In der weiterhin
eskalierenden politischen und militärischen Auseinandersetzung
zwischen Russland und der Ukraine wird selbst für den
unbeteiligtsten Beobachter von außen eine so offensichtlich die
völkerrechtlich fest verankerte territoriale Integrität eines
unabhängigen Staates missachtende, stattdessen auf eigenen
Raumgewinn und Ausweitung der eigenen Machtsphäre ausgerichtete
Rücksichtslosigkeit deutlich, wie wir sie in West- und Mitteleuropa
seit dem Zeitalter des Imperialismus und dem daraus resultierenden
Ersten Weltkrieg sowie Hitlers schon damals im Grunde
anachronistischen raumgreifenden Invasionen nicht mehr beobachten
konnten. Die in solchen Fällen vorherrschende Rhetorik bemühte sich
schon damals meist nur sehr halberzig um schlüssige
Argumentationketten: die vom jeweiligen Aggressor vorgebrachte,
vorgeblich auf rationalen Entscheidungen beruhende Beweisführung
vermochte jeder aufmerksame Zuhörer recht mühelos als reinen
Vorwand zum machtpolitischen Handeln zu identifizieren.
Der seit 1995 mit seiner
Familie in unmittelbarer Nähe zum späteren Ground Zero in
New York City lebende dänische Illustrator, Comickünstler und Autor
Henrik Rehr (geboren 1964) begibt sich in seiner bildmächtigen,
düster-beeindruckenden neuen Graphic Novel in jenen bedeutsamen
Moment in der europäischen Geschichte, der die jahrzehntelange
fragile Ordnung des europäischen Imperialismus mit ihren zahlreichen
Geheimabsprachen, Militärbündnissen und Drohgebärden schließlich
indirekt zum Einsturz bringen sollte: die Ermordung des
österreichischen Thronfolgers Franz-Ferdinand und seiner Ehefrau
Sophie am 26. Juni 1914 in Sarajevo durch den fanatischen serbischen
Nationalisten Gavrilo Princip, den der amerikanische
Sozialwissenschaftler Steven Pinker als vermeintlichen Auslöser
einer direkt und unvermeidlich zum Weltenbrand des Ersten Weltkrieg
führenden Kettenreaktion als vermutlich „wichtigste Person des
Zwanzigsten Jahrhunderts“ identifiziert haben will.
Bevor wir
auseinandergehen, möchte ich dem Wunsch Ausdruck verleihen, dass Sie
uns verstehen und uns nicht für Kriminelle halten. [...] Wir hassten
die Habsburger nicht. Ja, ich hegte anarchistische Ideale, ja, ich
hasste alles, doch mit keinem Gedanken wünschte ich seiner Majestät
Franz Joseph etwas Böses. [...] Wir sind keine Übeltäter, wir sind
anständige Menschen, ehrliche Idealisten. Wir wollten Gutes
bewirken, wir haben unser Volk geliebt und wir werden für unsere
Ideale in den Tod gehen. [...] Unser Volk schreit, es lebt im Elend,
es hat keine Schulen, keine Kultur. Das tut uns weh; wir spürten das
Leid unseres Volkes.
Henrik Rehr, der neben
konventionellen Bilderbüchern und Comics auch zwei viel beachtete
Alben zum Thema des 11. September 2001 veröffentlicht hat
(„Tirsdag“, „Tribeca Sunset“), interessiert sich vor
allem für die heute wieder ganz besonders aktuell scheinende Frage,
was einen Menschen zu Mord und Terror als legitime Mittel zum
Erreichen seiner vermeintlicherweise „höheren“ Ziele im Dienste
der Gemeinschaft bewegt. Sein soeben in deutscher Übersetzung
erschienenes bedrückendes Schwarzweiß-Album „Der Attentäter –
Die Welt des Gavrilo Princip“ wird von zahlreichen tuberkulös
hustenden, verschwörerisch dreinblickenden, und rein äußerlich
aufgrund ihrer dunklen Haarfarbe und nahezu identischen dünnen
Oberlippenbärtchen für den Leser nur aufgrund ihrer jeweiligen
Charaktereigenschaften voneinander unterscheidbaren jungen Männern
bevölkert, die in Belgrader Straßencafés lebhafte politische
Diskussionen führen – ob die scheinbare äußerliche
Austauschbarkeit seiner Protagonisten künstlerisches Kalkül des
Zeichners ist, bleibt indes bis zum Ende offen. Unter den
diskussionsfreudigen Studenten befindet sich auch der junge Gavrilo
Princip, ein Serbe bosnischer Herkunft, der nach einem geeigneten
Ventil für seine Wut und sein Minderwertigkeitsgefühl zu suchen
scheint.
