stellenweise Dan Brown zur Ehre gereichen würde: Es soll, so geht die Kunde im Buch, im Zeitalter der Frühklassik ein geheimnisvolles Notenblatt mit einem anspruchsvoll-virtuosen Stück für Solo-Orgel gegeben haben, dessen musikalischer Inhalt als unwiderlegbarer Gottesbeweis fungiert habe – leider jedoch mit dem unangenehmen Nebeneffekt, dass jeder, der diese göttliche Musik gehört habe, augenblicklich habe sterben müssen; und so scheint sich eine historische Spur geheimnisvoller Tode unter seinerzeit berühmten Orgelvirtuosen durch ganz Europa zu ziehen, bis die Existenz der Partitur plötzlich nicht mehr nachweisbar ist.

Grundsätzlich“, beginnt er [ein anerkannter Neurologe und Hirnforscher] seine Ausführung, „scheint es so zu sein, dass Musik und Musikalität in jedem von uns angelegt sind. Entwicklungsgeschichtlich war die Musik dem Menschen wahrscheinlich noch vor der Sprache eigen. Zugleich ist der Hörsinn der letzte, der uns flöten geht – entschuldigen Sie die musikalische Anspielung –, wenn ein Mensch stirbt. Und dass bislang keine eindeutig identifizierbare Todesmusik gefunden wurde, bedeutet – zumindest theoretisch betrachtet – nicht, dass es keine geben kann...“

Vor dem Hintergrund dieses in der Tat faszinierenden Motivs ließen sich ohne Zweifel mühelos die unterschiedlichsten Bücher nahezu jeder Art und jeglichen Genres gestalten: eine Melodie, die tötet – das lässt unwillkürlich auch an den japanischen Horrorfilm „The Ring“ denken, in Verlauf dessen Handlung der surrealistisch-buñuelhafte Inhalt einer Videocassette jeden Betrachter unaufhaltsam innerhalb einer Woche in den Tod treibt – ja sogar Pferde haben nichts besseres zu tun, als zwanghafterweise spontan Selbstmord zu begehen. Edgar Rai, der an der Berliner Hochschule der Künste Kurse für kreatives Schreiben leitete und als Mitinhaber einer Berliner Buchhandlung sowie seit Jahren erfolgreicher Schriftsteller den Buchmarkt genauestens kennt, ist sich dieser Tatsache in höchstem Maße bewusst. Aus naheliegenden Gründen hat er seinen Roman sogar innerhalb des deutschen Verlagswesens als eine Art Schlüsselroman angelegt, in dem nicht nur nur sehr unzureichend verschleiert zahlreiche Prominente des Buchmarkts Gehässigkeiten und Körperflüssigkeiten austauschen, sondern sich auch wieder einmal erweist, wie langweilig, gewöhnlich und oberflächlich (und ungeeignet als Schauplatz eines Romans) das Literaturgeschäft leider ist.


Edgar Rai/Foto: Markus Schädel


Sein nicht gerade einnehmender, dandyhafter Protagonist, der zynisch-lebenssatte Gabriel Pfeiffer, trotz seines offensichtlichen Erfolgs bei gebildeten Frauen zu keinerlei menschlichem Mitgefühl fähig und mit Anfang Fünfzig, nach einem glücklich überwundenen plötzlichen Herzstillstand, in einer kapitalen psychischen Krise, ist äußerlich immer noch der strahlend-erfolgreiche Besitzer einer der wichtigsten literarischen Agenturen Deutschlands, obwohl er innerlich unweigerlich auf den totalen Zusammenbruch zusteuert. Auf der gerade stattfindenden Frankfurter Buchmesse überreicht ihm ein schmalbrüstiger angehender Priester unter merkwürdigen Umständen einen wirr klingenden Brief, in dem er ihn auf die historische Todesserie berühmter Organisten und das denkwürdige Notenblatt mit dem angeblichen Gottesbeweis aufmerksam macht – und dafür gehörig belächelt und fachmännisch-versiert abgefertigt wird.

Sie haben miteinander geschlafen, haben für einen zeit- und schwerelosen Moment die Welt asugesperrt und sich in einem Zwischenreich versteckt. Hat funktioniert, sogar für Gabriel, wenn auch nur kurz. Jetzt ist die Leere da, tief und weit. Er liegt neben ihr, ohne Zweck und Ziel, nimmt an ihr geht es ähnlich. [...] Welchen Sinn hat das? Nun, sobald Gabriel darüber nachdenkt, was im Leben wirklich Sinn hat, kommt er schnell zu der Erkenntnis, dass das, was er im Augenblick tut, auf jeden Fall nicht dazuzählt.

