Es hat
lange keine so gegenwärtige Lyrik gegeben wie die ebenso eingängigen
wie eigentümlichen Verse des jungen polnischen Dichters Tadeusz
Dąbrowski (geboren 1979),
die in ihrer einmaligen poetischen Aussagekraft, Unmittelbarkeit und
Prägnanz dem Leser sofort unvergesslich bleiben müssen, sobald er
einmal das große, unverhoffte Glück gehabt hat, ihnen begegnen zu
dürfen. Wenn der ebenso weltenumspannende wie missverständliche
Begriff der Spiritualität nicht durch oberflächliche esoterische
Trends in unserer Gesellschaft so dauerhaft negativ besetzt wäre,
müsste man Dąbrowskis Verse als
überaus geglückten, vollkommen neuartigen Versuch über eine
poetisch gereinigte, in höchstem Maße zugängliche weltliche
Religiosität bezeichnen.
Dabei
kann dem weltoffen-gegenwärtigen Dichter ganz offensichtlich kaum
etwas ferner liegen als eine Art neuer Kirche der Poesie zu schaffen.
Wenn es in seiner Dichtung überhaupt einen nennenswerten Anklang an
religiöse Traditionen im landläufigen Sinne gibt, ist es vielleicht
eine vage Ahnung von der Verfolgung des nicht-institutionellen frühen
Christentums, die in Dąbrowskis bemerkenswerter, weil durchaus nicht
unversöhnlicher, wenig radikaler konsum- und obrigkeitskritischer
Grundhaltung deutlich wird, die nahezu allen seiner Verse den
unverkennbaren Anstrich eines vieldeutig-anspielungsreichen,
ironisch-distanzierten Schreibens aus dem dunklen Herzen eines
ungreifbaren, aber unverkennbaren allgegenwärigen Totalitarismus zu
verleihen scheint.
Der Lebende versteht den Toten
nicht der Tote versteht
den Lebenden und sein
Unverständnis.
Der Lebende glaubt so sehr
nicht an den Himmel dass wenn
man ihm anböte ewig im Sessel
zu sitzen
gezwungen auf einen Bildschirm
zu starren aus dem
er auf sich den Schauenden
schauen würde – er wäre
dabei. Oder wenn der Himmel
klein sein sollte aber
gewiss wie der Sarg auch dann
wäre er einverstanden. Wenn
der Tote dem Lebenden erzählen
wollte
wie es wirklich ist müsste er
schweigen.
Gerade
vor diesem duldend-pessimistischen Hintergrund eines oftmals
übermächtig werdenden Gefühls einer von keiner der beiden Seiten
gewollten, systemimmanenten Unterdrückung der individuellen
Persönlichkeit, das der Dichter ohne jeden Zweifel mit vielen
Menschen in der westlichen Welt teilt, stellt er in seinen Werken
immer wieder auf originelle, weltoffene Art und Weise die überaus
drängende ewig junge, aber von jeder Generation neu zu stellende
Frage, wie der Einzelne nicht nur seine Individualität und sein
Verlangen nach Glück im Rahmen seiner persönlichen Interessen,
Möglichkeiten und Talente bestmöglich auszuleben vermag, sondern
diese idealerweise auch nachhaltig und auf von ihm ebenso wie von
seinen Mitmenschen objektiv erfahrbare und nachprüfbare Art und
Weise mit Sinn erfüllen kann.
1.
Dichtung ist
wenn du's spürst
dieses
Etwas
spürst du's?
2.
(wenn nicht
lies das Gedicht
noch mal)
Ein
Zustand radikaler, weltoffener Gegenwärtigkeit mit allen Sinnen ist
zweifellos eine der besten und erfolgversprechendsten
Geisteshaltungen, um sich den vielfältigen Erfordernissen des
Alltags zu stellen. Tadeusz Dąbrowski gelingt es auf ebenso
unaufdringliche wie humorvolle Art und Weise, vor
allem jene guten und kostbaren Dinge in unserem Leben zu benennen, die es
wert sind, dass wir ihre unter den Umständen verborgene Poesie und
Sinnhaftigkeit wieder zu erkennen vermögen. Dabei bringt er mitunter sogar den erheblichen Mut auf, (der ihn auch angreifbar macht,) seine Leser mit
einer bestimmten Erkenntnis emotional zu überwältigen oder
gar zum reinigenden Weinen zu bringen, was insbesondere innerhalb der
deutschen Dichtung seit der Befreiung vom Nationalsozialismus und
dessen absurder ästhetischer Bevormundung von der selbsterklärten deutschen
Lyrikpolizei zum strengstens verbotenen Terrain erklärt wurde,
worunter die Rezeption dieser literarischen Gattung in Deutschland
bis heute leidet.
