Zwei der berühmtesten
Persönlichkeiten ihrer Zeit, die in ihrem Charakter, ihrer sozialen
Herkunft und politischen Einstellung kaum unterschiedlicher hätten
sein können, treffen in Michael Köhlmeiers neuem großen Roman im
Schatten einer noblen Hollywood-Party vollkommen unverhofft
aufeinander, um bis zum Ende ihres Lebens die unwahrscheinlichsten
und engsten Freunde zu werden sowie einander immer wieder in ihrem
gemeinsamen, stets wiederkehrenden psychiatrischen Krankheitsbild
aufs Zärtlichste und Rührendste gegenseitig zu unterstützen:
Winston Churchill (1874-1965), Literaturnobelpreisträger des Jahres
1954 (für sein historisches Werk) und als britischer Premierminister
der Kriegszeit der wohl bedeutendste britische Staatsmann des
Zwanzigsten Jahrhunderts, und Charlie Chaplin (1889-1977), das
Universalgenie des frühen amerikanischen Films, das selbst noch in
der von ihm ausgesprochen skeptisch beäugten allmählich
heraufdämmernden Ära des Tonfilms ein unerreichter Meister wortlos
dargebotener poetischer Weltdurchdringung blieb.
In seinem späten ersten
Tonfilm „Der große Diktator“ (1940), dessen Produktion und
Veröffentlichung nicht nur Nazi-Deutschland, sondern auch
konservative Kreise innerhalb der US-amerikanischen Politik teils mit
den verschlagenen Mitteln subtiler psychischer Einschüchterung,
teils aber auch auf offene, schamlos-brutale Art und Weise bereits im
Vorfeld zu verhindern versuchten, porträtiert Charlie Chaplin in
Gestalt des ebenso lächerlichen wie beängstigenden
Hitler-Verschnitts Hynkel nicht nur den personifizierten
Menschenfeind des Zwanzigsten Jahrhunderts per se, sondern auch den
einzigen öffentlich sichtbaren der beiden gemeinsam erklärten
Feinde des ungleichen Freundespaars.
Michael Köhlmeier lenkt unsere Aufmerksamkeit nun aber vor allem auf
einen unsichtbaren und für die beiden kaum weniger furchterregenden
Feind, den sie laut aktueller Statistik zumindest vorübergehend
allein in Deutschland mit mehr als sechzehn Millionen Menschen
teilen: den „schwarzen Hund“ der Depression, wie der englische
Dichter Samuel Johnson „diesen Bastard aus fehlgeleiteten Impulsen
und verpanschter Gehirnchemie“ genannt hat.
„Ich verstehe es,
Winston“, sagte Chaplin. „Wenn er da ist, der schwarze Hund,
dann...“, es sei ihm nichts anderes eingefallen als: „... dann...
ist es schlimm, Winston, habe ich Recht?“ Es seien ihm eben keine
eleganteren Worte eingefallen, erzählte er Josef Melzer. Aber er
habe noch niemand kennengelernt, dem zu diesem Thema ein elegantes
Wort eingefallen wäre.
Als sich Chaplin und
Churchill während einer der zahlreichen legendären Partys in der
Villa von Mary Pickford und Douglas Fairbanks in Santa Monica zum
ersten Mal persönlich begegnen, durchläuft der weltberühmte
Stummfilmstar gerade einen äußerst schmerzhaften, von den
skrupellosen Anwälten seiner Noch-Ehefrau mit schmutzigsten Mitteln
öffentlich ausgetragenen Scheidungsprozess – es ist sein erster,
sich von ihm selbst nur äußerst zögerlich zugestandener
öffentlicher Auftritt seit langem. Der zu dieser Zeit aufgrund
massiver Anfeindungen im „inneren Exil“ befindliche Politiker
trifft ihn abseits und allein im Schatten der Veranda an und schlägt
ihm einen gemeinsamen Strandspaziergang vor, den Chaplin gern
annimmt, um der lärmenden, ihm vermeintlicherweise feindlich
gesonnenen Partygesellschaft zu entkommen. In der Anonymität des
nächtlichen Strandes finden die beiden Gesprächspartner schnell zu
einer allumfassenden Offenheit und einem sensationell-vertraulichen
Ton, den Michael Köhlmeier mit großartigem Einfühlungsvermögen
und bemerkenswerter künstlerischer Rücknahme einzufangen versteht.
Tatsächlich gelang es
ihnen, über sich selbst und eine mögliche Selbstauslöschung zu
sprechen, als würde über eine dritte Person verhandelt, die nicht
anwesend war und deren Gedanken und Schicksal nicht mehr ihr
wissenschaftliches oder ästhetisches Interesse weckte, als dass
Mitleid für sie empfunden wurde. [...] Chaplin brachte ihre
Gesprächshaltung auf die Formel: „Nüchtern bis zur Erleuchtung“.
Diese Gespräche waren oft lustig, sehr lustig. Aber sie waren nicht
lustig gemeint. Manchmal trugen sie Früchte: Die Szene aus „City
Lights“, in der sich der reiche Mann eine Schlinge eines Seils um
den Hals legt, dessen Ende an einem schweren Stein befestigt ist, den
er ins Wasser stoßen will, wovon ihn der Tramp verzweifelt
abzuhalten versucht, was damit endet, dass der Tramp selbst ins
Wasser fällt – diese Szene hatten sie sich gemeinsam ausgedacht,
da kannten sie einander gerade einmal ein paar Stunden.