Als Pfeiffer jedoch nach Tagen anstrengender Geschäftstermine und stoisch ertragener Repräsenationsaufgaben sowie dem traditionellen, seit fünfzehn Jahren alljährlich pflichtgemäß zelebrierten Buchmessen-Sex mit der Suhrkamp-Chefin zufällig auf die Todesnachricht des Seminaristen stößt, der leblos und ohne sichtbare Fremdeinwirkung auf der Orgelempore einer kleinen Kirche in Oberbayern aufgefunden worden sei, erwacht in ihm ein unwiderstehlich-selbstzertörerisches Fieber, das Geheimnis um die verschollene Partitur zu lösen, befeuert noch von seiner durch schmerzhaft-handgreifliche Jugenderfahrungen in einem streng-katholischen Internat ins Gegenteil verkehrten Gottessehnsucht: wenn er diesen angeblichen musikalischen Gottesbeweis finden sollte, ist der überzeugte lebensmüde Atheist auf einmal nur allzu gern bereit, für diese Erfahrung zu sterben und diktiert seinem Notar nachts um halb zwei am Telefon noch schnell sein Testament.

Ganz blöd ist die Idee nicht. Würde Gott auf jeden Fall ähnlich sehen. Die Bibel ist voll von Geschichten, in denen ER den Menschen das Leben nimmt, weil sie sein Missfallen erregt haben. Der Tod als letztes Mittel seiner Liebe und Heiligkeit. Gabriel hat schon schlechtere Storys verkauft.

Charles Burney: ein Opfer der "Gottespartitur"?


Obwohl sich der Autor im Text vollkommen zu Recht mehrmals namentlich über Spannungsromane im Stile Dan Browns lustig macht, offenbart er gerade in seiner intelligenteren Version des Stoffes dennoch das grundsätzliche Dillemma der Theorie von der technischen Machbarkeit des sogenannten kreativen Schreibens: zwar gelingt es dem belesenen und oftmals überaus geistreich räsonnierenden Edgar Rai die Spannung seines Romans bis zum Schluss auf höchstem Niveau zu halten; mit der Rettung in letzter Minute sowie der kathartischen, lange überfälligen emotionalen Öffnung seines Protagonisten platzt jedoch die handwerklich virtuos hergestellte Blase der Lesererwartung ähnlich effektlos wie bei jedem anderen trivialen Spannungsroman auch: der Autor bleibt inhaltlich zu sehr an der Oberfläche und hat natürlich weder die dichterischen Möglichkeiten zum Versuch eines literarischen Gottesbeweises noch eines Gegenbeweises. Mit etwas weniger Vertrauen in die eigenen technischen Fähigkeiten und etwas mehr Mut zur inneren Flussüberschreitung hätte „Die Gottespartitur“ ein außergewöhnlicher Roman im Stile von „Die neun Pforten“ („Der Club Dumas“) werden können – vielleicht sogar mehr.

„Die Gottespartitur“, erscheint am 10. März 2014 im Berlin Verlag, 302 Seiten, € 19,99


Mittwoch, 19. Februar 2014

„Vom Küken, das wissen wollte, wer seine Mama ist“ von Brigitte Endres und Julia Dürr

Wer die alte archetypische Heldenreise auf der Suche nach dem ureigenen Sinn und Ziel des eigenen Lebens für sich selbst willentlich annimmt, braucht dafür eine wagemutige Mischung aus naiver Selbstüberschätzung, Unbekümmertheit und Todesmut wie sie am anschaulichsten in der Figur des heiligen Narren deutlich wird, die von der Gestalt des Parzival bis hin zu Pinocchio am Beginn jeder individuellen Heldenreise stehen muss: nur aus dem Blickwinkel der Unwissenheit, der Unkenntnis der zahlreichen konkreten möglichen Gefahren auf dem beschwerlichen Weg kann die sogenannte „große Tat“ überhaupt in Angriff genommen werden.


Es hat selten ein Bilderbuch gegeben, das dieses uralte Motiv auf so selbstverständliche und gleichzeitig so unaufdringlich-dezente und annehmbare Art und Weise für Kinder im Bilderbuchalter ab vier Jahren intuitiv erfahrbar macht wie das soeben erschienene, im konzentriert-zeitlosen Stil eines auf eine wesentlich-überschaubare Bildsprache reduzierten Comics gehaltene, entwaffnend poetische Buch „Vom Küken, das wissen wollte, wer seine Mama ist“ der jungen, für ihr bisheriges Werk bereits vielfach ausgezeichneten Illustratorin Julia Dürr (geboren 1981) nach einer Textvorlage der Jugendbuch- und Hörfunkautorin Brigitte Endres, die die Erfahrungswelt ihres Publikums aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit als Grundschullehrerin nicht nur genauestens kennt, sondern dafür auch eine kongeniale Sprache findet.

An einem hellen Sommermorgen rollte etwas über
die Wiese. Rollte und rollte und blieb
unter einem Fliederbusch liegen. Es war nicht
sehr groß und weiß und glatt.

Als das kleine gelbe Küken sich aus dem Ei schält und neugierig, gut gelaunt und unbefangen ins Leben tritt, fehlt zum ganz großen Glück nur eins: die eigene Mama. Wie aber und woran soll das unglücklich dem heimatlichen Nest entrollte Neugeborene seine Mutter erkennen, die es noch nie leibhaftig gesehen hat? Es macht sich also auf den Weg durch die sommerlich frisch-erblühte Natur und fragt jedes einzelne Lebewesen, dem es begegnet, ob es vielleicht seine Mutter sei. Indem es eine natürliche Kultur des naiven, unbefangenen, systematischen Fragens etabliert, erfährt es viel über das Leben an sich, über den Lauf der Natur und über das Brutverhalten anderer Tiere, wobei die Natur – und darin besteht der besondere Reiz dieses Buches – von den beiden Autorinnen in viel umfangreicheren Maße als belebt begriffen und dargestellt wird als es der allgemeine Konsens sonst zulässt.