Ein Glas Milch. Ein leeres
Glas Milch. Worin unterscheidet es sich
von einem leeren Glas Wasser,
von einem leeren Glas Luft?
Es gibt Stillen: eine
männliche, eine weibliche und eine neutrale.
Die Stille vor dem Sturm und
die Stille nach dem Sturm. In der
Nacht
höre ich, wie im Garten Äpfel
fallen. Dieses Geräusch,
stockdumpf, ist die Stille
nach dem Geräusch, an dem
sie hingen. Ist der leere
Himmel nicht schön? Wir ziehen ein
in die Stille bis über beide
Ohren, in die eustachische Röhre.
Die
Emotion kann aber als Werkzeug der Erkenntnis auch heute noch ein
praktikables und hochwirksames Mittel genuiner Dichtung sein, wenn
sie sich damit nicht in den zweifelhaften Dienst einer politischen
Ideologie stellt, sondern allein die überaus wünschenswerte
intellektuelle und emotionale Reinigung und Befreiung des
menschlichen Individuums im Sinne hat. Tadeusz Dąbrowski begnügt
sich aber nicht damit, allein das „Gute“ zu benennen, sondern
findet auch deutliche und klare Worte für jene ungünstigen
strukturellen Erscheinungsformen und subjektiven Einzelphänomene,
die diesem wünschenswerten, gleichsam natürlichen Begehren
entgegenwirken. Dabei findet er in insbesondere auch in den
speziellen Objekten und Ereignissen der Gegenwart immer wieder
überaus treffende Metaphern, wodurch er diese explizit
milde-billigend anerkennt und sich damit deutlich von einem möglichen
Rückzug in eine trügerische poetische Idylle distanziert.
[...] hier, in der Hälfte des
Lebens – denn du bist immer
in der Hälfte – hörst du
plötzlich, wie die Preise einfrieren,
wie Kühlschränken und
Obdachlosen der Bauch zu knurren aufhört,
wie Tumore und Politiker keine
Lust mehr haben, das Offensichtliche
zu vermehren, die Toten
fürchten nicht um ihren Kontostand
in der Schlange an der Kasse,
die Tattoos explodieren am Himmel,
der sein blindes Auge zudrückt
beim Unfug
der Wolken und der Teenies im
Wohnheim, die Kugel
des Attentäters hängt in der
Luft und ist noch nicht
tödlich, der Gedanke erstarrt
zwischen den Synapsen. Da erscheint
die Poesie und drängt den
Hirsch zur Flucht. [...]
Niemand hat sie gesehen. Doch
ohne sie ist nichts
gemacht,
was gemacht ist.
Trotz
seiner charakteristischen weltlichen Spiritualität, die seine Verse
für den unvoreingenommenen Leser so attraktiv und unverwechselbar
machen, bleibt bei Tadeusz Dąbrowski das Private und Persönliche
auf ebenso anschauliche wie entschiedene Art und Weise immer auch
untrennbar verbunden mit dem dezidiert Politischen. Mit seiner
hochgradigen künstlerischen Originalität, seinem selbst in der
klangvollen Übersetzung von Renate Schmidgall noch unverkennbaren
individuellen Ton und seiner unmittelbaren Zugänglichkeit hat der
Dichter eine aufregend zeitlose neuartige Lyrik für eine neue
Generation von Lesern geschaffen. Die nun vorliegende Auswahl im
Rahmen der verdienstvollen Edition Lyrik Kabinett bei Hanser
bietet die denkbar beste Möglichkeit, die hervorragende, unabhängige
Stimme Dąbrowskis zu entdecken. Eine politischere Dichtung als jene,
die keine Grenze zieht zwischen den unterschiedlichen Sphären des
Öffentlichen und des Privaten und die Gegenwart zum einzig
erstrebenswerten Lebensraum macht, ist kaum denkbar.
„Die Bäume spielen Wald“, aus dem Polnischen von Renate Schmidgall,
erschienen bei Hanser, 102 Seiten, € 15,90
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