Kaum ein anderer
bedeutender literarischer Chronist jüdischer Verfolgung im
Zwanzigsten Jahrhundert hat sein erzählerisches Werk einer solchen
Fülle von Einzelaspekten der Shoah sowie ihres Nachwirkens auf die
Überlebenden und auf nachfolgende Generationen gewidmet wie der 1932
in Czernowitz geborene Aharon Appelfeld. Wer Appelfelds
vielschichtiges literarisches Werk aufmerksam liest und es mit
anderen dichterischen Zeugnissen des Holocaust vergleicht, wird
überrascht sein, wie sich aus all seinen Romanen ein Bild ergibt,
das uns auf geradezu beiläufige Art und Weise, aber dennoch sehr
unmissverständlich klar macht, dass die Erfahrung der Verfolgung
durch die Nationalsozialisten unter keinen Umständen nur als
abstrakte Geschichtslektion verstanden werden darf.
Sie muss stattdessen als
ganz reale und unmittelbare persönliche Erfahrung einer Vielzahl von
höchst unterschiedlichen menschlichen Individuen begriffen werden,
deren einzige Gemeinsamkeit in der totalen gesellschaftlichen
Ausgrenzung durch ihre Verfolger zu bestehen schien: einzelnen
Menschen aus „unserer Mitte“, wie der österreichische
Schriftsteller Erich Hackl in seinen Werken betont, die in ihren
jeweiligen Lebensentwürfen und in ihrer persönlichen Entwicklung
vor ganz anderen wesentlichen Herausforderungen standen, als sie von
Hitler-Deutschland und dessen Verbündeten auf den Kampf ums
Überleben reduziert wurden, nebenher aber trotzdem weiterhin ihre
fundamentalen ureigenen Lebensäußerungen umzusetzen versuchen
mussten.
Mein Name ist Edmund,
und ich bin siebzehn Jahre alt. Seit dem Frühling kriechen wir über
diese Hügel, die meisten kahl, einige dünn bewaldet. Die Lichtungen
sind unser Unglück, aber wir haben gelernt, uns zu tarnen, über die
Erde zu robben, Verstecke zu finden und den Feind zu täuschen. [...]
Das Tageslicht ist eher hinderlich, aber die Nacht gehört uns. Man
muss zwar auch bei Nacht sehr vorsichtig sein, im Lauf der Zeit haben
wir jedoch gelernt, welche Vorzüge die Dunkelheit bietet. Am besten
ist ein Hinterhalt in einer Sommernacht...
So
verschafft uns die Beschäftigung mit Appelfelds Werken immer wieder
das besondere Erlebnis, einem höchst originellen und einfallsreichen
Schriftsteller begegnen zu dürfen, der zwar ein recht hermetisches
schriftstellerisches Lebensthema gefunden hat, diesem aber dennoch
immer wieder neue Aspekte und fantasievolle Plots abzutrotzen vermag,
die ihn letztlich immer wieder davor bewahren, sich im Kern zu
wiederholen. Denn Appelfeld ist ohne jeden Zweifel ein absolut
originärer Schriftsteller, seine Werke sind in aller Regel nicht
autobiografisch im eigentlichen Sinne, sondern lediglich inspiriert
von der bitteren Erfahrung seines eigenen Lebens: der Ermordung
seiner geliebten Mutter am ersten Tag der deutschen Okkupation, seine
anschließende Verschleppung in ein Konzentrationslager, dortige
Trennung vom Vater, den er erst zwanzig Jahre später in Israel
wiedertreffen sollte, seine dreijährige Flucht durch die
ukrainischen Wälder sowie die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg als
Küchenjunge der sowjetischen Armee.
In der Nacht hatte ich
einen Traum: Meine Mutter, mein Vater und ich fuhren wie früher nach
Baden bei Wien. Kaum zu glauben, aber alles war wie immer. [...] Nun
sind sie weit weg, und ich bin hier. Manchmal glaube ich, dass das,
was mir in den letzten Monaten passiert ist, nur ein Erschrecken sein
kann, das sich erst in der Zukunft klären wird.
Aharon Appelfeld 2007 |
Im
nachhinein jedoch nehmen sich viele Romane aus Appelfelds bisherigem
sowohl zahlenmäßig als auch inhaltlich beeindruckenden Gesamtwerk
lediglich als virtuose Fingerübungen und innere Vorbereitung dessen
aus, was er in seiner Autobiographie „Geschichte eines Lebens“
(2005) oder in seinem im Januar 2012 in deutscher Übersetzung
erschienenen Roman „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“
wagt, nämlich die schmerzhafte Reise in seine ureigene,
allerpersönlichste Erinnerung an die brutale Zerstörung seiner
Kindheit im Alter von acht Jahren durch die Nationalsozialisten. In
diesem Roman, dessen eigentliche Handlung erst bei Kriegsende
einsetzt, beschreibt Appelfeld seine Reise durch Europa als langsames
Erwachen im wörtlichen Sinne:
Seit
der Krieg vorbei war, lebte ich in einer nicht enden wollenden
Müdigkeit. Ich stieg von Zug zu Zug, von Lastwagen zu Lastwagen, und
manchmal fand ich mich sogar auf Pferdekarren wieder, aber stets war
ich in einem dichten, traumlosen Schlaf gefangen. [...] Schlaf war
für mich der geeignete Zustand. Im Schlaf lebte ich auf, ich
brauchte ihn wie die Luft zum Atmen. Manchmal stieg ein Traum in mir
auf und bedrohte mich.