Im auf geradezu menschliche Art und Weise solidarisch scheinenden, vielfältig und organisch miteinander verbundenen natürlichen Lebensraum dieser poetischen Bilderbuchwelt können nicht nur Tiere, Insekten und Amphibien miteinander kommunizieren, sondern auch Gräser, Blumen und Bäume:

Wir sind nicht vom selben Holz, mein
Nachwuchs schlummert in den Kirschen. Wenn sie auf die Erde
fallen, wachsen junge Bäumchen aus den Kernen. - Und du bist ja
wohl kaum aus einem Kern gekrochen.“
Ich bin aus einem Ei geschlüpft“, piepste das Küken.

Und dank seiner unwiderstehlich-liebreizenden Wirkung als schwaches, unschuldiges, tapsig-unbeholfenes Jungtier, das deutlich erkennbar für kein anderes Lebewesen, ob Tier, Insekt oder Pflanze, weder aus bösem Vorsatz noch unabsichtlich eine mögliche Gefahr darzustellen vermag, entkommt es sogar der verschlagenen Katze, die als einziger Gesprächspartner des kleinen Kükens ein gefährliches Interesse für den potentiellen Leckerbissen entwickelt: von dessen unfehlbarem naiven Charme entwaffnet, lässt sie es trotz einer vom Leser deutlich erkennbaren Drohung vollkommen unangetastet und letztlich mit einem hilflos-verdrossenen Schulterzucken seiner ungewissen Wege ziehen.

Am Ende zeigt sich jedoch, dass es im Abenteuer des Lebens noch andere zielführende Kriterien geben kann als das Sichtbar-Offensichtliche:

Doch plötzlich... Plötzlich hörte es etwas. Etwas,
das ihm bekannt vorkam. Etwas, das sein Herzchen
schneller klopfen ließ.

Es ist eine wirklich bravouröse Leistung, im streng begrenzten erzählerischen und bildnerischen Rahmen eines gewöhnlichen Bilderbuchs eine unter der offensichtlichen Oberfläche inhaltlich so reichhaltige Geschichte zu erzählen, in der gleichzeitig auch so viel intuitives, poetisch verdichtetes Wissen über das Große-Ganze des menschlichen Lebens und der Natur mitschwingt, ohne das Resultat ins tückische Fahrwasser des Simplen, Banalen oder Esoterischen abgleiten zu lassen. Die jedem Kind durch eigene Anschauung bereits annähernd vertraute lebendige Umwelt, die die beiden Autorinnen in ihrem entzückenden kleinen Buch in kongenialer Zusammenarbeit miteinander gestalten, erscheint so als ein natürlicher, allumfassender Organismus, in dem jedes Lebewesen seinen festen, von allen wertgeschätzten Platz besitzt und in dem sich jeder auch für das Glück des anderen mitverantwortlich fühlt. Das ist möglicherweise eine Utopie – aber ohne Zweifel eine schöne, ausgesprochen wünschenswerte.



Samstag, 15. Februar 2014

„Bruder Kemal“ von Jakob Arjouni

Was für einen bitteren, unwiederbringlichen Verlust der frühe Tod Jakob Arjounis im Januar 2013 für die aktuelle deutsche Literaturlandschaft bedeutet, die dieser weltgewandt-liebenswürdige, hochbegabte sympathische Zweifler in einem Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren über alle gängigen Genregrenzen hinweg mit seinen zahlreichen pointierten Romanen, Theaterstücken und perfekt konstruierten Krimis bereichert hat, lässt sich selbst für den Unkundigen weit mehr als nur ansatzweise ermessen, wenn er dessen nun auch als Taschenbuch vorliegenden allerletzten Kriminalroman „Bruder Kemal“ liest: die Welt, die sich darin widerspiegelt, ist nicht gleichförmig, sondern reich an den zahlreichen unterschiedlichen Äußerungsformen des Lebens, ist nicht bürokratisch, sondern menschenfreundlich, nicht vorhersehbar, sondern intuitiv und wandelbar – selbst dort, wo sie es entgegen unseren tiefsten Träumen und unserem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden doch zu sein scheint, lehnt sie sich gleichzeitig vehement dagegen auf.


Mit einem lupenreinen klassischen Krimi nach amerikanischem Vorbild, dem ersten (später von Doris Dörrie verfilmten) Kayankaya-Roman „Happy Birthday, Türke!“, der einen ungewohnt internationalen und in höchstem Maße eigenständigen Ton in die deutsche Krimiszene einführte, hatte der zweiundzwanzigjährige Arjouni 1988 seine Karriere begonnen; tastend damals noch, nicht wissend, ob dies für ihn – nach einem abgebrochenen, an anderem Ort wieder aufgenommenen und schon bald wieder beendeten Studium sowie diversen klangvollen Aushilfsjobs – der richtige Weg sein könne. Wenn man seiner eigenen unterhaltsam zu lesenden, humorvoll-selbstkritischen Kurzbiographie glauben darf, wusste er dies mit einiger Sicherheit erst nach zwei weiteren (erfolgreichen) Romanen und zwei Theaterstücken.