Die Verschwörer Princip (re.), Grabež und Čabrinović in Belgrad 1914 |
Während seine bis dahin
noch zum endgültig im Niedergang begriffenen Osmanischen Reich
gehörende bosnische Heimat im Jahr 1908 per Annexion von
Österreich-Ungarn vereinnahmt wurde, war Serbien bereits 1878 auf
dem Berliner Kongress von den europäischen Großmächten als
unabhängiger Staat anerkannt worden. Da Gavrilo Princip, Sohn eines
armen Postmitarbeiters aus der Krajina, durch gute Leistungen in der
Schule auffiel, konnte er nach der Übersiedlung in den Haushalt des
Familienpatriarchen, seines älteren Bruders Jovo in Hadžići, auch
gegen den Willen des Vaters nach der Grundschule die Handelsschule in
Tuzla und anschließend sogar das Gymnasium in Sarajevo sowie die
Universität in Belgrad besuchen. Im Comic begegnen wir einem
schüchternen, jedoch vor unterdrückter Wut geradezu überkochenden
jungen Mann, der zunächst mit der ihm eigenen Intelligenz vor allem
gegen das ärmlich-dumpfe Milieu seiner eigenen Herkunft rebelliert,
der aber durch entsprechende persönliche Kontakte schon bald mit
nationalistischem und anarchistischem Gedankengut in Berührung
kommt, mit dem er seine Affekte ideologisch stärker zu kanalisieren
vermag.
Wenn die Bourgeoisie
der Menschheit wirklich noch einen letzten Dienst erweisen möchte,
wenn es ihr ernst ist mit der Liebe zur wahren, vollständigen und
weltweiten Freiheit, kurz, wenn sie wünscht, nicht länger
reaktionär zu sein, dann bleibt ihr nur eins, was sie tun kann: in
Würde zu sterben, und zwar so schnell wie möglich.
In direktem Kontrast zu
Princips Werdegang gibt uns der Autor aber auch einen erstaunlich
unvoreingenommenen detaillierten Einblick in die Persönlichkeit,
individuellen Wertvorstellungen und persönlichen Lebensumstände
Franz Ferdinands sowie in die grundsätzliche politische, soziale und
weltanschauliche Situation am Vorabend des Ersten Weltkriegs – so
zitiert er etwa die Otto von Bismarck aus Anlass des Berliner
Kongresses von 1878 in den Mund gelegten prophetischen Worte:
Europa ist heute ein
Pulverfass, und seine Regenten agieren wie Männer, die in einer
Munitionsfabrik rauchen. Ein einziger Funke kann eine Explosion
auslösen, die uns alle verschlingt... Ich weiß nicht, wann es zur
Explosion kommt, aber ich kann sagen, wo. Irgendetwas Verrücktes auf
dem Balkan wird der Beginn der Katastrophe sein.
Ebenso irrational wie
eigensinnig und ebenso rücksichtslos wie unversöhnlich zu agieren,
sich aus dem reichen Schatz der Gebrauchsphilosophie eine mehr oder
weniger schlüssige, aber umso prägnanter formulierte Rechtfertigung
dafür zu wählen – das scheint für alle Staaten des europäischen
Imperialismus die eigentliche Triebfeder ihres Handelns. Was aber bei
der fesselnden und aufgrund der düster-stimmungsvollen Bildsprache
nachhaltig verstörenden Lektüre von Henrik Rehrs Graphic Novel
zwischen den Zeilen deutlich wird, ist die zunächst überraschende
grundlegende Erkenntnis, wie sehr Gavrilo Princip in der vermutlich
realistischen Sichtweise des Autors ein geistiges Kind seiner Zeit zu
sein scheint, indem er diesem verhängnisvollen und menschlich im
Grunde unreifen Muster nahezu vollkommen entspricht.
Erzherzog Franz Ferdinand und Sophie unmittelbar vor ihrer Ermordung |
Überaus gelungen ist vor
allem die Szene unmittelbar vor seinen tödlichen Schüssen auf Franz
Ferdinand und Sophie, nachdem ein erstes Bombenattentat durch
Nedeljko Čabrinović bereits gescheitert ist und dabei zahlreiche
unbeteiligte Passanten verletzt worden sind: der österreichische
Thronfolger hat sich gegen den ausdrücklichen Rat seiner Generäle
dazu entschlossen, den frisch Verletzten im Krankenhaus einen
persönlichen Besuch abzustatten, und Gavrilo Princip, der zuvor an
der Straße gewartet hatte, hat ernüchtert einen Feinkostladen
betreten, um sich – im festen Bewußtsein, dass er keine Chance zum
Attentat mehr haben werde – ein Sandwich zu kaufen. Als er aus dem
Ladengeschäft heraustritt, erblickt er zu seiner großen
Überraschung die kaiserliche Limousine, die soeben irrtümlich von
der offiziellen Route abgewichen ist und nun langsam wieder
zurücksetzt. Princip schießt unverzüglich, seine Revolverschüsse
zerfetzen Franz Ferdinands Halsvene und Sophies Bauchaorta; das
kaiserliche Paar stirbt noch vor Erreichen der Klinik in der
davonpreschenden Limousine, während der Attentäter von
österreichischen Sicherheitskräften vor einer wie entfesselt auf
ihn einprügelnden Menschenmenge gerettet wird.
