Wenn
man entgegen der am weitesten verbreiteten Auffassung unserer Zeit
geneigt ist, das weite Feld der Politik nicht etwa als lebensfremd
und realitätsfern, sondern vielmehr als nicht eben unbedeutenden
Teil des täglichen Lebens zu begreifen, dann kann die fast tausend
Seiten umfassende Autobiografie der berühmten amerikanischen
Anarchistin, Feministin und Friedensaktivistin Emma Goldman
(1869-1940) weit mehr als ein nostalgischer Gruß aus unendlich fern
scheinenden Zeiten sein, in denen das aus unserer Perspektive
geradezu rührend anmutende Berufsbild des professionsmäßigen
Revolutionärs nicht gerade selten war.
„Gelebtes
Leben“ („Living My Life“, 1931) ist in der Tat ein äußerst
treffender Titel für ein in dieser Ausgabe um ein erstmals
übersetztes Nachwort der Autorin und einen erhellenden einleitenden
Essay von Ilija Trojanow ergänztes lebenspralles Werk, das vor allem
leidenschaftlicher Ausdruck der hellwachen, allaufmerksamen
Betroffenheit sowie des unermüdlich-vitalen gesellschaftlichen und
politischen Engagements seiner Autorin ist, aber auch Zeugnis ihrer
tief empfundenen Liebe zum Leben als allumfassendem Kampf für die
Befreiung des Individuums von jeglichen es in seiner persönlichen
Entwicklung einschränkenden Faktoren.
Mein
Leben, so wie ich es gelebt habe, verdanke ich allen, die
hineingekommen sind, kurze oder lange Zeit verweilten und es wieder
verließen. Ihre Liebe, ebenso wie ihr Hass, haben es lebenswert
gemacht.
Die im
heutigen litauischen Kaunas geborene Tochter eines jüdischen
Theaterdirektors war von frühester Jugend an geprägt vom Elend der
russischen Arbeiterklasse, mit revolutionärem und anarchistischem
Gedankengut kam sie bereits vor ihrer im Alter von siebzehn Jahren
erfolgten Emigration nach Amerika als junge Fabrikarbeiterin in Sankt
Petersburg in Berührung. Die Arbeitsbedingungen in den USA
bestärkten sie in ihren radikalen politischen Ansichten und nach
ihrer Flucht aus einer unglücklichen Ehe in die aufkommende
Metropole New York entwickelte sie sich durch die persönliche
Bekanntschaft mit wichtigen amerikanischen Vordenkern der
anarchistischen Bewegung wie Johann Most und ihrem langjährigen
Geliebten und lebenslangen engen Freund Alexander Berkman alsbald
selbst zu einer der Schlüsselfiguren der radikalen amerikanischen
Arbeiterbewegung.
Ihre
langjährige feste Auffassung, dass politisch motivierte Gewalt
einschließlich Mordes als wichtiges Mittel zur Herbeiführung
gesellschaftlichen Wandels anzusehen sei, modifizierte sie erst nach
ihrer Ausbürgerung und Deportation nach Russland durch die USA im
Jahr 1919 angesichts des für sie vollkommen desillusionierenden
hautnahen Erlebnisses der Folgen der russischen Oktoberrevolution:
die unweigerlich in Staatsterror mündende Entwicklung der noch
jungen Sowjetunion sah sie bereits in den zwei Jahren ihres dortigen
Aufenthalts, also lange vor Stalin voraus und vertrat von nun an die
Ansicht, dass Gewalt lediglich als Mittel der Verteidigung im
revolutionären Kampf als legitim anzusehen sei, jedoch nie zum
eigentlichen Prinzip erhoben werden dürfe, da solcher
institutionalisierter Terrorismus letztlich konterrevolutionär
wirke.
Mein
Leben – ich hatte es gelebt mit seinen Höhen und Tiefen, in
bitterer Trübsal und jauchzender Freude, in schwarzer Verzweiflung
und fiebernder Hoffnung. Ich hatte den Kelch bis zum letzten Tropfen
geleert. Ich hatte mein Leben gelebt. Würde ich die Gabe haben,
dieses mein Leben zu schildern?
Eine
der hervorstechendsten Qualitäten von Emma Goldmans Memoiren ist die
Tatsache, dass sie die Gefahren und Fehlentwicklungen des
historischen Anarchismus zu keiner Zeit beschönigt und uns als Leser
die einmalige Gelegenheit gibt, ihre persönliche und politische
Entwicklung aus erster Hand miterleben zu dürfen. Neben ihren
politischen Kämpfen erhalten wir auch erstaunlich offenen Einblick
in ihr von dem Prinzip der „freien Liebe“ geprägtes Sexualleben
und erleben eine faszinierende, kostbare, absolut wegweisende
Frauenpersönlichkeit von außergewöhnlicher Strahlkraft, über die
Ilija Trojanow in seinem Vorwort, Albert Einstein absichtlich falsch
zitierend, vollkommen zu Recht sagt: „Zukünftige Generationen
werden kaum glauben können, dass ein Mensch wie sie jemals auf Erden
gewandelt ist.“
„Gelebtes Leben“, aus dem Englischen von Marlen Breitinger, Renate Orywa und
Sabine Vetter, erschienen bei Edition Nautilus, 927 Seiten, € 24,90
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