Jerusalem

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Donnerstag, 21. August 2014

„Zwei Herren am Strand“ von Michael Köhlmeier

Zwei der berühmtesten Persönlichkeiten ihrer Zeit, die in ihrem Charakter, ihrer sozialen Herkunft und politischen Einstellung kaum unterschiedlicher hätten sein können, treffen in Michael Köhlmeiers neuem großen Roman im Schatten einer noblen Hollywood-Party vollkommen unverhofft aufeinander, um bis zum Ende ihres Lebens die unwahrscheinlichsten und engsten Freunde zu werden sowie einander immer wieder in ihrem gemeinsamen, stets wiederkehrenden psychiatrischen Krankheitsbild aufs Zärtlichste und Rührendste gegenseitig zu unterstützen: Winston Churchill (1874-1965), Literaturnobelpreisträger des Jahres 1954 (für sein historisches Werk) und als britischer Premierminister der Kriegszeit der wohl bedeutendste britische Staatsmann des Zwanzigsten Jahrhunderts, und Charlie Chaplin (1889-1977), das Universalgenie des frühen amerikanischen Films, das selbst noch in der von ihm ausgesprochen skeptisch beäugten allmählich heraufdämmernden Ära des Tonfilms ein unerreichter Meister wortlos dargebotener poetischer Weltdurchdringung blieb.


In seinem späten ersten Tonfilm „Der große Diktator“ (1940), dessen Produktion und Veröffentlichung nicht nur Nazi-Deutschland, sondern auch konservative Kreise innerhalb der US-amerikanischen Politik teils mit den verschlagenen Mitteln subtiler psychischer Einschüchterung, teils aber auch auf offene, schamlos-brutale Art und Weise bereits im Vorfeld zu verhindern versuchten, porträtiert Charlie Chaplin in Gestalt des ebenso lächerlichen wie beängstigenden Hitler-Verschnitts Hynkel nicht nur den personifizierten Menschenfeind des Zwanzigsten Jahrhunderts per se, sondern auch den einzigen öffentlich sichtbaren der beiden gemeinsam erklärten Feinde des ungleichen Freundespaars. Michael Köhlmeier lenkt unsere Aufmerksamkeit nun aber vor allem auf einen unsichtbaren und für die beiden kaum weniger furchterregenden Feind, den sie laut aktueller Statistik zumindest vorübergehend allein in Deutschland mit mehr als sechzehn Millionen Menschen teilen: den „schwarzen Hund“ der Depression, wie der englische Dichter Samuel Johnson „diesen Bastard aus fehlgeleiteten Impulsen und verpanschter Gehirnchemie“ genannt hat.

Ich verstehe es, Winston“, sagte Chaplin. „Wenn er da ist, der schwarze Hund, dann...“, es sei ihm nichts anderes eingefallen als: „... dann... ist es schlimm, Winston, habe ich Recht?“ Es seien ihm eben keine eleganteren Worte eingefallen, erzählte er Josef Melzer. Aber er habe noch niemand kennengelernt, dem zu diesem Thema ein elegantes Wort eingefallen wäre.

Als sich Chaplin und Churchill während einer der zahlreichen legendären Partys in der Villa von Mary Pickford und Douglas Fairbanks in Santa Monica zum ersten Mal persönlich begegnen, durchläuft der weltberühmte Stummfilmstar gerade einen äußerst schmerzhaften, von den skrupellosen Anwälten seiner Noch-Ehefrau mit schmutzigsten Mitteln öffentlich ausgetragenen Scheidungsprozess – es ist sein erster, sich von ihm selbst nur äußerst zögerlich zugestandener öffentlicher Auftritt seit langem. Der zu dieser Zeit aufgrund massiver Anfeindungen im „inneren Exil“ befindliche Politiker trifft ihn abseits und allein im Schatten der Veranda an und schlägt ihm einen gemeinsamen Strandspaziergang vor, den Chaplin gern annimmt, um der lärmenden, ihm vermeintlicherweise feindlich gesonnenen Partygesellschaft zu entkommen. In der Anonymität des nächtlichen Strandes finden die beiden Gesprächspartner schnell zu einer allumfassenden Offenheit und einem sensationell-vertraulichen Ton, den Michael Köhlmeier mit großartigem Einfühlungsvermögen und bemerkenswerter künstlerischer Rücknahme einzufangen versteht.

Tatsächlich gelang es ihnen, über sich selbst und eine mögliche Selbstauslöschung zu sprechen, als würde über eine dritte Person verhandelt, die nicht anwesend war und deren Gedanken und Schicksal nicht mehr ihr wissenschaftliches oder ästhetisches Interesse weckte, als dass Mitleid für sie empfunden wurde. [...] Chaplin brachte ihre Gesprächshaltung auf die Formel: „Nüchtern bis zur Erleuchtung“. Diese Gespräche waren oft lustig, sehr lustig. Aber sie waren nicht lustig gemeint. Manchmal trugen sie Früchte: Die Szene aus „City Lights“, in der sich der reiche Mann eine Schlinge eines Seils um den Hals legt, dessen Ende an einem schweren Stein befestigt ist, den er ins Wasser stoßen will, wovon ihn der Tramp verzweifelt abzuhalten versucht, was damit endet, dass der Tramp selbst ins Wasser fällt – diese Szene hatten sie sich gemeinsam ausgedacht, da kannten sie einander gerade einmal ein paar Stunden.