Frankfurter Bahnhofsviertel: Kayankayas Revier


Es gibt eine großartige Szene von brillanter Komik in Jakob Arjounis fünftem und leider letztem Kayankaya-Krimi, der den ganzen Aberwitz unserer perfekt vernetzten, erfreulich normalen und real-existierenden bundesdeutschen Muli-Kulti-Welt genial-ironisch auf die Spitze treibt: der erzsympathische Frankfurter Privatdetektiv Kemal Kayankaya kommt bei seinem neuesten Fall einem ebenso geschäftstüchtigen wie zwielichtigen Vorstadt-Imam in die Quere, der den bei deutschen Adoptiveltern aufgewachsenen, für jegliche religiöse Umtriebe völlig unempfänglichen gebürtigen Türken über seinen Sekretär telefonisch zwangsweise zur Audienz einbestellt, um ihn massiv unter Druck zu setzen:

Anfangs redete er türkisch, bis er mir einen Augenblick Zeit ließ, ihm zu erklären, dass ich kein Türkisch gelernt hatte.
Nach einer ungläubigen Pause, einem türkischen [...] Fluch und ein paar verächtlichen Schmatzlauten, fuhr er schließlich auf Deutsch fort. Er sprach starken hessischen Dialekt, und ich musste dreimal nachfragen, bis ich verstand, dass seine Herrlichkeit mich zu sehen wünsche.

Wer will mich sehen?“
Sei Hellischkeit.“
Helligkeit?“
Heelliischkeit!“
Tut mir leid. Heilig, Höllig?“
Hellisch! Wie hellische Aussicht! Mensch!“
Ah, seine Herrlichkeit.“
Jetzt tu bloß net so, du...!“
Wer ist seine Herrlichkeit?“
Isch hab doch gesacht, isch bin dä Sekrätär vom Scheisch Hakim!“

Und dieser Scheich Hakim ist eine ganz große Nummer im lokalen Drogengeschäft... Aber in Kayankayas fünftem und letztem Fall trifft nicht nur scheinheilig-aufgesetzte Religiosität auf überzeugten Atheismus, sondern auch gutgläubige emotionale Unschuld auf kalte amoralische Berechnung sowie die geballte weibliche Verführungskraft in Person einer attraktiven Klientin auf schwer erkämpfte männliche Vernunft in Gestalt des zwar mittlerweile seit mehreren Jahren fest liierten, jedoch für weibliche Reize immer noch überaus empfänglichen Protagonisten.

Die auch mit knapp vierzig Jahren ausgesprochen verheißungsvolle Bankierstochter Valerie de Chavannes bestellt Kayankaya in ihre noble Villa im Frankfurter Diplomatenviertel und beauftragt ihn mit der Suche nach ihrer seit einigen Tagen spurlos verschwundenen frühreifen sechzehnjährigen Tochter, die sich vermutlich in amouröser Begleitung eines älteren türkischen Mannes aufhält, der sich als bildender Künstler ausgegeben hat – eines weitläufigen Neffen des besagten Scheich Hakim, wie sich bald herausstellt. Parallel dazu erhält Kayankaya einen weiteren vermeintlich leicht zu bewältigenden Auftrag als Personenschützer eines marokkanischen Schriftstellers, der sein in der arabischen Welt angeblich wegen seiner homosexuellen Thematik kontrovers aufgenommenes, in Wirklichkeit aber von der Presseabteilung seines deutschen Verlages gezielt als Tabubruch lanciertes neues Buch auf der Frankfurter Buchmesse vorstellen wird.

Zwar gibt es für eine tatsächliche Bedrohung dieses charmant-naiven Möchtegern-Casanovas und ausgeprägten Selbstdarstellers durch radikale Islamisten auch nach ausgiebiger detektivischer Recherche keinerlei realistische Hinweise, aber am Ende überlagern und verbinden sich die beiden unterschiedlichen Fälle dennoch auf so ungeahnte Art und Weise nahezu untrennbar miteinander, dass ausgerechnet der auf weltfremdeste Art und Weise harmlose Malik Rashid zum ersten Opfer einer so kaum vorauszuahnenden, geradezu filmreifen Gewalteskalation von Doppelmord, sexueller Nötigung, Erpressung und Entführung zu werden droht.

