Das
fragwürdige Etikett des Nationaldichters dürfte für jeden
wahrhaftigen Schrifftsteller eher eine unnötige Bürde als eine
genuine Ehre darstellen, zumal ihm diese Bezeichnung in aller Regel
nicht nur von einer wenig profunden literaturfernen Position
gleichsam von außen aufgeprägt wird, sondern in den meisten Fällen
auch eine unzulässige politische Vereinnahmung seines Werkes
bedeutet, die bestenfalls einer Verallgemeinerung oder sogar einer
bewussten „positiven“ Abwertung gleichkommt. Im Falle von Chaim
Nachman Bialik (1873-1934) oder Samuel Joseph Agnon (1888-1970),
deren Leistungen zugunsten einer poetischen Wiederbelebung der
hebräischen Sprache unbestritten sind, könnte die Lage jedoch
komplizierter sein, da beide von vornherein ein hohes Maß an
politischem Sendungsbewusstsein entwickeln mussten, um ihre Dichtung
ausgerechnet in einer als ebenso heilig wie tot geltenden Sprache zu
verfassen, die über viele Jahrhunderte nahezu ausschließlich ein
Medium religiöser und philosophischer Unterweisung gewesen war.
Wer
jemals versucht hat, einen von Agnons großen Romanen in deutscher
Übersetzung nicht nur anzulesen, sondern seine Lektüre auch
erfolgreich zu Ende zu bringen, kann anhand der damit verbundenen
Mühen sowie der aufzubringenden Geduld kaum erahnen, welche
Bedeutungsebenen im hebräischen Original in assoziativer Art und
Weise stets mitzuschwingen scheinen. Die tastende Art und Weise des
Autors nach einer neuen, unverbrauchten Formulierung zu suchen, die
bereits Gesagtes noch konkretisiert oder eine zusätzliche poetische
Ebene nachschiebt sowie seine formelhafte, den Duktus der Bibel
imitierende Aneinanderreihung scheinbar zusammenhangloser Abschnitte
wirkte in den meisten bisherigen Übersetzungen so bemüht, dass am
Ende der Eindruck eines überambitionierten Dichters überwog, der
die Schaffung einer Nationalsprache über seine literarische Aussage
zu stellen schien. Israelische (Schul-)Ausgaben der Werke Agnons
weisen oft einen umfangreichen, Erläuterungsapparat von geradezu
talmudischen Ausmaßen auf, um dem Leser den Zugang zu sämtlichen
möglichen Bezugs- und Bedeutungsebenen zu erleichtern.
Manchmal
fragte ich mich, weswegen ich meine Erinnerungen aufschrieb, was
hatte ich denn Neues entdeckt und von was wünschte ich, dass es
bliebe nach mir? Ich würde sagen: Wegen der Seelenruhe, die ich
durch mein Schreiben finde, habe ich alles aufgeschrieben, was in
diesem Buch steht.
In
dieser Hinsicht bietet die soeben im Jüdischen Verlag erschienene
erstmalige Übersetzung von Samuel Joseph Agnons Erzählung „In der
Mitte ihres Lebens“ dem interessierten Leser eine großartige
überschaubare Möglichkeit, diesen neuhebräischen Klassiker
gewissermaßen auf „authentische“ Art und Weise zu entdecken,
ohne dabei an der Fülle des Stoffes und seiner Präsentation
verzweifeln zu müssen. Die kaum hunderseitige Erzählung entstand
während Agnons äußerst produktiver Zeit in Deutschland, die im
Jahr 1924 mit der vollständigen Vernichtung seines Hausstands
einschließlich einer umfangreichen Bibliothek von 2000 Bänden durch
ein Feuer so ausgesprochen tragisch endete. Aufgewachsen in Galizien
als Sohn einer wohlhabenden Kaufmanns- und Gelehrtenfamilie, war
Agnon 1908 nach Palästina ausgewandert und 1914 bei Ausbruch des
ersten Weltkriegs während einer im Vorjahr begonnen Reise zunächst
in Berlin gestrandet, wo er sich schnell – gefördert von Martin
Buber und dem Verleger Salman Schocken – als fester Teil des
literarischen Lebens der Hauptstadt etablieren konnte.
Nun
gab es in unserem Haus einen Bücherschrank, und eines Tages holte
mein Vater während der vergeblichen Suche nach schönen Lettern ein
Buch heraus. Er bekam glänzende Augen und vertiefte sich in die
Bücher. In lieb gewordener Trauer, die unser Heim abschirmte, dachte
mein Vater kaum mehr an meine Mutter, als er nach Buchstaben für den
Grabstein suchte. Wie ein emsiger Vogel nicht müde wird, Halme für
sein Nest zu sammeln, so ermüdete auch mein Vater nicht.