In
seinem auch in der Entstehungsgeschichte neuesten, erst 2012 im
hebräischen Original erschienenen Roman „Auf der Lichtung“ scheint
Appelfeld direkt an dieses mächtige Bild anknüpfen zu wollen, indem
er uns ins unbewusst-lebenserhaltende Dunkel einer in der
Leserwahrnehmung geradezu mystische Züge annehmende Parallelversion
der realen transnistrischen Wälder mitnimmt, dem unter der ständigen
Bedrohung immer wieder aufs Neue verlagerten unzulänglichen Versteck
einer gut sechzig Personen umfassenden jüdischen Partisanengruppe,
die das unbarmherzige Schicksal quer durch alle Altersgruppen,
Gesellschaftsschichten und allgemeine Lebensentwürfe bunt
zusammengewürfelt und zu einer aufs Unmittelbarste fest aufeinander
angewiesenen Schicksalsgemeinschaft gemacht hat.
Die einzelnen dabei von
dem unverbraucht-jugendlichen Icherzähler Edmund mit hellwachem,
empathischem Blick und kongenialer kindlicher Beobachtungsgabe
beschriebenen Mitglieder der jüdischen Partisaneneinheit scheinen
auf geradezu ferngesteuerte, unausweichlich-alternativlose Art und
Weise nach und nach zu der stetig anwachsenden Gruppe dazugestoßen
zu sein, weil dieser von kaum einem von ihnen in ihren bürgerlichen
Berufen jemals vorausgesehene oder ernsthaft erwogene Weg des
bewaffneten Kampfes für jeden von ihnen gewissermaßen die einzige
und letzte Möglichkeit war, nach ihrer individuell
unterschiedlichen, zum Teil zufällig-beiläufig erscheinenden
Rettung aus dem Ghetto, Konzentrationslager oder aus einem Transport
und unerreichbar fern von Familie, Freunden und Geliebten noch
sinnvoll weiterzuleben und sich dabei eine aktive Perspektive eines
möglichen „Danach“ zu erhalten: auch in dieser
unwahrscheinlichen, von Appelfeld treffend charakterisierten
Waldgemeinschaft ist das von ihr gestaltete kollektive Schicksal eine
Auswirkung des individuell wirkenden Zufalls.
Außerdem haben sie ein
etwa zweijähriges Kind mitgenommen, das sie hinter dem Zaun gefunden
hatten. Kamil behauptet, das Kind sei der Glücksbringer der Gruppe
und mit seiner Hilfe würden wir Wunder vollbringen. [...] Nach jedem
Training und jeder Aktion umringen wir ihn, als wäre er nicht ein
Kind, das nicht sprechen kann, sondern jemand, der uns zum Abschied
Glück wünscht und uns bei unserer Rückkehr begrüßt. Wir
empfinden allein seine Existenz schon ein Wunder. [...] Die meiste
Zeit des Tages sitzt er im Zelt. Seltsam, das kleine stumme Geschöpf,
unfähig einen Ton herauszubringen, erfreut uns durch die kleinsten
Regungen.
Auch in der neuesten
folgerichtigen Fortschreibung seines Lebensthemas gelingt Aharon
Appelfeld erneut eine erschütternd genaue, tiefgreifende Schilderung
unbeirrt weitergelebten Lebens unter den denkbar ungünstigen,
menschenunwürdigen Bedingungen, wie sie für die unselige Zeit der
unerbittlichen Verfolgung und fabrikmäßigen Ermordung der
europäischen Juden durch Nazi-Deutschland leider charakteristisch
und typisch waren. Gerade in der von tiefem emotionalen Schmerz
gekennzeichneten literarischen Anrufung der intakten, selbst von
ungefährer Vorahnung der Kriegsereignisse noch unberührten
Familienverhältnisse und der unstillbaren Sehnsucht danach wird die
geradezu übermenschlich scheinende psychische Leistung Aharon
Appelfelds beispielhaft deutlich. Auch nach der Lektüre seines neuen
Buches bleibt der positiv überwältigende Eindruck, die persönliche
Geschichte des Autors als Spiegel des kollektiven Schicksal des
jüdischen Volkes sei auch in seinem diesen Monat glücklich
vollendeten zweiundachtzigsten Lebensjahr noch lange nicht
auserzählt.
„Auf der Lichtung“,
aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, erschienen bei Rowohlt, 320
Seiten, € 19,95