„Avi, Avi! Pass auf!“,
möchte man im Verlauf der Handlung von Dror Mishanis zweitem
Avi-Avraham-Roman dem gutmütigen Protagonisten mit wachsender
Ungeduld immer wieder zurufen und ihn dabei kräftig an den Schultern
rütteln, „Du tust es schon wieder! Warum begehst du den selben
verhängnisvollen Fehler ein zweites Mal?“ – Im ersten überaus originellen Band der klug konstruierten Reihe des Lehrbeauftragten
für Kriminalliteratur der Universität Tel-Aviv hatte der erfahrene,
stets sorgfältig arbeitende israelische Polizeiinspektor im Verlauf
der erfolglosen Suche nach einem von seinen Eltern als vermisst
gemeldeten Jugendlichen aus persönlicher Empathie wichtige Spuren
nicht weiterverfolgt und den ebenso undurchsichtigen wie tragischen
Fall um familiären Missbrauch durch sein ärgerliches Versäumnis
nicht nur unnötig in die Länge gezogen, sondern hätte dabei
beinahe auch die bürgerliche Existenz eines unschuldigen, aber
höchst verdächtigen Lehrers des Verschwundenen vernichtet, auf den
er sich als möglichen Täter regelrecht eingeschossen hatte. Für
den berufenen Ermittler selbst hatte sein unbegreifliches Versagen
auch berufliche Konsequenzen: ein psychologisches Gutachten,
Versetzung in den Innendienst sowie den anhaltenden hämischen Spott
vieler seiner Kollegen. Einziger persönlicher Lichtblick für den
schüchternen Romantiker war eine zarte Romanze mit einer Brüsseler
Kollegin während einer gleichsam als Strafe über ihn verhängten
Fortbildung in der belgischen Hauptstadt.
Im lange erwarteten und
letzten Sommer endlich in deutscher Übersetzung erschienenen zweiten
Band der Reihe ist Avi Avraham beruflich weitgehend rehabilitiert und
darf ernsthaft hoffen, schon bald wieder seinen ersten eigenen Fall
seit seiner Suspendierung zu leiten, während er im Privaten voller
Vorfreude dem baldigen Eintreffen seiner belgischen Freundin
entgegenfiebert. Die Beziehung der beiden hat sich im Verlauf der
letzten Monate durch einen mehrwöchigen Liebesurlaub in Belgien
intensiviert, und sie steht kurz davor, ihren Dienst in Brüssel zu
quittieren und zu ihm nach Tel Aviv zu ziehen. Eines Morgens wird vor
einem kleinen privaten Kindergarten in der schäbigen Vorstadt von
Cholon im Bezirk Tel Aviv ein verdächtiger herrenloser Koffer
gefunden – Bombenalarm wird ausgelöst und entsprechend der
üblichen Mechanismen des tagtäglich von Terrorismus bedrohten
jüdischen Staates rückt ein Räumkommando an, evakuiert die
Nachbarschaft und die Polizei beginnt zu ermitteln. Als sich nach der
kontrollierten Sprengung des Gegenstands herausstellt, dass es sich
dabei nicht um eine Kofferbombe handelte, sondern lediglich um eine
täuschend echte Attrappe, wird entschieden, dass Avi Avraham den
vermeintlich unbedeutenden Fall als persönliche Bewährungsprobe
übernehmen darf.
Er räusperte sich und
sagte: „Jedes Mal denke ich, es würde anders enden, weißt du? Zu
Beginn jeder Ermittlung. Das alles, was war, gelöscht ist. Aber
nichts wird gelöscht, alles sammelt sich nur von einem Fall zum
nächsten an. Ich war mir sicher, dass es diesmal tatsächlich so
war, aber auch bei diesem Fall habe ich es nicht geschafft,
irgendjemanden zu retten. Weder sie noch die Jungen und auch mich
selbst nicht.“
Sie rückte noch näher
an ihn heran. „Avi, ich glaube nicht, dass es möglich ist, Kinder
vor ihren Eltern zu retten.“ Sie verstummte und fügte dann hinzu:
„Aber vielleicht gelingt es dir eines Tages.“ Er schloss die
Augen.