Agnon-Denkmal in Bad Homburg |
Die
Erzählung „In der Mitte ihres Lebens“ entstand während seiner Jahre in Bad Homburg im hessischen Taunus, die
er selbst rückblickend als eine der glücklichsten seines Lebens
bezeichnete, in einem Stockwerk der fürstlichen „Villa Imperiale“,
ehemaliges Kur-Domizil des Prinzen von Wales, das sein wohlhabender
Schwiegervater George Marx (1843-1927) dem jungvermählten Paar
verschafft hatte. Agnon erzählt darin aus der Perspektive seiner
Protagonistin Tirza die Geschichte eines jungen Mädchens, das nach
dem tragischen, frühen Tod ihrer Mutter als Einzelkind in einem
wohlhabenden, gebildeten Haushalt aufwächst, der nachhaltig geprägt
bleibt von der anhaltenden Trauer ihres Vaters um seine geliebte
Frau. Deren Liebe hatte eigentlich dem bescheidenen Poeten Masal
gehört, den sie trotz seiner lebhaften Erwiderung ihrer Gefühle im
traditionellen jüdischen Familienkontext nicht hatte heiraten
dürfen. An der stillen Fügung in dieses scheinbar unvermeidliche
Schicksal war sie schließlich nach langen Jahren des Leidens
zerbrochen.
Eines
der rührendsten Bilder in Agnons Erzählung ist der verzweifelte
Wunsch des Ehemanns, Masals zahlreiche über die Jahre an seine Frau
gerichteten Gedichte (von denen er ausdrücklich weiß) nach deren
Tod in Buchform herauszugeben; jedoch hatte diese am Tag ihres Todes
alle Verse verbrannt, und der Dichter selbst hatte keinerlei Kopien
davon angefertigt. Die junge Tirza steht nun, nachdem ihr von ihrem
Vater in jahrelangem Privatunterricht eine umfassende bürgerliche
Bildung ermöglicht wurde und sie als aufgeweckte, lebhafte
Beobachterin der Vorgänge in ihrem Umfeld diese bereits mit scharfem
Verstand zu hinterfragen gewöhnt ist, unverhofft vor derselben sie
in höchstem Maße herausforderden Grundsatzentscheidung wie einst
ihre Mutter: muss sie sich der ihr zugedachten Rolle als Ehefrau und
Mutter fügen oder kann sie sich in einem modernen Akt der
Selbstbestimmung von dem traditionellen Muster befreien? Tirza findet
ihre ganz eigene Lösung, mit der sie auf vollkommen unkonventionelle
Art und Weise das Andenken ihrer Mutter zu ehren vermag.
Ich
blickte in das Gesicht meines Vaters, dann wieder in das Gesicht
meines Mannes, von einem zum andern. Ich sah die beiden Männer und
mir war zum Weinen zumute, im Schoß meiner Mutter wollte ich weinen.
Lag es an der Verstimmung meines Mannes oder an der weiblichen
Psyche? Mein Vater und mein Mann strahlten mich an, in ihrer Liebe
wie in ihrem Mitleid glichen sie sich, einer war wie der andere.
Siebzig Gesichter hat das Böse, die Liebe hat nur ein Gesicht.
Samuel Joseph Agnon |
Samuel
Joseph Agnon, dem 1966 gemeinsam mit Nelly Sachs als bisher einzigem
hebräischen Schriftsteller der prestigeträchtige
Literaturnobelpreis zuerkannt wurde, hat mit seiner eigenartigen
Erzählung ein klassisches Motiv auf ebenso moderne wie
charakteristische Art und Weise neu ausgestaltet, das auch heute noch
Relevanz hat, selbst in einer aufgeklärten Gesellschaft wie der
unseren – besonders mit seiner überraschenden filmreifen Pointe.
Er bedient sich dafür einer denkwürdigen Mischung aus ungereimter
Lyrik, Anklängen biblischer Sprache und dunklen, ebenso konkreten
wie metaphorisch nachwirkenden Sprachbildern, deren sperrig-naive
Gedankenführung mitunter an Kafka zu erinnern scheint. Auch wenn man
viele vom Übersetzer behauptete Bezüge in den Erläuterungen nicht
nachvollziehen kann, manches davon als zu beiläufig oder als zu
konstruiert verwerfen möchte, kann man sich der Kraft zahlreicher
Metaphern sowie der rührend-ernsthaften, empathischen Grundhaltung
des Dichters dauerhaft kaum entziehen: viele Bilder aus Agnons
Erzählung bleiben noch lange in der Imagination des Lesers haften –
hier wird die Bedeutung des Autors für den Mythos der Neuerfindung
des Hebräischen wie für das Selbstverständnis des Staates Israel
beispielhaft deutlich.
„In der Mitte ihres Lebens“, aus dem Hebräischen von Gerold Necker,
erschienen im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp, 124 Seiten, € 19,95
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