Jerusalem

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Freitag, 12. September 2014

„Auf der richtigen Seite“ von William Sutcliffe

Als sein wertvoller Lederfußball im Spiel über einen stark befestigten Bauzaun fliegt, der innerhalb der Siedlung als absolute No-go-Area gilt, lässt sich der dreizehnjährige Joshua auch von der offensichtlichen Panik seines gleichaltrigen Freundes nicht davon abhalten, in der beginnenden Abenddämmerung heimlich über die mehrere Meter hohe, massive Absperrung in das dahinter liegende verlassene Areal zu klettern, um sein heissgeliebtes Spielgerät zurückzuerlangen. Jenseits der Absperrung findet er einige nur wenige Jahre alte Mauerreste und einen von schweren Maschinen planierten, offenbar ehemals blühenden Garten. Und durch einen ungewöhnlichen Lichtblitz, der, wie er bald feststellt, von einer in spontanem Schrecken fallen gelassenen brennenden Taschenlampe herrührt, wird er auf den in den Ruinen verborgenen Eingang zu einem gut befestigten mannsengen Schacht aufmerksam, der mehrere Meter senkrecht in die Erde führt.



William Sutcliffes hoch intelligenter, ungewöhnlich handlungsreicher und absolut packender Jugendroman „Auf der richtigen Seite“ über eine verlorene Jugend in einer fiktiven, mit militärischen Mitteln gesicherten jüdischen Siedlung in der Westbank bedient sich eines durchaus zulässigen literarischen Tricks, um unsere unvoreingenommene Aufmerksamkeit zu erlangen: sein ebenso ernsthafter wie aufgeweckter junger Protagonist entspricht nicht annähernd dem Bild, das wir uns nicht ganz zu Unrecht gemeinhin von einem Jugendlichen zu machen pflegen, der innerhalb der radikalen, nationalistisch-verzerrten Weltanschauung der israelischen Siedlungsbewegung aufgewachsen ist, sondern scheint die liberalen Grundsätze des westeuropäischen Pluralismus intuitiv voll und ganz zu teilen. Aus diesem Grund vermag Joshua seinem natürlichen kindlichen Entdeckerdrang keinerlei ideologische Glaubenssätze oder sonstige Vorbehalte entegenzusetzen und gelangt durch den engen Schacht direkt in einen schmalen Tunnel, der ihn mit Hilfe der Taschenlampe direkt auf die andere Seite der Mauer führt, die bevölkerungsreiche Kerngebiete Israels seit 2003 von den palästinensischen Gebieten trennt.

David ist mein bester Freund in Amarias, aber er nervt total. Amarias ist ein seltsamer Ort. Würde ich an einem normalen Ort leben, wäre David bestimmt nicht mein Freund. [...] Ich sehe ihm hinterher. Sogar seine Art zu gehen nervt mich – er watschelt, als wären seine Schuhe aus Blei. Er will mal Kampfpilot werden; ich glaube allerdings, er kann niemals eine Maschine bedienen, die komplizierter ist als eine Fahradpumpe, so ungeschickt, wie er sich anstellt.

Es ist William Sutcliffe absolut hoch anzurechnen, dass er nicht der durchaus naheliegenden Versuchung erlegen ist, seine spannende Geschichte als abstrakten Science Fiction mit lediglich verschlüsselten Bezügen zur aktuellen Wirklichkeit des israelisch-palästinensischen Konflikts zu inszenieren, sondern dass er stattdessen eine konkret denkbare Handlung innerhalb des festen Rahmens jener Möglichkeiten entworfen hat, die die schmerzvollen Grenzen der Realität seinem literarischen und politischen Anliegen setzen. Im überaus reichen, versteckten Gehalt der metaphorischen Ebene entspricht die Handlung seines Romans überraschenderweise einer modernen Froschkönig-Geschichte, in deren Verlauf der jugendliche Protagonist die von der israelischen Mehrheitsgesellschaft verdrängte „andere Seite“ der unterdrückten Palästinenser zu integrieren lernt, um im Sinne einer gelungenen Individuation auf die „richtige Seite“ seines Selbst zu gelangen.


Fuck the wall/Die Mauer in Bethlehem

Am Ausgang des Tunnels stolpert Joshua direkt in die verwinkelten Gassen einer unübersichtlich strukturierten, ärmlichen palästinensischen Stadt, wo er von einer Meute hasserfüllter Jugendlicher sofort als offensichtlicher Fremdkörper erkannt und in spontaner, unbegreiflicher Mordlust bis zur Erschöpfung durch das labyrinthisch-verzweigte Viertel gejagt wird. Ein gleichaltriges Mädchen rettet ihn, indem es ihn in ihr Elternhaus einlässt und die Verfolger in eine falsche Richtung schickt. Der Weg zurück nach Hause gelingt schließlich unter Führung des Mädchens in traditioneller arabischer Kleidung. Trotz seiner offensichtlichen und kaum zu leugnenden Verletzungen verschweigt Joshua seinen lebensgefährlichen Ausflug vor seinen Angehörigen, da er die unversöhnliche Haltung seines verhassten, fanatischen Stiefvaters kennt, der seine Mutter und ihn nach dem gewaltsamen Tod seines leiblichen Vaters während dessen Reservediensts in die isolierte israelische Siedlung „verschleppt“ hat.