Jakob Arjouni, 2006

Auch in seinem unwiederbringlich letzten Kayankaya-Roman ist Jakob Arjouni erneut ein unwiderstehlicher, ebenso unterhaltsamer wie engagierter literarischer Cocktail gelungen, der scharf beobachtete Milieuschilderungen mit außergewöhnlich lebensechter Charakterzeichnung und zahlreichen geradezu slapstickhaften Einlagen von großer satirischer Schärfe verbindet. Insbesondere die zahlreichen Denkwürdigkeiten der Frankfurter Buchmesse, die der Autor volkommen zu Recht als gnadenlos übertriebene und im Grunde „artfremde“ Selbstdarstellung der Buchbranche geißelt, werden von ihm mit ausgesprochen treffsicherem Hintersinn porträtiert. Dass nun ausgerechnet der unstete, seit mehr als zwanzig Jahren nicht gerade ungefährlich lebende Kayankaya seinen friedfertigen, menschenfreundlichen Schöpfer überlebt, ist von einer gewissen traurigen Ironie. Allerdings vereint diese unvergesslich-lebensechte, literarisch-moderne Gestalt nicht nur einige der besten allgemein-menschlichen Tugenden in sich, sondern deutlich erkennbar auch die meisten des allzu früh verstorbenen Autors: welcher ambitionierte Schriftsteller kann wahrheitsgemäß Ähnliches von sich behaupten?

„Bruder Kemal“, erschienen bei Diogenes, 225 Seiten, € 10,90

Donnerstag, 13. Februar 2014

„Was mit dem weißen Wilden geschah“ von Francois Garde


Der strahlendste, ehrwürdigste und in seiner internationalen Wirkung ohne Zweifel auch wichtigste französische Literaturpreis Prix Goncourt, der einschließlich seiner zahlreichen Nebenpreise alljährlich von einer wechselnden Jury aus zehn renommierten französischsprachigen Schiftstellern bestellt wird und damit wohl (möglicherweise auch gerade wegen seiner rein symbolischen Dotierung von zehn Euro) weltweit auch als einer der fundiertesten und in vielerlei Hinsicht wahrhaftigsten Literaturpreise gelten muss, ist von außen sehr oft als Preis für ehrgeizige Autoren aus dem Grenzgebiet zur Philosophie wahrgenommen worden, die in ihren literarischen Denkgebäuden – durchaus einem bestimmten französischen Publikumsgeschmack Rechnung tragend – besonders extreme intellektuelle Ausflüge in existenzielle Ausnahmesituationen wagen: Alexis Jenni, Michel Houllebecq und Jonathan Littell sind mit ihren kontrovers dikutierten jüngsten Romanen nur drei der namhaftesten Preisträger der letzten zehn Jahre.



Das großartige, überaus lesenswerte, soeben in deutscher Übersetzung erschienene späte Romandebüt des langjährigen hochrangigen französischen Staatsbeamten und Diplomaten Francois Garde (geboren 1959), eindrucksvoll ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt du premier Roman 2012 sowie sieben weiteren Literaturpreisen, ist da zumindest inhaltlich keine Ausnahme: ausgehend von einer höchst realen historischen Begebenheit, die unwillkürlich an Kaspar Hauser oder das berühmte „Wolfskind“ Victor de l'Aveyron denken lässt, erzählt er in sehr freier Form die unglaubliche Geschichte des jungen französischen Matrosen Narcisse Pelletier, der im Jahr 1843 unter höchst unglücklichen Umständen von der Mannschaft seines Schiffes vollkommen auf sich allein gestellt an der Ostküste Australiens zurückgelassen und erst siebzehn Jahre später zufällig als Mitglied eines Eingeborenenstammes wiederentdeckt und als unerklärliches Kuriosum eines nackten Weißen, der keiner bekannten Sprache mächtig zu sein scheint, ins damalige Provinznest Sydney verschleppt wurde.

Seine ganze Erscheinung legt mithin nahe, oder besser gesagt, sie macht ganz klar deutlich, dass er der weißen Rasse angehört. Er scheint intelligent zu sein: Wenn man ihn anspricht, hört er zu, äußert mithilfe von Gesten elementare Gefühle und gehorcht Anweisungen: aufstehen, herkommen, eine bestimmte Grenze nicht überschreiten. Auf Stimmlagen reagiert er sehr sensibel: Freundlichkeit, Wut, Angst oder Schmerz rühren sein Interesse und Mitgefühl.

Francois Garde gestaltet seinen faszinierenden historischen Stoff als fesselnden Abenteuer- und Entwicklungsroman klassischen Zuschnitts. Ähnlich wie T.C. Boyle in seiner grandiosen und für sein übriges Werk geradezu atypisch konzentrierten Erzählung über Victor de l'Aveyron gelingt es ihm dabei auf geradezu beeindruckende Art und Weise, seine künstlerischen Mittel voll und ganz in den Dienst der Handlung sowie des übergeordneten Gehalts seines behutsam entwickelten kulturpessimistischen Resümees zu konzentrieren. Dabei sind es gerade die historischen Freiheiten und offensichtlichen Ungenauigkeiten, die sein schwieriges, verschiedene historische Disziplinen der wissenschaftlichen Weltdurchdringung berührendes Sujet für den heutigen Leser so überaus attraktiv, zugänglich und stimmig machen.



