Wie
sehr ein homogen scheinendes Staatsgebilde im ungebremsten Streben
nach einer einheitlichen nationalen Identität zerfallen kann, zeigt
das Beispiel Jugoslawiens und seiner Nachfolgestaaten auf ebenso
aufschlussreiche wie verstörende Art und Weise. War der im Jahr 1918
neugegründete Staat Jugoslawien von Anfang an eine anspruchsvolle
politische Gratwanderung zwischen den höchst verschiedenartigen
Interessen seiner einzelnen Teilrepubliken, kam es nach dem Fall des
Kommunismus zu einer umfassenden kriegerischen Selbstzerfleischung,
deren vorläufige Klimax ohne Zweifel die Abspaltung des Kosovo von
Serbien darstellt. Dabei ist das Streben nach nationaler
Eigenständigkeit der betreffenden Staaten ohne deren geschichtlichen
Hintergrund als unmittelbar von einer Zentralmacht abhängige
und/oder tributpflichtige Vasallenstaaten am Schnittpunkt der
Machtinteressen von Osmanischem und Habsburgerreich für den
neutralen Beobachter kaum annähernd verständlich: es verkörpert
die verständliche Sehnsucht nach Selbstbestimmung und
Eigenständigkeit, die über einen Zeitraum von mehr als fünfhundert
Jahren in dieser Region kaum existiert hatte.
Wirtschaftlich hat seither
vor allem Kroatien mit seinen malerischen, touristisch attraktiven
Küstenregionen von seiner neugewonnenen nationalen Eigenständigkeit
profitiert, während Montenegro als vielversprechender Geheimtipp
zunehmend an Boden gewinnt. Insgesamt aber haben die kriegerischen
Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Staaten Ex-Jugoslawiens
ihrem jeweiligen Außenbild im Westen nachhaltig geschadet.
Insbesondere die florierende serbische Metropole Belgrad, die von
Kennern immer wieder für ihre (teils morbide) Schönheit, ihr
reiches Nachtleben und die weltoffene Lebenslust ihrer Bevölkerung
gepriesen wird, ist hierzulande bislang nur schwer als reizvolles
neues Reiseziel zu vermitteln – zu schwer wiegen offenbar die
alten, von statistischen Untersuchungen immer wieder bestätigten
traditionellen Vorurteile gegenüber der Bevölkerung des Balkan, die
von den kriegerischen Konflikten der 1990er Jahre eher noch weiter
verstärkt, wenigstens aber bestätigt worden zu sein scheinen.
Während sich Lydia auf
die Suche nach ihrer Bekannten machte, trat Milena näher an das Foto
heran. Hinter den Blumen war eine Ebene zu erkennen, wahrscheinlich
das Amselfeld, und bewaldete Hänge, wie sie typisch waren für das
Kosovo. Auf dem Amselfeld hatten die Serben vor mehr als sechshundert
Jahren die Schlacht gegen die Türken verloren, eine Niederlage, die
bis heute gefeiert und in alten Volksliedern besungen wurde. Bis
dahin waren im Kosovo der Sitz der serbisch-orthodoxen Kirche und das
politische Zentrum gewesen, daher sprach man vom Kosovo auch als der
„Wiege der serbischen Kultur“. Verheerend war, dass die Albander
genauso dachten, was ihre Identität und Kultur betraf, und sich als
Abkömmlinge der alten Illyrer bezeichneten, der Ureinwohner dieser
Region. Ein kleines Stück Land, kleiner als das deutsche Bundesland
Schleswig-Holstein, war mit so viel Geschichte und Mythen beladen,
und eine davon besagte, dass nur hier die Pfingstrose in solch
prächtigen Rottönen blühen würde, weil der Boden mit so viel Blut
getränkt ist.
Die beiden befreundeten
Schriftsteller und Sprachwissenschaftler Jelena Volić
aus Serbien und Christian Schünemann aus Deutschland haben
sich gemeinsam die lobenswerten Aufgabe gestellt, die erwähnten
Vorurteile wenigstens für ein neugieriges Lesepublikum mit den
vielfältigen literarischen Mitteln einer Krimiserie zu korrigieren.
Ihre kommerziell bisher allerdings noch mäßig erfolgreichen Romane
um die von ihrem deutschen Mann geschiedene, alleinerziehende
Belgrader Kriminologin Milena Lukin bieten allerdings nicht nur
intelligente und spannende Unterhaltung, sondern dienen gleichzeitig
auch als aussagekräftige Sozialstudien und als subtile Werbung für
die zu Unrecht unterschätzte serbische Metropole.
