Jerusalem

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Montag, 29. September 2014

„Die Bäume spielen Wald“ von Tadeusz Dąbrowski

Es hat lange keine so gegenwärtige Lyrik gegeben wie die ebenso eingängigen wie eigentümlichen Verse des jungen polnischen Dichters Tadeusz Dąbrowski (geboren 1979), die in ihrer einmaligen poetischen Aussagekraft, Unmittelbarkeit und Prägnanz dem Leser sofort unvergesslich bleiben müssen, sobald er einmal das große, unverhoffte Glück gehabt hat, ihnen begegnen zu dürfen. Wenn der ebenso weltenumspannende wie missverständliche Begriff der Spiritualität nicht durch oberflächliche esoterische Trends in unserer Gesellschaft so dauerhaft negativ besetzt wäre, müsste man Dąbrowskis Verse als überaus geglückten, vollkommen neuartigen Versuch über eine poetisch gereinigte, in höchstem Maße zugängliche weltliche Religiosität bezeichnen.




Dabei kann dem weltoffen-gegenwärtigen Dichter ganz offensichtlich kaum etwas ferner liegen als eine Art neuer Kirche der Poesie zu schaffen. Wenn es in seiner Dichtung überhaupt einen nennenswerten Anklang an religiöse Traditionen im landläufigen Sinne gibt, ist es vielleicht eine vage Ahnung von der Verfolgung des nicht-institutionellen frühen Christentums, die in Dąbrowskis bemerkenswerter, weil durchaus nicht unversöhnlicher, wenig radikaler konsum- und obrigkeitskritischer Grundhaltung deutlich wird, die nahezu allen seiner Verse den unverkennbaren Anstrich eines vieldeutig-anspielungsreichen, ironisch-distanzierten Schreibens aus dem dunklen Herzen eines ungreifbaren, aber unverkennbaren allgegenwärigen Totalitarismus zu verleihen scheint.



Der Lebende versteht den Toten nicht der Tote versteht
den Lebenden und sein Unverständnis.

Der Lebende glaubt so sehr nicht an den Himmel dass wenn
man ihm anböte ewig im Sessel zu sitzen

gezwungen auf einen Bildschirm zu starren aus dem
er auf sich den Schauenden schauen würde – er wäre

dabei. Oder wenn der Himmel klein sein sollte aber
gewiss wie der Sarg auch dann wäre er einverstanden. Wenn

der Tote dem Lebenden erzählen wollte
wie es wirklich ist müsste er

schweigen.




Gerade vor diesem duldend-pessimistischen Hintergrund eines oftmals übermächtig werdenden Gefühls einer von keiner der beiden Seiten gewollten, systemimmanenten Unterdrückung der individuellen Persönlichkeit, das der Dichter ohne jeden Zweifel mit vielen Menschen in der westlichen Welt teilt, stellt er in seinen Werken immer wieder auf originelle, weltoffene Art und Weise die überaus drängende ewig junge, aber von jeder Generation neu zu stellende Frage, wie der Einzelne nicht nur seine Individualität und sein Verlangen nach Glück im Rahmen seiner persönlichen Interessen, Möglichkeiten und Talente bestmöglich auszuleben vermag, sondern diese idealerweise auch nachhaltig und auf von ihm ebenso wie von seinen Mitmenschen objektiv erfahrbare und nachprüfbare Art und Weise mit Sinn erfüllen kann.




1.
Dichtung ist
wenn du's spürst

dieses
Etwas

spürst du's?

2.
(wenn nicht
lies das Gedicht
noch mal)





Ein Zustand radikaler, weltoffener Gegenwärtigkeit mit allen Sinnen ist zweifellos eine der besten und erfolgversprechendsten Geisteshaltungen, um sich den vielfältigen Erfordernissen des Alltags zu stellen. Tadeusz Dąbrowski gelingt es auf ebenso unaufdringliche wie humorvolle Art und Weise, vor allem jene guten und kostbaren Dinge in unserem Leben zu benennen, die es wert sind, dass wir ihre unter den Umständen verborgene Poesie und Sinnhaftigkeit wieder zu erkennen vermögen. Dabei bringt er mitunter sogar den erheblichen Mut auf, (der ihn auch angreifbar macht,) seine Leser mit einer bestimmten Erkenntnis emotional zu überwältigen oder gar zum reinigenden Weinen zu bringen, was insbesondere innerhalb der deutschen Dichtung seit der Befreiung vom Nationalsozialismus und dessen absurder ästhetischer Bevormundung von der selbsterklärten deutschen Lyrikpolizei zum strengstens verbotenen Terrain erklärt wurde, worunter die Rezeption dieser literarischen Gattung in Deutschland bis heute leidet.