Mit großem,
möglicherweise sogar zu großem Engagement stürzt sich der
Inspektor in die Ermittlungen. Der monatelange, seinen eigentlichen
detektivischen Fähigkeiten nicht im geringsten angemessene
Innendienst und die zahlreichen drängenden Fragen, die sich auch für
ihn selbst aus seinem unerklärlichen Versagen ergeben haben und eine
anhaltende Belastung für seine angeschlagene Psyche darstellen,
haben seinen persönlichen Ehrgeiz, sich nicht nur vor seinen
Kollegen und Vorgesetzten, sondern vor allem auch vor sich selbst
wieder zu beweisen, in unrealistische Höhen geschraubt. Bei ersten
Befragungen der Kindergartenleiterin, ihrer Mitarbeiterinnen und
weiterer Zeugen, konzentriert er sich bald schon auf Eltern, die
bekanntermaßen aus unterschiedlichsten individuellen Gründen mit
der Institution in Konflikt stehen. Insbesondere die widersprüchliche
Aussage des Betreibers eines kleinen Catering-Service‘, Chaim Sara,
der in den frühen Morgenstunden in Tatortnähe gesehen wurde und
sich bei verschiedener Gelegenheit in aggressivem Ton mit der
Leiterin des Kindergartens über die Erziehung des jüngeren seiner
beiden Söhne gestritten hat, lässt einen unbestimmten Verdacht in
Avi Avraham aufkeimen, den keiner seiner Kollegen zu teilen scheint,
dem er selbst sich aber trotz seiner problematischen Vorgeschichte
nicht zu entziehen vermag, so dass er auch gegen den expliziten
Wunsch seiner direkten Vorgesetzten unbeirrt weiterermittelt, anstatt
routinemäßig einer Spur zu einer ehemaligen Mitarbeiterin des
Kindergartens zu folgen, die ihre Stelle erst kürzlich überraschend
gekündigt hat.
Cholon, Israel/Foto: Miroslaw Z. Wojalski |
Ausgerechnet zu einem
Zeitpunkt, als der Inspektor auf eigene Faust den von ihm
verdächtigten Chaim Sara beschattet, dessen philippinische Ehefrau
angeblich auf Urlaub in ihre Heimat geflogen ist, wird die wenig
mitteilungsfreudige Leiterin des Kindergartens von Unbekannten
tätlich angegriffen und dabei so schwer verletzt, dass sie nach
einer langwierigen Notoperation ins Koma fällt, über dessen
voraussichtliche Dauer die behandelnden Ärzte keinerlei zuverlässige
Aussage zu treffen vermögen. Während Avi im privaten
Handlungsstrang des Romans verzweifelt auf eine Nachricht von seiner
Freundin wartet, die seit Tagen aus ungeklärtem Grund ihr Handy
abgestellt hat und auf seine Festnetz-Anrufe nicht reagiert, scheint
alles darauf hinauszulaufen, dass der sensible Ermittler kurz davor
steht, auch dieses Mal den neutralen Überblick zu verlieren und
seine lang ersehnte Bewährungschance auf spektakuläre Art und Weise
zu vermasseln. Als Leser sind wir ihm allerdings aufgrund der
Parallelperspektive aus Chaim Saras Sicht ein gutes Stück voraus und
können durch diesen cleveren Trick des Autors umso mehr ehrlich
empfundene Empathie für den unverstandenen Polizisten in unsere
Lektüre einbringen, der bis zum Schluss aus genuinem detektivischem
Instinkt auf seinen Anfangsverdacht vertraut und diesmal auf
ungeahnte Weise richtig liegt.
Chaim hätte sich die Gesichter seiner Söhne stundenlang anschauen können, aber nicht aus dem Grund, aus dem die meisten Eltern dies taten, so dachte er. Er betrachtete die schmalen Augen, die andersartigen Gesichtszüge und versuchte zu erkennen, worin sich diese von seinen eigenen unterschieden und worin sie ihm doch ähnlich sahen. Von Shalom wurde immer gesagt, er gliche ihm etwas mehr, aber von seinem Charakter kam er eher nach Jenny. Quirlig und eine Plaudertasche. Während hingegen Eser, der Chaim mit seinem ausdauernden Schweigen und seiner Verschlossenheit so sehr an sich selbst erinnerte, ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war, ja manchmal buchstäblich wie sie aussah. Die Fremdheit in ihren Gesichtern würde ihnen stets anhaften. Er hatte dies vor allem durch die Augen anderer Menschen begriffen. [...] Auch an die Geburt erinnerte er sich. An Jennys Schreie und an seine Sorge, seinem Sohn könne während der Geburt etwas zustoßen. Die Ärztin auf der Entbindungsstation hatte es abgelehnt, Jenny aufzunehmen, auch als diese sagte, sie habe bereits Wehen. Sie wurden gebeten, in ein paar Stunden wiederzukommen, und Chaim war sich sicher gewesen, dass dies nur wegen ihrer Fremdheit geschah. Er hatte aber nicht zu protestieren vermocht und Jenny, die sich vor Schmerzen krümmte, wieder mit nach Hause genommen.