Belgrad/Foto: |
In ihrem nun erschienenen
zweiten Roman der Serie mit dem Titel „Pfingstrosenrot“
thematisiert das Autorenpaar ein bis heute ungeklärtes reales
Verbrechen, das im Juli 2012 vor allem die serbische Öffentlichkeit
erschütterte. Ein altes serbisches Ehepaar, das im Rahmen einer von
der EU offiziell geförderten politischen Vereinbarung zwischen
Serbien und der Regierung des Kosovo nach Talinovac im Kosovo
zurückgekehrt war, war mittels zweier Genickschüsse aus nächster
Nähe in seinem nahezu unbewohnbaren Haus regelrecht hingerichtet
worden. Wer begeht ein so sinnloses Verbrechen an zwei hilflosen
alten Menschen, die sich nichts anderes gewünscht haben als nach
einem von Armut, Krieg und Flucht geprägten Leben ihre letzten Jahre
in ihrer vertrauten Heimat zu verbringen? Alles scheint für
blindwütigen nationalistischen Hass als Tatmotiv zu sprechen – das
jedenfalls ist auch Milena Lukins erste Vermutung, besonders nachdem
die resolute Kriminologin bei ersten eigenmächtigen Ermittlungen
(vor denen sie von ihrem Partner eindringlich gewarnt worden war) im
Kosovo von einer entfesselten Menge beinahe gelyncht worden ist.
„Wo kommen Sie her?“,
fragte Milena?
„Kroatien. Operation
Sturm. Wir waren unter den 250.000, die damals weg sind. Was ich
sagen will: Wir waren alle noch klein, manche von uns vielleicht
gerade erst geboren. Trotzdem, ich kann Goran verstehen.“ Sie
machte die Augen schmal. „Und wenn ich mir vorstelle, die hätten
so etwas mit meinen Eltern gemacht – ich würde durchdrehen.
Ehrlich gesagt: Ich bete, dass Goran sie kriegt.“
„Wen?“, fragte
Milena.
„Die
Albaner-Schweine!“
„Ja, und dann?“
„Macht er sie kalt.
Was denn sonst?“ Sie zückte wieder ihren Block und wandte sich
lächelnd wieder einem der Gäste zu.
Nachdem sie aber die
ebenso ehrgeizige wie erfolgreiche Tochter der Ermordeten sowie deren
psychisch labilen, gewalttätigen Bruder und dessen langjährige
Freundin kennengelernt hat, besonders aber den für die komplizierten
Beziehungen zum Kosovo verantwortlichen Staatssekretär, beginnt sie
langsam zu argwöhnen, dass möglicherweise ganz rationale Motive in
diesem Mordfall eine viel entscheidendere Rolle spielen könnten und
sich die Entscheidungsträger der beiden verfeindeten Staaten, wenn
es um ihre ureigenen materiellen Interessen geht, womöglich sehr
viel besser verstehen als es der äußere Schein nahelegt. Mit Hilfe
ihres Gönners, des deutschen Botschafters, verschafft sich Milena
Lukin Zugang zu exklusiven Zirkeln des politischen Establishments und
stößt dabei auf eine bösartige Intrige, die selbst die Bürokratie
der Europäischen Union ins Zwielicht rückt. Als sie sich so tief in
den Fall hineinwühlt, dass sie ungewollt selbst in unmittelbare
Lebensgefahrgerät, kommt ihr wieder einmal auf unvorhergesehene Art
und Weise der Zufall zur Hilfe, diesmal in Gestalt ihrer eigenen
Mildtätigkeit: denn wenn eine alte gebrechliche Frau ihre schweren
Einkaufstaschen selbst schleppen muss, kann das die großherzige
Ermittlerin ebenso schwer ertragen wie die allgegenwärtige
politische Korruption, mit der sie sich auf Schritt und Tritt
konfrontiert sieht.
Jelena Volić und Christian Schünemann/Foto: Nathan Beck |
Während man im ersten Band der Reihe (in dem es vorrangig um serbische Kriegsverbrechen und
den Einfluss des Militärs auf die Politik ging) noch deutlich die
hohen Ambitionen der beiden Autoren und den Druck des ersten Romans
spüren konnte, haben sie im zweiten Band zu einer sehr viel
entspannteren Erzählhaltung gefunden, die der ganzen Atmosphäre des
Romans ausgesprochen gut bekommt. Die Charakterzeichnung der
einzelnen Personen, die Entwicklung ihrer persönlichen Motive sowie
die Beschreibung der unterschiedlichen Milieus ist sehr überzeugend
und der Leser hat den Eindruck, dass Milena Lukin nun vollends
angekommen ist in der internationalen Krimilandschaft. Diese vermag
sie mit ihrer authentischen Art, ihrer unverstellten
Mitmenschlichkeit und ihrer lebensbejahenden Liebe zum Guten und
Schönen (was gutes, deftiges Essen ausdrücklich mir einschließt)
ausgesprochen zu bereichern. Der besondere Reiz der Reihe besteht
aber eindeutig in der Erschließung eines neuen unverbrauchten
Schauplatzes, der den entgegengesetzten Weg geht wie die meisten
anderen vergleichbaren Krimiserien. Andrea Camilleri, Donna Leon oder
Martin Walker zeigen uns, dass auch an idyllischen Sehnsuchtsorten
des deutschen Lesers Verbrechen geschehen können. Jelena Volić
und Christian Schünemann beweisen jedoch, dass selbst ein Ort
mit schlechtem Image, dessen umfangreiche Probleme wie im Falle
Belgrads unbestritten sind, Ort eines süßen Lebens sein kann.
„Pfingstrosenrot“,
erschienen bei Diogenes, 356 Seiten, € 22,-