Narcisse Pelletier


Als der britische Gouverneur, in dessen fürsorgliche Verantwortlichkeit der mysteriöse weiße Wilde mittlerweile übergegangen ist, eine kleine Gruppe von zufällig in der Stadt anwesenden, ausnahmslos honorigen Vetretern verschiedener Nationen zur Hilfe ruft, um anlässlich einer formellen Soiree in Erfahrung zu bringen, ob jener möglicherweise auf eine der hier versammelten Sprachen reagiert, erfährt der erfolglose, beinahe resignierte französische Forschungsreisende Graf Octave de Vallombrun unverhofft seine künftige Lebensaufgabe: nachdem er einige von dem unglücklichen Gefangenen stetig wiederholten Silben als eindeutig französischen Ursprungs identifiziert hat, bringt er erhebliche Mühen und Kosten auf, um dem „verlorenen Sohn“ die vergessene Muttersprache sowie die Kultur seiner Heimat wieder ins Gedächtnis zu rufen und ihn nach Frankreich zurückzubringen, wovon er sich vor allem nachhaltigen wissenschaftlichen Ruhm erhofft.

Wenn ich ihn so beim Korbflechten betrachte, frage ich mich, ob es ihm gut geht. Diese Frage ist freilich nicht zu beantworten, er gibt schließlich keinen Einblick in seine Gefühlswelt und lebt augenscheinlich von einem Tag auf den anderen. Der Zufall wollte es, dass er auf der John Bell landete, in dem Gefängnis des Gouverneuers und in diesem abgeschiedenen Haus, und er überlässt sich ganz seinem Schicksal. Ist es Weisheit? Gleichgültigkeit? Mangel an Neugier und Initiative? Wer wollte das entscheiden?

Die unvergessliche Gestalt des nach reiner wissenschaftlicher Erkenntnis strebenden, gescheiterten Forschers und adeligen Mitglieds der renommierten Société de Géographie als Antagonist zum „weißen Wilden“ ist eine ebenso geniale wie überzeugende Erfindung des Autors: denn während Narcisse selbst noch im laufenden Prozess der intendierten Resozialisierung für ein ursprünglich-freies, naturverbundenes Leben steht, das kein Gestern und Morgen kennt und allein den gegenwärtigen Augenblick überhaupt zu begreifen und wertzuschätzen vermag, bleibt der wackere Octave zunächst ein ferngesteuertes Produkt der menschlichen Zivilisation, deren vermeintliche Errungenschaften er als unvergänglichen Hort der Kultur und des Geistes über alles schätzt.

So wie seine Haut von den Tätowierungen gezeichnet ist, so ist es auch sein Geist von den Erfahrungen, und er wird sich ihrer vielleicht niemals vollständig entledigen können. Die Vorstellung, dass in einem Menschen zwei Seelen miteinander ringen, hat etwas Merkwürdiges. Aber ich sehe nicht, wie ich ihn sonst verstehen sollte

Francois Garde

In dieser reizvoll-konfliktreichen Personenkonstellation hat Francois Garde gleichzeitig auch die ideale Form und den passenden erzählerischen Rahmen für sein wunderbares, ausgesprochen spannend zu lesendes Buch gefunden: während die schmerzhafte, ungewollte Sozialisation Narcisses in die für ihn fremdartig-abstoßende Stammesgemeinschaft aus der resigniert-verzweifelten Sicht des von seinen Kameraden verlassenen, an Durst und Hunger leidenden Matrosen geschildert wird, erzählt in stetig kontrastierenden Abschnitten Octave de Vallombrun die Geschichte von dessen unfreiwilliger Rückkehr in die Zivilisation in Form von ausführlichen schriftlichen Berichten an den Präsidenten der Société de Géographie in der französischen Hauptstadt.

Narcisse verändert sich. Jeder Tag bringt ihn uns näher und entrückt ihn den Tiefen Australiens. Er passt sich unseren Lebensgewohnheiten an, sobald er sie nachvollziehen kann. Die Hosen, die er nunmehr trägt, die Worte, die er zu sprechen in der Lage ist, die Beziehung, die er zu mir aufgebaut hat, führen ihn zu uns zurück, aber überdecken genau das in ihm, was ich zu begreifen suche.

Ein allmähliches, aber umso radikaleres Umdenken bei Octave wird schließlich erst in Gang gesetzt, als sich der stolze Graf ausgerechnet vor der von ihm selbst so hoch geschätzten Vollversammlung der Société, also von etablierter wissenschaftlicher Seite vollkommen zu Unrecht des Verdachts auf Betrug und Unwissenschaftlichkeit ausgesetzt sieht, ja geradezu bloßgestellt und lächerlich gemacht wird. Außerdem muss er verblüfft miterleben, wie die attraktive Kaiserin Eugénie dem stets liebenswürdig lächelnden Narcisse während einer kurzen Privataudienz mehr Details über sein Leben im australischen Busch und über die Lebensgewohnheiten der Aborigines zu entlocken vermag als ihm selbst im Verlauf eines ganzen Jahres gelungen ist: Narcisse Pelletier bleibt auch im heimatlichen Frankreich ein höflich distanzierter, schweigender Fremder, der am liebsten lange Wanderungen durch die Natur unternimmt und mit seiner selbst gebauten Harpune Fische fängt.

