Als sein wertvoller
Lederfußball im Spiel über einen stark befestigten Bauzaun fliegt,
der innerhalb der Siedlung als absolute No-go-Area gilt, lässt sich
der dreizehnjährige Joshua auch von der offensichtlichen Panik
seines gleichaltrigen Freundes nicht davon abhalten, in der
beginnenden Abenddämmerung heimlich über die mehrere Meter hohe,
massive Absperrung in das dahinter liegende verlassene Areal zu
klettern, um sein heissgeliebtes Spielgerät zurückzuerlangen.
Jenseits der Absperrung findet er einige nur wenige Jahre alte
Mauerreste und einen von schweren Maschinen planierten, offenbar
ehemals blühenden Garten. Und durch einen ungewöhnlichen
Lichtblitz, der, wie er bald feststellt, von einer in spontanem
Schrecken fallen gelassenen brennenden Taschenlampe herrührt, wird
er auf den in den Ruinen verborgenen Eingang zu einem gut befestigten
mannsengen Schacht aufmerksam, der mehrere Meter senkrecht in die
Erde führt.
William Sutcliffes hoch
intelligenter, ungewöhnlich handlungsreicher und absolut packender
Jugendroman „Auf der richtigen Seite“ über eine verlorene Jugend
in einer fiktiven, mit militärischen Mitteln gesicherten jüdischen
Siedlung in der Westbank bedient sich eines durchaus zulässigen
literarischen Tricks, um unsere unvoreingenommene Aufmerksamkeit zu
erlangen: sein ebenso ernsthafter wie aufgeweckter junger Protagonist
entspricht nicht annähernd dem Bild, das wir uns nicht ganz zu
Unrecht gemeinhin von einem Jugendlichen zu machen pflegen, der
innerhalb der radikalen, nationalistisch-verzerrten Weltanschauung
der israelischen Siedlungsbewegung aufgewachsen ist, sondern scheint
die liberalen Grundsätze des westeuropäischen Pluralismus intuitiv
voll und ganz zu teilen. Aus diesem Grund vermag Joshua seinem
natürlichen kindlichen Entdeckerdrang keinerlei ideologische
Glaubenssätze oder sonstige Vorbehalte entegenzusetzen und gelangt
durch den engen Schacht direkt in einen schmalen Tunnel, der ihn mit
Hilfe der Taschenlampe direkt auf die andere Seite der Mauer führt,
die bevölkerungsreiche Kerngebiete Israels seit 2003 von den
palästinensischen Gebieten trennt.
David ist mein bester
Freund in Amarias, aber er nervt total. Amarias ist ein seltsamer
Ort. Würde ich an einem normalen Ort leben, wäre David bestimmt
nicht mein Freund. [...] Ich sehe ihm hinterher. Sogar seine Art zu
gehen nervt mich – er watschelt, als wären seine Schuhe aus Blei.
Er will mal Kampfpilot werden; ich glaube allerdings, er kann niemals
eine Maschine bedienen, die komplizierter ist als eine Fahradpumpe,
so ungeschickt, wie er sich anstellt.
Es ist William Sutcliffe
absolut hoch anzurechnen, dass er nicht der durchaus naheliegenden
Versuchung erlegen ist, seine spannende Geschichte als abstrakten
Science Fiction mit lediglich verschlüsselten Bezügen zur aktuellen
Wirklichkeit des israelisch-palästinensischen Konflikts zu
inszenieren, sondern dass er stattdessen eine konkret denkbare
Handlung innerhalb des festen Rahmens jener Möglichkeiten entworfen
hat, die die schmerzvollen Grenzen der Realität seinem literarischen
und politischen Anliegen setzen. Im überaus reichen, versteckten
Gehalt der metaphorischen Ebene entspricht die Handlung seines Romans
überraschenderweise einer modernen Froschkönig-Geschichte, in deren
Verlauf der jugendliche Protagonist die von der israelischen
Mehrheitsgesellschaft verdrängte „andere Seite“ der
unterdrückten Palästinenser zu integrieren lernt, um im Sinne einer
gelungenen Individuation auf die „richtige Seite“ seines Selbst
zu gelangen.
Fuck the wall/Die Mauer in Bethlehem |
Am Ausgang des Tunnels
stolpert Joshua direkt in die verwinkelten Gassen einer
unübersichtlich strukturierten, ärmlichen palästinensischen Stadt,
wo er von einer Meute hasserfüllter Jugendlicher sofort als
offensichtlicher Fremdkörper erkannt und in spontaner,
unbegreiflicher Mordlust bis zur Erschöpfung durch das
labyrinthisch-verzweigte Viertel gejagt wird. Ein gleichaltriges
Mädchen rettet ihn, indem es ihn in ihr Elternhaus einlässt und die
Verfolger in eine falsche Richtung schickt. Der Weg zurück nach
Hause gelingt schließlich unter Führung des Mädchens in
traditioneller arabischer Kleidung. Trotz seiner offensichtlichen und
kaum zu leugnenden Verletzungen verschweigt Joshua seinen
lebensgefährlichen Ausflug vor seinen Angehörigen, da er die
unversöhnliche Haltung seines verhassten, fanatischen Stiefvaters
kennt, der seine Mutter und ihn nach dem gewaltsamen Tod seines
leiblichen Vaters während dessen Reservediensts in die isolierte
israelische Siedlung „verschleppt“ hat.