Churchill und Chaplin in Hollywood, 1929 |
Beide, so stellt sich
heraus, hatten jeweils schon im Alter von sechs Jahren erstmals
konkrete Suizidgedanken. Beide werden trotz ihres unbestreitbaren
beruflichen und privaten Erfolgs in tückisch-unregelmäßigen
Abständen immer wieder unvermittelt für längere Zeitabschnitte vom
„schwarzen Hund“ angefallen, und beide haben bemerkenswerte
individuelle Methoden entwickelt, mit ihrer Krankheit umzugehen.
Während Churchill mit großem künstlerischen Geschick und
zunehmender Meisterschaft vorwiegend menschenleere Naturlandschaften
malt, hat Chaplin die bewährte „Methode des Clowns“ seines
berühmten Kollegen und Leidensgenossen Buster Keaton übernommen: er
liegt nackt auf einem überdimensionalem Blatt Papier, das er, sich
selbst fortlaufend im Uhrzeigersinn drehend, in assoziativer Art und
Weise beschreibt. In einer ganz besonders dunklen Phase bedient er
sich einer achttägigen „Heroinkur“. Und als Churchill nach
Hitlers Überfall auf Polen zum Ersten Lord der Admiralität bestellt
und 1940 zum Premierminister gewählt wird, engagiert er einen in
höchstem Maße „privaten“ Privatsekretär, dessen wichtigster
und geheimster Auftrag es künftig sein soll, seinen rastlosen
Arbeitgeber vom Selbstmord abzuhalten.
Der private
Privatsekretär hatte keine Korrespondenzen zu erledigen, er hatte
keinen Terminkalender zu führen, er sollte keine Telefonate
annehmen, bei Unterredungen des Premierministers musste er nicht
unbedingt anwesend sein. Wenn ihn einer fragte, was eigentlich genau
seine Aufgabe sei, sollte er sagen: „Alles.“ Sollte er den Ton
drastisch verschärfen und fragen: „Und Sie? Wer sind Sie, dass Sie
eine solche Frage stellen? Was ist Ihr Interesse? Wer hat Sie dazu
angehalten? Ich werde Sie melden müssen.“
Michael Köhlmeier
skizziert mit nur einigen wenigen unnachahmlich-virtuosen, angesichts
seiner letzten großen epochalen Romane „Abendland“ und „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ jedoch ungewohnt knappen, aber
äußerst präzisen und höchst treffenden exemplarischen Szenen das
familiäre und gesellschaftliche Umfeld sowie die persönlichen
Motive und politischen bzw. künstlerischen Visionen seiner beiden
großartigen Protagonisten. Mit rührender, geradezu zärtlicher
Akribie schildert er etwa aus der Perspektive von Churchills Ehefrau
deren furchtbare Virtuosität im Vermögen körperliche Anzeichen
einer beginnenden depressiven Phase ihres Mannes zu deuten. Aber auch
in diesem neuen, vollkommen zu Recht für den Deutschen Buchpreis
2014 nominierten Roman erweist sich Michael Köhlmeier vor allem als
großer Chronist der zahlreichen widersprüchlichen Motive und
Irrwege des Zwanzigsten Jahrhunderts.
Sie achtete auf den
Rhythmus und die syntaktischen Muster seiner Rede, achtete auf die
eigentümlichen Tonarten der Selbsterregung, die am verlässlichsten
Auskunft gaben, ob der Mann gern in seiner Haut steckte oder nicht.
Auch Gestik und Mimik verrieten viel. Wie der Mann ging. Der Winkel
des Nackens. Die Krümmung des Rückens. Ob er die Füße genügend
hob, um nicht zu schlurfen, oder ob er schlurfte. Glanz oder Mattheit
der Fingernägel. Ob der Gürtel des Hausmantels gewunden oder
geknotet war, oder ob die Enden nachschleiften. - Clementine war es
gewohnt, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht jede Lebensäußerung
ihres Mannes zu prüfen und, wenn nötig, Vorkehrungen zu treffen.
Hingegen: Wenn das für Fleckigkeit und Verschiedenfarbigkeit
anfällige Gesicht ebenmäßig weiß war und über längere Zeit
blieb, konnte das bedeuten, dass der Hund den Zwinger aufgebrochen
hatte.
Michael Köhlmeier, 2008 |
Hier dürfen wir durch die
lebenserfahren-einfühlsame Kunst des Autors zwei wesentliche
Protagonisten der Weltgeschichte nicht nur aus vollkommen neuer
Perspektive als gewissermaßen „vollständige“ Menschen im
ganzheitlichen Sinne erleben, sondern müssen auch erneut mit
erschütternder Machtlosigkeit anerkennen, wie das menschliche
Individuum in bestimmten Situationen seines Lebens unweigerlich
politisch Stellung beziehen muss, sofern es nicht zum machtlosen
Spielball fremder, äußerer Interessen werden will; wie sehr der
Einzelne aber auch aus dieser ihm ungewollt aufgezwungenen oder aus
innerer Einsicht und freiem Willen selbst gewonnenen Positionierung
Kraft zu schöpfen und jegliche äußeren oder inneren Widerstände
zu überwinden vermag. In diesem Sinne ist „Zwei Herren am Strand“
auch eine allumfassende, zutiefst beeindruckende menschliche
Würdigung der Lebensleistung zweier in höchstem Maße origineller
Menschen, die beinahe lebenslang mit dem unberechenbaren „schwarzen
Hund“ der Depression ringen mussten und wohl selbst am
allerwenigsten daran geglaubt haben, dass sie einstmals nach einem
langen erfüllten Leben friedlich im Schlaf sterben würden.
„Zwei Herren am Strand“,
erschienen bei Hanser, 254 Seiten, € 17,90
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