Jerusalem

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Freitag, 5. September 2014

„Der Attentäter“ von Henrik Rehr

In der weiterhin eskalierenden politischen und militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine wird selbst für den unbeteiligtsten Beobachter von außen eine so offensichtlich die völkerrechtlich fest verankerte territoriale Integrität eines unabhängigen Staates missachtende, stattdessen auf eigenen Raumgewinn und Ausweitung der eigenen Machtsphäre ausgerichtete Rücksichtslosigkeit deutlich, wie wir sie in West- und Mitteleuropa seit dem Zeitalter des Imperialismus und dem daraus resultierenden Ersten Weltkrieg sowie Hitlers schon damals im Grunde anachronistischen raumgreifenden Invasionen nicht mehr beobachten konnten. Die in solchen Fällen vorherrschende Rhetorik bemühte sich schon damals meist nur sehr halberzig um schlüssige Argumentationketten: die vom jeweiligen Aggressor vorgebrachte, vorgeblich auf rationalen Entscheidungen beruhende Beweisführung vermochte jeder aufmerksame Zuhörer recht mühelos als reinen Vorwand zum machtpolitischen Handeln zu identifizieren.


Der seit 1995 mit seiner Familie in unmittelbarer Nähe zum späteren Ground Zero in New York City lebende dänische Illustrator, Comickünstler und Autor Henrik Rehr (geboren 1964) begibt sich in seiner bildmächtigen, düster-beeindruckenden neuen Graphic Novel in jenen bedeutsamen Moment in der europäischen Geschichte, der die jahrzehntelange fragile Ordnung des europäischen Imperialismus mit ihren zahlreichen Geheimabsprachen, Militärbündnissen und Drohgebärden schließlich indirekt zum Einsturz bringen sollte: die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz-Ferdinand und seiner Ehefrau Sophie am 26. Juni 1914 in Sarajevo durch den fanatischen serbischen Nationalisten Gavrilo Princip, den der amerikanische Sozialwissenschaftler Steven Pinker als vermeintlichen Auslöser einer direkt und unvermeidlich zum Weltenbrand des Ersten Weltkrieg führenden Kettenreaktion als vermutlich „wichtigste Person des Zwanzigsten Jahrhunderts“ identifiziert haben will.

Bevor wir auseinandergehen, möchte ich dem Wunsch Ausdruck verleihen, dass Sie uns verstehen und uns nicht für Kriminelle halten. [...] Wir hassten die Habsburger nicht. Ja, ich hegte anarchistische Ideale, ja, ich hasste alles, doch mit keinem Gedanken wünschte ich seiner Majestät Franz Joseph etwas Böses. [...] Wir sind keine Übeltäter, wir sind anständige Menschen, ehrliche Idealisten. Wir wollten Gutes bewirken, wir haben unser Volk geliebt und wir werden für unsere Ideale in den Tod gehen. [...] Unser Volk schreit, es lebt im Elend, es hat keine Schulen, keine Kultur. Das tut uns weh; wir spürten das Leid unseres Volkes.

Henrik Rehr, der neben konventionellen Bilderbüchern und Comics auch zwei viel beachtete Alben zum Thema des 11. September 2001 veröffentlicht hat („Tirsdag“, „Tribeca Sunset“), interessiert sich vor allem für die heute wieder ganz besonders aktuell scheinende Frage, was einen Menschen zu Mord und Terror als legitime Mittel zum Erreichen seiner vermeintlicherweise „höheren“ Ziele im Dienste der Gemeinschaft bewegt. Sein soeben in deutscher Übersetzung erschienenes bedrückendes Schwarzweiß-Album „Der Attentäter – Die Welt des Gavrilo Princip“ wird von zahlreichen tuberkulös hustenden, verschwörerisch dreinblickenden, und rein äußerlich aufgrund ihrer dunklen Haarfarbe und nahezu identischen dünnen Oberlippenbärtchen für den Leser nur aufgrund ihrer jeweiligen Charaktereigenschaften voneinander unterscheidbaren jungen Männern bevölkert, die in Belgrader Straßencafés lebhafte politische Diskussionen führen – ob die scheinbare äußerliche Austauschbarkeit seiner Protagonisten künstlerisches Kalkül des Zeichners ist, bleibt indes bis zum Ende offen. Unter den diskussionsfreudigen Studenten befindet sich auch der junge Gavrilo Princip, ein Serbe bosnischer Herkunft, der nach einem geeigneten Ventil für seine Wut und sein Minderwertigkeitsgefühl zu suchen scheint.