Zeitgenössische Illustration aus "Le Petit Journal" |
Gerade in der
Beiläufigkeit dieser einen unvergesslichen Szene zeigt sich auf
exemplarische Art und Weise, wie fragwürdig die Behauptung ist, dass
sich der Erste Weltkrieg allein aus einer unkontrollierbaren Dynamik
heraus entwickelt habe, die unweigerlich zur Katastrophe führen
musste, weil ein Ereigniss unwiderruflich ein anderes in Gang gesetzt
habe und das wiederum das nächste und keines davon für sich zu
stoppen gewesen sei. Denn diese Argumentation bestreitet vehement,
dass Personen oder Institutionen die Fähigkeit besitzen, Ereignisse
und Situationen objektiv und in einem größeren Zusammenhang zu
analysieren und sich bei Bedarf auch in vermeintliche oder
tatsächliche politische Gegner sowie deren offensichtliche oder
verborgene Motive einzufühlen. Sie bestreitet außerdem, daß der
Einzelne die Möglichkeit hat, sich bewusst zu entscheiden, mitunter
sogar gegen ausdrückliche Befehle, offizielle Paradigmen oder
unausgesprochene Leitlinien. Es ist überdies dieselbe Logik, die
insbesondere Nazi-Täter immer wieder gern instrumentalisiert haben,
indem sie behaupteten, sie hätten lediglich Befehle ausgeführt.
Ich bin jugoslawischer
Nationalist und glaube an die Vereinigung aller von der
österreichischen Herrschaft befreiten Südslawen. Ich habe versucht,
dieses Ziel mit dem Mittel des Terrors zu erreichen. [...] Ich bin
kein Krimineller, weil ich zerstört habe, was böse war. Ich glaube,
ich bin ein guter Mensch.[...] Die Idee ist in uns gewachsen. Deshalb
haben wir das Attentat ausgeführt.[...] Wir haben unser Volk
geliebt. Ich will nichts weiter zu meiner Verteidigung vorbringen.
Es gibt in Henrik Rehrs
lesenswerter Graphic Novel historisch korrekt auch Mitverschwörer,
die vor der Tat zurückschrecken, sie sogar zu verhindern versuchen.
Gavrilo Princip konnte innerhalb der habsburgischen Rechtsprechung
aufgrund seines jugendlichen Alters nicht zum Tode verurteilt werden.
Das Gericht verurteilte ihn zu zwanzig Jahren schwerer Zwangsarbeit
in der Festung Theresienstadt, wo er am 28. April 1918 unter
katastrophalen Haftbedingungen seiner langjährigen
Tuberkuloseerkrankung erlag. Während seine Tat im jungen Jugoslawien
lange Zeit ideologisch verklärt wurde, distanzieren sich heute
nahezu alle unabhängigen Staaten gleichermaßen deutlich davon. In
seiner Person, so wie der Autor sie zeichnet, wird vor allem eine
furchtbare Kontinuität fehlgeleiteten Denkens und einer damit
einhergehenden Unfähigkeit zu menschlicher Empathie deutlich, die
von der Tat Gavrilo Princips über linken Terror der 1960er und 70er
Jahre bis zum islamistischen Terror unserer Zeit führt und zeigt,
dass nachhaltige Befreiung weder im individuellen noch im kollektiven
Sinne durch Mord erreicht werden kann.
Henrik Rehr |
Henrik Rehrs virtuoses
Graphic Novel ist ein überaus eindrucksvoller künstlerischer
Nachweis der nahezu unerschöpflichen Möglichkeiten dieses
hierzulande immer noch allzu verkannten hoch intelligenten und
vielschichtigen Mediums. Mit seiner ebenso empathischen wie
rationalen Arbeitsweise, die auf sorgfältiger historischer Recherche
beruht, sowie dem sich aus einem umsichtigen Faktenvergleich
ergebenden organisch scheinenden aufklärerischen Ansatz kann „Der
Attentäter“ auch für den Schulunterricht ein dankbarer
Anknüpfungspunkt für lebhafte und kontroverse Diskussionen sein,
die nicht nur eine absolute Bereicherung für das sonst oft
vermittelte abstrakte Geschichtsbild darstellen könnten, sondern uns
viel leichter auch gemeinsame grundsätzliche Strömungen innerhalb
bestimmter geschichtlicher Prozesse identifizieren lassen, so dass
wir am Ende auch den politischen und gesellschaftlichen Anforderungen
unserer Gegenwart wachsamer und aufmerksamer zu begegnen vermögen.
„Der Attentäter – Die Welt des Gavrilo Princip“, aus dem Englischen von Edmund Jacoby,
erschienen bei Jacoby & Stuart, 224 Seiten, € 28,-
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