Ein Glas Milch. Ein leeres Glas Milch. Worin unterscheidet es sich
von einem leeren Glas Wasser, von einem leeren Glas Luft?

Es gibt Stillen: eine männliche, eine weibliche und eine neutrale.
Die Stille vor dem Sturm und die Stille nach dem Sturm. In der
Nacht

höre ich, wie im Garten Äpfel fallen. Dieses Geräusch,
stockdumpf, ist die Stille nach dem Geräusch, an dem

sie hingen. Ist der leere Himmel nicht schön? Wir ziehen ein
in die Stille bis über beide Ohren, in die eustachische Röhre.



Die Emotion kann aber als Werkzeug der Erkenntnis auch heute noch ein praktikables und hochwirksames Mittel genuiner Dichtung sein, wenn sie sich damit nicht in den zweifelhaften Dienst einer politischen Ideologie stellt, sondern allein die überaus wünschenswerte intellektuelle und emotionale Reinigung und Befreiung des menschlichen Individuums im Sinne hat. Tadeusz Dąbrowski begnügt sich aber nicht damit, allein das „Gute“ zu benennen, sondern findet auch deutliche und klare Worte für jene ungünstigen strukturellen Erscheinungsformen und subjektiven Einzelphänomene, die diesem wünschenswerten, gleichsam natürlichen Begehren entgegenwirken. Dabei findet er in insbesondere auch in den speziellen Objekten und Ereignissen der Gegenwart immer wieder überaus treffende Metaphern, wodurch er diese explizit milde-billigend anerkennt und sich damit deutlich von einem möglichen Rückzug in eine trügerische poetische Idylle distanziert.



[...] hier, in der Hälfte des Lebens – denn du bist immer
in der Hälfte – hörst du plötzlich, wie die Preise einfrieren,
wie Kühlschränken und Obdachlosen der Bauch zu knurren aufhört,
wie Tumore und Politiker keine Lust mehr haben, das Offensichtliche
zu vermehren, die Toten fürchten nicht um ihren Kontostand
in der Schlange an der Kasse, die Tattoos explodieren am Himmel,
der sein blindes Auge zudrückt beim Unfug
der Wolken und der Teenies im Wohnheim, die Kugel
des Attentäters hängt in der Luft und ist noch nicht
tödlich, der Gedanke erstarrt zwischen den Synapsen. Da erscheint
die Poesie und drängt den Hirsch zur Flucht. [...]
Niemand hat sie gesehen. Doch ohne sie ist nichts
gemacht,
was gemacht ist.




Trotz seiner charakteristischen weltlichen Spiritualität, die seine Verse für den unvoreingenommenen Leser so attraktiv und unverwechselbar machen, bleibt bei Tadeusz Dąbrowski das Private und Persönliche auf ebenso anschauliche wie entschiedene Art und Weise immer auch untrennbar verbunden mit dem dezidiert Politischen. Mit seiner hochgradigen künstlerischen Originalität, seinem selbst in der klangvollen Übersetzung von Renate Schmidgall noch unverkennbaren individuellen Ton und seiner unmittelbaren Zugänglichkeit hat der Dichter eine aufregend zeitlose neuartige Lyrik für eine neue Generation von Lesern geschaffen. Die nun vorliegende Auswahl im Rahmen der verdienstvollen Edition Lyrik Kabinett bei Hanser bietet die denkbar beste Möglichkeit, die hervorragende, unabhängige Stimme Dąbrowskis zu entdecken. Eine politischere Dichtung als jene, die keine Grenze zieht zwischen den unterschiedlichen Sphären des Öffentlichen und des Privaten und die Gegenwart zum einzig erstrebenswerten Lebensraum macht, ist kaum denkbar.



Die Bäume spielen Wald“, aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, erschienen bei Hanser, 102 Seiten, € 15,90

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