Die Verschwörer Princip (re.), Grabež und Čabrinović in Belgrad 1914

Während seine bis dahin noch zum endgültig im Niedergang begriffenen Osmanischen Reich gehörende bosnische Heimat im Jahr 1908 per Annexion von Österreich-Ungarn vereinnahmt wurde, war Serbien bereits 1878 auf dem Berliner Kongress von den europäischen Großmächten als unabhängiger Staat anerkannt worden. Da Gavrilo Princip, Sohn eines armen Postmitarbeiters aus der Krajina, durch gute Leistungen in der Schule auffiel, konnte er nach der Übersiedlung in den Haushalt des Familienpatriarchen, seines älteren Bruders Jovo in Hadžići, auch gegen den Willen des Vaters nach der Grundschule die Handelsschule in Tuzla und anschließend sogar das Gymnasium in Sarajevo sowie die Universität in Belgrad besuchen. Im Comic begegnen wir einem schüchternen, jedoch vor unterdrückter Wut geradezu überkochenden jungen Mann, der zunächst mit der ihm eigenen Intelligenz vor allem gegen das ärmlich-dumpfe Milieu seiner eigenen Herkunft rebelliert, der aber durch entsprechende persönliche Kontakte schon bald mit nationalistischem und anarchistischem Gedankengut in Berührung kommt, mit dem er seine Affekte ideologisch stärker zu kanalisieren vermag.

Wenn die Bourgeoisie der Menschheit wirklich noch einen letzten Dienst erweisen möchte, wenn es ihr ernst ist mit der Liebe zur wahren, vollständigen und weltweiten Freiheit, kurz, wenn sie wünscht, nicht länger reaktionär zu sein, dann bleibt ihr nur eins, was sie tun kann: in Würde zu sterben, und zwar so schnell wie möglich.

In direktem Kontrast zu Princips Werdegang gibt uns der Autor aber auch einen erstaunlich unvoreingenommenen detaillierten Einblick in die Persönlichkeit, individuellen Wertvorstellungen und persönlichen Lebensumstände Franz Ferdinands sowie in die grundsätzliche politische, soziale und weltanschauliche Situation am Vorabend des Ersten Weltkriegs – so zitiert er etwa die Otto von Bismarck aus Anlass des Berliner Kongresses von 1878 in den Mund gelegten prophetischen Worte:

Europa ist heute ein Pulverfass, und seine Regenten agieren wie Männer, die in einer Munitionsfabrik rauchen. Ein einziger Funke kann eine Explosion auslösen, die uns alle verschlingt... Ich weiß nicht, wann es zur Explosion kommt, aber ich kann sagen, wo. Irgendetwas Verrücktes auf dem Balkan wird der Beginn der Katastrophe sein.

Ebenso irrational wie eigensinnig und ebenso rücksichtslos wie unversöhnlich zu agieren, sich aus dem reichen Schatz der Gebrauchsphilosophie eine mehr oder weniger schlüssige, aber umso prägnanter formulierte Rechtfertigung dafür zu wählen – das scheint für alle Staaten des europäischen Imperialismus die eigentliche Triebfeder ihres Handelns. Was aber bei der fesselnden und aufgrund der düster-stimmungsvollen Bildsprache nachhaltig verstörenden Lektüre von Henrik Rehrs Graphic Novel zwischen den Zeilen deutlich wird, ist die zunächst überraschende grundlegende Erkenntnis, wie sehr Gavrilo Princip in der vermutlich realistischen Sichtweise des Autors ein geistiges Kind seiner Zeit zu sein scheint, indem er diesem verhängnisvollen und menschlich im Grunde unreifen Muster nahezu vollkommen entspricht.

Erzherzog Franz Ferdinand und Sophie unmittelbar vor ihrer Ermordung

Überaus gelungen ist vor allem die Szene unmittelbar vor seinen tödlichen Schüssen auf Franz Ferdinand und Sophie, nachdem ein erstes Bombenattentat durch Nedeljko Čabrinović bereits gescheitert ist und dabei zahlreiche unbeteiligte Passanten verletzt worden sind: der österreichische Thronfolger hat sich gegen den ausdrücklichen Rat seiner Generäle dazu entschlossen, den frisch Verletzten im Krankenhaus einen persönlichen Besuch abzustatten, und Gavrilo Princip, der zuvor an der Straße gewartet hatte, hat ernüchtert einen Feinkostladen betreten, um sich – im festen Bewußtsein, dass er keine Chance zum Attentat mehr haben werde – ein Sandwich zu kaufen. Als er aus dem Ladengeschäft heraustritt, erblickt er zu seiner großen Überraschung die kaiserliche Limousine, die soeben irrtümlich von der offiziellen Route abgewichen ist und nun langsam wieder zurücksetzt. Princip schießt unverzüglich, seine Revolverschüsse zerfetzen Franz Ferdinands Halsvene und Sophies Bauchaorta; das kaiserliche Paar stirbt noch vor Erreichen der Klinik in der davonpreschenden Limousine, während der Attentäter von österreichischen Sicherheitskräften vor einer wie entfesselt auf ihn einprügelnden Menschenmenge gerettet wird.