„Manchmal, wenn ich
mir die Soldaten angucke“, sagt er, „kann ich es kaum erwarten.
[...] Bis wir endlich dran sind. Kannst du dir vorstellen, wie sich
das anfühlen wird? Die Uniform tragen. Ein Gewehr. Und dann gehst du
auf die andere Seite, und alle Leute haben Angst vor dir und tun
alles, was du ihnen sagst.“ - Ich wende mich ab. Ich kann es mir
nicht vorstellen. Selbst wenn ich versuche, mir ein Bild davon zu
machen, dann schaffe ich es nicht, es realistisch aussehen zu lassen.
Das erste Gesicht, das mir einfällt, ist das des Mädchens. Und als
das Bild in meinem Kopf klarer wird und ich sie vor einem
Maschinengewehr sehe – vor meinem Maschinengewehr –, zerstört es
David mit seiner aufgeregten Quikstimme: „Und wenn irgendwer dich
ärgert oder nicht tut, was du sagst...“ Er wirft mir den Fußball
zu, reißt sich das eingebildete Gewehr von der Schulter und feuert
drei unsichtbare Schüsse ab. „Duff! Duff! Duff!“
Die intensive persönliche
Begegnung mit der anderen Seite beginnt Joshua inzwischen nachhaltig
zu verändern: sein zum überstürzten Abschied dem hilfreichen
Mädchen – Leila! – gegebenes Versprechen, sich bei ihr mit
Lebensmitteln für die unverhoffte Rettung zu bedanken, lässt ihn
nicht mehr los. Während sich die häusliche Situation im Verhätnis
zu seiner Mutter und seinem Stiefvater aufgrund seines
offensichtlichen Schweigens und seiner vermeintlichen
Unzuverlässigkeit in zermürbenden Auseinandersetzungen stetig
verschärft, reift in ihm der heimliche Plan, noch ein einziges Mal
in die Westbank zurückzukehren, um der palästinensischen Familie
die bitter entbehrten Grundnahrungsmittel zu bringen. Dieser in
höchstem Maße riskante Besuch verläuft zwar noch dramatischer und
verhängnisvoller als der erste, doch als Joshua schließlich nach
Hause zurückkehrt, besitzt er ganz unverhofft eine neue Aufgabe, der
er sich nach wochenlangem Hausarrest schließlich mit
leidenschaftlicher Begeisterung widmen kann, nämlich der liebevollen
Pflege des isoliert auf israelischer Seite liegenden Olivenhains von
Leilas Familie, für das diese nur einmal im Monat einen
Passierschein besitzt.
Als eines Tages Joshuas
Stiefvater dessen prächtig heranwachsendes, zukunftsweisendes
Geheimnis herausfindet und ihn mit brutaler körperlicher Gewalt zur
Rede stellt, setzt er damit blindwütig eine verhängnisvolle
Kettenreaktion in Gang, an deren Ende den Jugendlichen eine
schreckliche kathartische Erfahrung erwartet, die sein eigenes Leben
sowie das seiner Angehörigen für immer verändern wird. Dem Briten
William Sutcliffe ist aus der nützlichen Perspektive des
Außenseiters die vermutlich packendste Schilderung der gegenwärtigen
Lage in den israelisch-besetzten Gebieten gelungen, die es bislang
gegeben hat. Dabei erweist es sich als großer Vorteil, dass der
Autor nicht intensiver als notwendig auf die historischen und
politischen Hintergründe eingeht, die die beklagenswerte Situation
ausgelöst haben, sondern stattdessen unmittelbar die untragbaren
Lebensumstände vor Ort für den Leser identifizierbar macht, welche
es zu bereinigen gilt. Gleichzeitig erzählt das Buch, losgelöst von
seinem konkreten, real existierenden Bezugsrahmen, auch eine
wunderbar-optimistische Geschichte einer ganz persönlichen,
individuellen Befreiung, die uns unmissverständlich aufzeigt, wie
der Einzelne durch eine mutige, offene Auseinandersetzung selbst noch
mit den widrigsten äußeren Umständen dennoch zu großem inneren
Frieden zu gelangen vermag: Denn nur dann ist er auf der richtigen
Seite.
„Auf der richtigen Seite“, aus dem Englischen von Christiane Steen, erschienen bei
Rowohlt Rotfuchs, 349 Seiten, € 16,99
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