Churchill und Chaplin in Hollywood, 1929

Beide, so stellt sich heraus, hatten jeweils schon im Alter von sechs Jahren erstmals konkrete Suizidgedanken. Beide werden trotz ihres unbestreitbaren beruflichen und privaten Erfolgs in tückisch-unregelmäßigen Abständen immer wieder unvermittelt für längere Zeitabschnitte vom „schwarzen Hund“ angefallen, und beide haben bemerkenswerte individuelle Methoden entwickelt, mit ihrer Krankheit umzugehen. Während Churchill mit großem künstlerischen Geschick und zunehmender Meisterschaft vorwiegend menschenleere Naturlandschaften malt, hat Chaplin die bewährte „Methode des Clowns“ seines berühmten Kollegen und Leidensgenossen Buster Keaton übernommen: er liegt nackt auf einem überdimensionalem Blatt Papier, das er, sich selbst fortlaufend im Uhrzeigersinn drehend, in assoziativer Art und Weise beschreibt. In einer ganz besonders dunklen Phase bedient er sich einer achttägigen „Heroinkur“. Und als Churchill nach Hitlers Überfall auf Polen zum Ersten Lord der Admiralität bestellt und 1940 zum Premierminister gewählt wird, engagiert er einen in höchstem Maße „privaten“ Privatsekretär, dessen wichtigster und geheimster Auftrag es künftig sein soll, seinen rastlosen Arbeitgeber vom Selbstmord abzuhalten.

Der private Privatsekretär hatte keine Korrespondenzen zu erledigen, er hatte keinen Terminkalender zu führen, er sollte keine Telefonate annehmen, bei Unterredungen des Premierministers musste er nicht unbedingt anwesend sein. Wenn ihn einer fragte, was eigentlich genau seine Aufgabe sei, sollte er sagen: „Alles.“ Sollte er den Ton drastisch verschärfen und fragen: „Und Sie? Wer sind Sie, dass Sie eine solche Frage stellen? Was ist Ihr Interesse? Wer hat Sie dazu angehalten? Ich werde Sie melden müssen.“

Michael Köhlmeier skizziert mit nur einigen wenigen unnachahmlich-virtuosen, angesichts seiner letzten großen epochalen Romane „Abendland“ und „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ jedoch ungewohnt knappen, aber äußerst präzisen und höchst treffenden exemplarischen Szenen das familiäre und gesellschaftliche Umfeld sowie die persönlichen Motive und politischen bzw. künstlerischen Visionen seiner beiden großartigen Protagonisten. Mit rührender, geradezu zärtlicher Akribie schildert er etwa aus der Perspektive von Churchills Ehefrau deren furchtbare Virtuosität im Vermögen körperliche Anzeichen einer beginnenden depressiven Phase ihres Mannes zu deuten. Aber auch in diesem neuen, vollkommen zu Recht für den Deutschen Buchpreis 2014 nominierten Roman erweist sich Michael Köhlmeier vor allem als großer Chronist der zahlreichen widersprüchlichen Motive und Irrwege des Zwanzigsten Jahrhunderts.

Sie achtete auf den Rhythmus und die syntaktischen Muster seiner Rede, achtete auf die eigentümlichen Tonarten der Selbsterregung, die am verlässlichsten Auskunft gaben, ob der Mann gern in seiner Haut steckte oder nicht. Auch Gestik und Mimik verrieten viel. Wie der Mann ging. Der Winkel des Nackens. Die Krümmung des Rückens. Ob er die Füße genügend hob, um nicht zu schlurfen, oder ob er schlurfte. Glanz oder Mattheit der Fingernägel. Ob der Gürtel des Hausmantels gewunden oder geknotet war, oder ob die Enden nachschleiften. - Clementine war es gewohnt, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht jede Lebensäußerung ihres Mannes zu prüfen und, wenn nötig, Vorkehrungen zu treffen. Hingegen: Wenn das für Fleckigkeit und Verschiedenfarbigkeit anfällige Gesicht ebenmäßig weiß war und über längere Zeit blieb, konnte das bedeuten, dass der Hund den Zwinger aufgebrochen hatte.


Michael Köhlmeier, 2008


Hier dürfen wir durch die lebenserfahren-einfühlsame Kunst des Autors zwei wesentliche Protagonisten der Weltgeschichte nicht nur aus vollkommen neuer Perspektive als gewissermaßen „vollständige“ Menschen im ganzheitlichen Sinne erleben, sondern müssen auch erneut mit erschütternder Machtlosigkeit anerkennen, wie das menschliche Individuum in bestimmten Situationen seines Lebens unweigerlich politisch Stellung beziehen muss, sofern es nicht zum machtlosen Spielball fremder, äußerer Interessen werden will; wie sehr der Einzelne aber auch aus dieser ihm ungewollt aufgezwungenen oder aus innerer Einsicht und freiem Willen selbst gewonnenen Positionierung Kraft zu schöpfen und jegliche äußeren oder inneren Widerstände zu überwinden vermag. In diesem Sinne ist „Zwei Herren am Strand“ auch eine allumfassende, zutiefst beeindruckende menschliche Würdigung der Lebensleistung zweier in höchstem Maße origineller Menschen, die beinahe lebenslang mit dem unberechenbaren „schwarzen Hund“ der Depression ringen mussten und wohl selbst am allerwenigsten daran geglaubt haben, dass sie einstmals nach einem langen erfüllten Leben friedlich im Schlaf sterben würden.

„Zwei Herren am Strand“, erschienen bei Hanser, 254 Seiten, € 17,90

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