Manchmal, wenn ich mir die Soldaten angucke“, sagt er, „kann ich es kaum erwarten. [...] Bis wir endlich dran sind. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlen wird? Die Uniform tragen. Ein Gewehr. Und dann gehst du auf die andere Seite, und alle Leute haben Angst vor dir und tun alles, was du ihnen sagst.“ - Ich wende mich ab. Ich kann es mir nicht vorstellen. Selbst wenn ich versuche, mir ein Bild davon zu machen, dann schaffe ich es nicht, es realistisch aussehen zu lassen. Das erste Gesicht, das mir einfällt, ist das des Mädchens. Und als das Bild in meinem Kopf klarer wird und ich sie vor einem Maschinengewehr sehe – vor meinem Maschinengewehr –, zerstört es David mit seiner aufgeregten Quikstimme: „Und wenn irgendwer dich ärgert oder nicht tut, was du sagst...“ Er wirft mir den Fußball zu, reißt sich das eingebildete Gewehr von der Schulter und feuert drei unsichtbare Schüsse ab. „Duff! Duff! Duff!“

Die intensive persönliche Begegnung mit der anderen Seite beginnt Joshua inzwischen nachhaltig zu verändern: sein zum überstürzten Abschied dem hilfreichen Mädchen – Leila! – gegebenes Versprechen, sich bei ihr mit Lebensmitteln für die unverhoffte Rettung zu bedanken, lässt ihn nicht mehr los. Während sich die häusliche Situation im Verhätnis zu seiner Mutter und seinem Stiefvater aufgrund seines offensichtlichen Schweigens und seiner vermeintlichen Unzuverlässigkeit in zermürbenden Auseinandersetzungen stetig verschärft, reift in ihm der heimliche Plan, noch ein einziges Mal in die Westbank zurückzukehren, um der palästinensischen Familie die bitter entbehrten Grundnahrungsmittel zu bringen. Dieser in höchstem Maße riskante Besuch verläuft zwar noch dramatischer und verhängnisvoller als der erste, doch als Joshua schließlich nach Hause zurückkehrt, besitzt er ganz unverhofft eine neue Aufgabe, der er sich nach wochenlangem Hausarrest schließlich mit leidenschaftlicher Begeisterung widmen kann, nämlich der liebevollen Pflege des isoliert auf israelischer Seite liegenden Olivenhains von Leilas Familie, für das diese nur einmal im Monat einen Passierschein besitzt.


Als eines Tages Joshuas Stiefvater dessen prächtig heranwachsendes, zukunftsweisendes Geheimnis herausfindet und ihn mit brutaler körperlicher Gewalt zur Rede stellt, setzt er damit blindwütig eine verhängnisvolle Kettenreaktion in Gang, an deren Ende den Jugendlichen eine schreckliche kathartische Erfahrung erwartet, die sein eigenes Leben sowie das seiner Angehörigen für immer verändern wird. Dem Briten William Sutcliffe ist aus der nützlichen Perspektive des Außenseiters die vermutlich packendste Schilderung der gegenwärtigen Lage in den israelisch-besetzten Gebieten gelungen, die es bislang gegeben hat. Dabei erweist es sich als großer Vorteil, dass der Autor nicht intensiver als notwendig auf die historischen und politischen Hintergründe eingeht, die die beklagenswerte Situation ausgelöst haben, sondern stattdessen unmittelbar die untragbaren Lebensumstände vor Ort für den Leser identifizierbar macht, welche es zu bereinigen gilt. Gleichzeitig erzählt das Buch, losgelöst von seinem konkreten, real existierenden Bezugsrahmen, auch eine wunderbar-optimistische Geschichte einer ganz persönlichen, individuellen Befreiung, die uns unmissverständlich aufzeigt, wie der Einzelne durch eine mutige, offene Auseinandersetzung selbst noch mit den widrigsten äußeren Umständen dennoch zu großem inneren Frieden zu gelangen vermag: Denn nur dann ist er auf der richtigen Seite.

„Auf der richtigen Seite“, aus dem Englischen von Christiane Steen, erschienen bei Rowohlt Rotfuchs, 349 Seiten, € 16,99

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