Zeitgenössische Illustration aus "Le Petit Journal"

Gerade in der Beiläufigkeit dieser einen unvergesslichen Szene zeigt sich auf exemplarische Art und Weise, wie fragwürdig die Behauptung ist, dass sich der Erste Weltkrieg allein aus einer unkontrollierbaren Dynamik heraus entwickelt habe, die unweigerlich zur Katastrophe führen musste, weil ein Ereigniss unwiderruflich ein anderes in Gang gesetzt habe und das wiederum das nächste und keines davon für sich zu stoppen gewesen sei. Denn diese Argumentation bestreitet vehement, dass Personen oder Institutionen die Fähigkeit besitzen, Ereignisse und Situationen objektiv und in einem größeren Zusammenhang zu analysieren und sich bei Bedarf auch in vermeintliche oder tatsächliche politische Gegner sowie deren offensichtliche oder verborgene Motive einzufühlen. Sie bestreitet außerdem, daß der Einzelne die Möglichkeit hat, sich bewusst zu entscheiden, mitunter sogar gegen ausdrückliche Befehle, offizielle Paradigmen oder unausgesprochene Leitlinien. Es ist überdies dieselbe Logik, die insbesondere Nazi-Täter immer wieder gern instrumentalisiert haben, indem sie behaupteten, sie hätten lediglich Befehle ausgeführt.

Ich bin jugoslawischer Nationalist und glaube an die Vereinigung aller von der österreichischen Herrschaft befreiten Südslawen. Ich habe versucht, dieses Ziel mit dem Mittel des Terrors zu erreichen. [...] Ich bin kein Krimineller, weil ich zerstört habe, was böse war. Ich glaube, ich bin ein guter Mensch.[...] Die Idee ist in uns gewachsen. Deshalb haben wir das Attentat ausgeführt.[...] Wir haben unser Volk geliebt. Ich will nichts weiter zu meiner Verteidigung vorbringen.

Es gibt in Henrik Rehrs lesenswerter Graphic Novel historisch korrekt auch Mitverschwörer, die vor der Tat zurückschrecken, sie sogar zu verhindern versuchen. Gavrilo Princip konnte innerhalb der habsburgischen Rechtsprechung aufgrund seines jugendlichen Alters nicht zum Tode verurteilt werden. Das Gericht verurteilte ihn zu zwanzig Jahren schwerer Zwangsarbeit in der Festung Theresienstadt, wo er am 28. April 1918 unter katastrophalen Haftbedingungen seiner langjährigen Tuberkuloseerkrankung erlag. Während seine Tat im jungen Jugoslawien lange Zeit ideologisch verklärt wurde, distanzieren sich heute nahezu alle unabhängigen Staaten gleichermaßen deutlich davon. In seiner Person, so wie der Autor sie zeichnet, wird vor allem eine furchtbare Kontinuität fehlgeleiteten Denkens und einer damit einhergehenden Unfähigkeit zu menschlicher Empathie deutlich, die von der Tat Gavrilo Princips über linken Terror der 1960er und 70er Jahre bis zum islamistischen Terror unserer Zeit führt und zeigt, dass nachhaltige Befreiung weder im individuellen noch im kollektiven Sinne durch Mord erreicht werden kann.

Henrik Rehr

Henrik Rehrs virtuoses Graphic Novel ist ein überaus eindrucksvoller künstlerischer Nachweis der nahezu unerschöpflichen Möglichkeiten dieses hierzulande immer noch allzu verkannten hoch intelligenten und vielschichtigen Mediums. Mit seiner ebenso empathischen wie rationalen Arbeitsweise, die auf sorgfältiger historischer Recherche beruht, sowie dem sich aus einem umsichtigen Faktenvergleich ergebenden organisch scheinenden aufklärerischen Ansatz kann „Der Attentäter“ auch für den Schulunterricht ein dankbarer Anknüpfungspunkt für lebhafte und kontroverse Diskussionen sein, die nicht nur eine absolute Bereicherung für das sonst oft vermittelte abstrakte Geschichtsbild darstellen könnten, sondern uns viel leichter auch gemeinsame grundsätzliche Strömungen innerhalb bestimmter geschichtlicher Prozesse identifizieren lassen, so dass wir am Ende auch den politischen und gesellschaftlichen Anforderungen unserer Gegenwart wachsamer und aufmerksamer zu begegnen vermögen.

„Der Attentäter – Die Welt des Gavrilo Princip“, aus dem Englischen von Edmund Jacoby, erschienen bei Jacoby & Stuart, 224 Seiten, € 28,-

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