Und was machen Sie morgen, mein Freund?“
Diese harmlose Frage löste tiefe Verwunderung bei ihm aus. An der Art und Weise, wie er seine Finger bewegte, erkannte ich, dass er nicht weiterwusste. Er machte eine Verbeugung in Richtung der Prinzessin, holte tief Luft und sprang ins kalte Wasser:
Morgen wird die Sonne wieder aufgehen.“

Cape York/Queensland

Im Jahr 1875 beginnt es sich nun bereits abzuzeichnen, dass es in absehbarer Zeit keine unentdeckten Flecken mehr auf der Erde geben wird. Der geistig hellwache, visionär denkende und moralisch absolut integre Octave de Vallombrun muss im Verlauf seiner jahrelangen persönlichen Bemühungen um das Wohl seines Schützlings in bemerkenswerter Hellsichtigkeit erkennen, dass zukünftige wissenschaftliche Abenteuer eher der sorgfältigen und verantwortungsbewussten Erforschung innerer Welten, insbesondere der menschlichen Psyche gelten müssen – seinen ursprünglichen ehrgeizigen Plan, unter dem verschrobenen Begriff der „Adamologie“ eine neuartige interdisziplinär arbeitende moderne Wissenschaft zu begründen, gibt er indes vollkommen desillusioniert auf. In einem allerletzten, verzweifelten Versuch der erbarmungslosen psychischen Konfrontation kommt es schließlich zum endgültigen Bruch mit Narcisse:

Er war außerstande, mir zu antworten. Er war außerstande, mir nicht zu antworten. Er ist geflüchtet. Ich ahne, dass wir ihn nicht mehr wiedersehen werden. [...] Um ihn zu begreifen, bleibt mir nur sein Aphorismus, ist dieser etwa sein Abschiedsgeschenk? „Reden ist wie sterben.“ [...] Meine Fragen zu beantworten bedeutete für ihn, sich in höchste Gefahr zu begeben. Sterben, nicht einen klinischen Tod, sondern tot für sich und andere zu sein. Sterben, weil es unmöglich war, beide Welten zugleich zu denken. Sterben, weil es unmöglich war, zugleich Weißer und Wilder zu sein.

„Was mit dem weißen Wilden geschah“ ist möglicherweise schon jetzt die größte literarische Entdeckung dieses noch jungen Frühjahrs – ein virtuos erzähltes, fesselndes und in höchstem Maße inspirierendes Buch über leibhaftige Abenteuer in der realen Welt und die vielleicht noch größeren Abenteuer des menschlichen Geistes – ein sich ausgesprochen bescheiden gebender, wunderbarer Roman, dem es scheinbar mühelos gelingt, längst überwundene historische Themenstellungen mit den großen Herausforderungen unserer Zeit auf so unaufdringliche Art und Weise zu verknüpfen, dass wir uns nicht nur vollkommen darin gespiegelt erkennen, sondern auch mehr als eine bloße Ahnung davon erfahren, wie zerbrechlich unsere allgemeine Vorstellung von der Natur der menschlichen Identität unter Umständen sein kann. Ein Buch also, das uns mit aller Macht der realen Welt öffnet – welche literarische Leistung könnte größer sein?

„Was mit dem weißen Wilden geschah“, aus dem Französischen von Sylvia Spatz, erschienen bei C.H. Beck, 318 Seiten, € 19,95

Montag, 3. Februar 2014

„Ben, der Schneemann“ von Guido van Genechten

Als sich nun endlich eine dichte, strahlend weiße Schneedecke über die winterliche Landschaft ausgebreitet hat, baut man ihn in einem übermütig-unbewussten, kindlich-ausgelassenen Schöpfungsakt kurzerhand aus zwei prächtigen Schneekugeln zusammen, steckt ihm eine kleine Mohrrübe und ein paar Kohlenstücke ins Gesicht, setzt ihm eine alte Pudelmütze auf den Kopf und behauptet, er sei ein Schneemann und habe für den Rest seines kurzen, allein von der trügerischen Gunst des Frostes abhängigen Lebens still zu stehen.



Es sind ohne Zweifel schon Kinder unter banaleren Umständen von ihren Eltern ins Abenteuer des Lebens entlassen worden, aber was es nach landläufiger Meinung bedeutet, ein Schneemann zu sein, muss der kleine Ben, den es vor Abenteuerlust und Lebendigkeit in den Zehen kribbelt, nur allzu schnell von seinen beiden älteren und nach ihrer eigenen Meinung auch weitaus „lebenserfahreneren“ Artgenossen erfahren, die reglos-resigniert mit ihm die Landschaft bestehen, erstarrt zum bloßen Symbol für die spielerisch-naive, unbewusst formulierte menschliche Kampfansage gegenüber der Natur.