Dror Mishani erweist sich
auch in seinem zweiten Roman als überaus versierter, hoch
origineller Erzähler. Diesmal droht ihm allerdings mehrmals das im
Sinne eines ökonomischen Spannungsbogens notwendige Verhältnis
zwischen dem organischen Fortschreiten der Handlung und dem bewusst
inszenierten erzählerischen Vorenthalten wichtiger Fakten aus einem
für den Leser zumutbaren Gleichgewicht zu geraten. Im Falle von Avi
Avrahams detektivischem Streben nach Aufklärung des ihm übertragenen
Falles ist dies ohne Zweifel vollkommen legitim: die meisten
Kriminalromane funktionieren genau nach diesem Prinzip, dass
sämtliche Informationen, Fakten und Indizien vom ermittelnden
Detektiv erst über einen bestimmten Zeitraum zu einem vollständigen
Gesamtbild zusammengesetzt werden müssen. Dadurch ergibt sich
zwangsläufig ein Wissensdefizit, das der Leser mit dem Ermittler
teilt. Die von Chaim Sara selbst umrissene alternative Perspektive in
Mishanis Roman funktioniert jedoch für den Leser über einen nicht
unwesentlichen Teil der Lektüre nur, weil der Verdächtige in seinen
inneren Monologen stets nur das ausspricht, was wir als seine
Beweggründe im Rahmen seiner psychischen Disposition sowie seinen
spezifischen Lebensumständen durchaus billigend nachvollziehen und
sogar als logische Konsequenz aus seiner möglichen Tat werten
können, wie auch immer diese ausgesehen haben mag; das eigentliche
zurückliegende Verbrechen, das er möglicherweise begangen hat,
bleibt aber ebenso in Saras erzählerischem Off wie das von Avi
fälschlicherweise vermutete zukünftige.
Dror Mishani/Foto: Yanai Yechiel |
Auch in seinem zweiten
geistreich-spannenden Fall verbeißt sich der wackere Avi Avraham
intuitiv in einen höchst subjektiven, auf eine bestimmte Person
gerichteten Verdacht, den keiner seiner Kollegen mit ihm teilt.
Diesmal allerdings gelingt es ihm mit Hilfe seines kriminalistischen
Gespürs, einen Fall zu lösen, den niemand sonst innerhalb der
Polizeibehörden überhaupt als möglichen Fall wahrgenommen hatte.
Dass der verunsicherte Inspektor allerdings am Ende die meisten
Lorbeeren ausgerechnet für das scheinbar weitsichtige Verhindern
einer zukünftigen Tat einheimst, die vom vermuteten Täter überhaupt
nicht intendiert war, hebt Dror Mishanis durchdachten Plot weit über
das übliche Niveau eines gewöhnlichen Kriminalromans heraus. Auch
das gute psychologische Gespür des Schriftstellers für seine
Protagonisten und ihre Handlungsmotive sowie seine sensible,
empathische Weltsicht machen den Israeli ohne Zweifel zu einem der
interessantesten aktuellen Vertreter des zeitgenössischen
klassischen Kriminalromans, dem gerade angesichts des offenkundigen
aktuellen Desinteresses an israelischer Literatur auf dem deutschen
Buchmarkt (über das an anderer Stelle noch zu reden sein wird) viele
unbefangene Leser zu wünschen sind. Am Ende darf sein wortkarger
Ermittler nach einem Wechselbad der Gefühle und einer erneuten Reise
nach Brüssel erneut in eine fragile Idylle privaten Glücks
eintauchen. Man darf sich auf weitere Fälle des sympathischen
Anti-Helden freuen!
„Die Möglichkeit eines Verbrechens“, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, erschienen bei
Zsolnay, 336 Seiten, € 19,95