Wenn Ben der Schneemann sich ab und zu ein kleines
bisschen bewegte (er konnte ja nichts dafür, dass es ihn juckte
oder dass ein Hund mit ihm spielen wollte, oder?), schnauzte
ihn der Schneesoldat an: „Hör auf damit! Steh still!“
Herr Zylinder, der andere große Schneemann, der neben
ihnen stand, fügte dann etwas sanfter hinzu: „Nein, nein, Kleiner,
nicht bewegen!“

Ein hungriger kleiner Spatz, der auf seiner Möhrennase landet, zwitschert dem kleinen Schneemann schließlich eine unwiderstehliche Frage ein, die ihn gefühlsmäßig schon immer bewegt zu haben scheint, die er aber bislang – unter den unablässigen Ermahnungen, unduldsam geschnarrten Befehlen oder vorgeblich „wohlmeinenden“ Ratschlägen seiner Kollegen – noch nicht bewusst zu formulieren vermochte und die sich nun, erst einmal laut ausgesprochen, nicht wieder zurücknehmen lässt: „Warum?“


Der langjährige Typograf und Grafikdesigner, als Kinderbuchautor jedoch ausgesprochen spätberufene, stilistisch äußerst versierte belgische Illustrator Guido van Genechten (geboren 1957), dessen eindrucksvolles Werkregister in einem Zeitraum von bald dreißig Jahren auf mittlerweile mehr als vierzig Einzelveröffentlichungen angewachsen ist, gestaltet in seinem diesen Winter auf Deutsch erschienenen neuen Bilderbuch „Ben, der Schneemann“ in kindlich-naiven, bildinhaltlich reichen, mitreißenden Zeichnungen die klassisch-universelle Geschichte eines sinnstiftenden Aufbegehrens gegenüber falschen Autoritäten.

Guido van Genechten

Denn im Erwachen zur unumstößlichen Gewissheit eines ureigenen Bewusstseins als selbstbestimmtes Individuum muss Schneemann Ben unweigerlich erkennen, dass ein reglos ertragenes Leben, das sich im bloßen Erdulden des allein von Außen diktierten vermeintlich Unvermeidlichen erschöpft, weder seiner Persönlichkeit noch seinen köperlichen oder geistigen Fähigkeiten noch seiner auf dieser Grundlage geprägten Vorstellung vom Leben entspricht.

Schon viele Kinder- und Jugendbücher haben uns in der Vergangenheit das wohlvertraute melancholische Bild vom dahinschmelzenden Schneemann vermittelt: das Leben im unabänderlichen Jahreslauf der Natur geht weiter – wer könnte sich dagegen wehren? Guido van Genechten jedoch gibt sich mit der bloßen Metapher vom Schneemann als Symbol für Vergänglichkeit und Neubeginn nicht zufrieden, sondern sucht für seinen im kreativen Prozess seines Aufbegehrens Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen sympathisch-vertrauten kleinen Protagonisten einen ganz konkreten Ausweg: denn für Ben ist es keine Option, tatenlos auf Tauwetter zu warten.

Konventioneller Schneemann

Er läuft langsam los, rennt, springt, tanzt und rodelt innerlich wie äußerlich befreit den erstbesten Abhang hinab. Seine ursprüngliche bittere Wut ist dabei bereits nach den ersten paar Schritten zu einer wunderbaren, spielerisch-leichten Geste des persönlichen Triumphs abgemildert: anders als der kretische Sänger und Lyriker Psarandonis, der in einem seiner brühmtesten Lieder „ΠΕΤΡΕΣ ΠΕΤΩ ΤΟΥ ΦΕΓΓΑΡΙΟΥ“ Steine gegen den Mond schleudert, begnügt sich der kleine Ben damit, Schneebälle zu werfen: bis zum Mond – „Nein, sogar noch höher!“

Mit einem alten, achtlos weggeworfenen Fahrrad radelt er immer weiter Richtung Norden:

Ben fuhr, bis er eine wunderschöne weiße Ebene erreichte.
Dort sah er eine Gruppe tanzender, lachender Schneemänner.
Hey, müsst ihr denn nicht stillstehen?“, fragte er sie.
Nein, natürlich nicht“, antworteteten die Schneemänner
fröhlich. „Nicht hier im Eisland. Hier in unserer Heimat
dürfen wir Schneemänner uns nach Herzenslust bewegen.“

Freilich ist das Eisland nicht der geeignete Lebensraum für jeden – dem kleinen Schneemann jedoch bietet es die perfekten Rahmenbedingungen für eine selbstbestimmte, schwerelos-freie Existenz im Sinne seiner ganz persönlichen individuellen Talente, vor allem aber jenseits aller üblichen, von Bürokraten vorgegebenen und den Mutlosen und Untertanen kraftlos erfüllten Schneemann-Konventionen, losgelöst vom für seine sensible Spezies üblicherweise tödlichen Verlauf der Jahreszeiten. In diesem Sinne ist Guido van Genechten eine ganz neue, überaus reizvolle Variante der Schneemann-Geschichte gelungen, die uns auf moderate Art und Weise vor Augen führt, dass man zur Erringung des persönlichen Lebensglücks manchmal nicht nur weite und einsame Wege gehen muss, sondern vor allem auch das Undenkbare, zuvor nicht Gedachte denken muss.

„Ben, der Schneemann“, aus dem Niederländischen von Martin Rometsch, erschienen bei Aracari, 32 Seiten, € 13,90