Kaum eine andere
internationale Großstadt steht im gefährlichen Mikrokosmos
westlicher Vorurteile stärker für die mit dem Islam
vermeintlicherweise zwangsläufig einhergehende Rückständigkeit,
Engstirnigkeit und fanatische Rücksichtlosigkeit gegenüber
Andersgläubigen als die mit Abstand heiligste unter zahlreichen
anderen heiligen Städten im Islam, Ort der religiösen Erweckung des
Propheten Mohammed sowie – in Form des Zentralheiligtums der Kaaba
– gleichermaßen konkretes wie abstraktes Pilgerziel der für jeden
frommen Muslim zu erstrebenden Hadsch: Mekka, genannt „die
Ehrwürdige“. Die geistliche Kapitale im zentralen Osten der
Arabischen Halbinsel besitzt aktuell eine Einwohnerzahl von 1,5
Millionen, Nicht-Muslimen ist das Betreten der Stadt bis heute streng
untersagt, was zweifelsohne zum ungebrochenen, jedoch höchst
widersprüchlichen Mythos der Stätte beiträgt.
Die nachhaltig
inspirierende, intellektuell erfrischende Lektüre von Raja Alems
brillantem, über fünfhundert Seiten starkem Mekka-Roman „Das
Halsband der Tauben“ allerdings, der aufgrund seines anhaltenden
fulminanten positiven Echos in den deutschen Medien seit kurzem auch
in einer kartonierten Erfolgsausgabe lieferbar ist, bietet dem Leser
eine ideale, ausgesprochen nützliche Gelegenheit, kollektive auf
unscharfes Denken, geistige Trägheit und fehlende Information
gegründeten Stereotypen zu hinterfragen sowie
seine persönliche Sichtweise auf den Islam und insbesondere auf die
Stadt Mekka auf fundiertere realistische Grundlagen zu stellen.
Für Asa war Liebe
immer so etwas wie eine Grippe, kein unheilbarer Krebs. Sie flatterte
von Herz zu Herz. Sie genoss das Fieber ständig neuer Verliebtheit.
Ohne es sich sehr zu Herzen zu nehmen, war sie für immer neue Viren
bereit. Sie nahm weder das Leben noch die Männer allzu ernst. Du
kannst dir nicht vorstellen, wie angenehm es in Asas Nähe war. Man
fühlte sich wie im Schein ewiger Sonnenstrahlen auf einem grandiosen
Gemälde. Ich hatte immer Mitleid mit Leuten wie Jussuf, die am Krebs
ihrer Liebe litten.
Dabei scheint es
eigentlich eine nicht weiter erwähnenswerte Selbstverständlichkeit
zu sein, dass die soziale und politische Struktur einer lebendigen
Großstadt, selbst wenn es sich dabei um eine „heilige“ Stadt mit
erheblicher ideeller Strahlkraft handelt, kaum weniger heterogen sein
kann als die jeder anderen beliebigen Großstadt – und dass die
Bürger eines Landes oder einer sonstigen politischen
Verwaltungseinheit nicht zwangsläufig mit den Standpunkten ihrer
Regierungen oder religiösen Führer übereinstimmen müssen, sondern
in der Regel – je größer die jeweilige Gemeinschaft ist – ganz
eigene individuelle Wertvorstellungen besitzen, in deren spezieller
Natur und Ausprägung sie sich gewöhnlich von ihren Mitmenschen
unterscheiden und als Individuum abgrenzen.
„Was für ein Bild!
Der vollkommene Tod!“, stieß Muadh hervor und schoss ein Foto
Auf der reinen
Handlungsebene beginnt Raja Alems virtuoses Buch wie ein klassischer
Kriminalroman: in einer wenig belebten Gasse der historischen
Altstadt von Mekka wird eine gänzlich entkleidete weibliche Leiche
aufgefunden; die amtliche Ermittlung der Identität der atemberaubend
schönen, jungen Toten sowie der wahrscheinlichen Tatumstände und
die Überführung des mutmaßlichen Täters übernimmt nicht nur von
Amts wegen der melancholische Inspektor Nassir al-Kachtani, der schon
bald hinter den mannigfaltigen Schleiern von scheinbarem religiösen
Eifer und bürgerlichem Konforrmismus auf zahlreiche
dunkel-heimliche Liebschaften, irritierend frei ausgelebte
(insbesondere weibliche) Sexualität und ein machtbesessenes geheimes
Netzwerk aus politischer Korruption und aggressiver
Immobilienspekulation stößt.
Bautätigkeit in Mekka im Jahr 2010/Foto: Fadi El Benni, Al Jazeera |
Ob vielleicht Batman
Asa entführt hatte? Irgendein Wesen aus dem Reich der Dunkelheit,
das alle Radarsperren durchbrach? Selbst ganz zur Fledermaus
geworden, sehnte sich Jussuf nach Asa, und zum ersten Mal verstand
er, warum er sich als junger Bursche Kants Sätze notiert hatte: Wenn
man Raum und Zeit erforscht, stellt man fest, dass sie sowohl endlich
als auch unendlich sind; wenn man die Materie erforscht, dass sie
sowohl unendlich oft teilbar als auch unteilbar ist; und dass man,
wenn man den Willen erforscht, feststellt, dass er sowohl
vorherbestimmt als auch frei ist...
Was den klugen Roman der
1970 geborenen Schriftstellerin jedoch auf geradezu
wunderbar-märchenhafte Art und Weise in direkte, ebenso
schmeichelhafte wie berechtigte Linie klassischer orientalischer
Erzählwerke rückt, ist ihre vollkommen einzigartige allwissende und
in höchstem Maß virtuose Erzählperspektive: denn es ist weder eine
geheimnisvoll-scharfsinnige moderne Scheherazade noch ein
männlich-nüchterner Erzähler mit den beschränkten Instrumenten
des menschlichen Geistes, der die vielschichtige, mühelos
Jahrtausende überbrückende Geschichte der Stadt Mekka vor dem
staunenden Leser ausbreitet, sondern die in der Altstadt gelegene
Abu-I-Rus, auch Vielkopfgasse genannt, die „Königin der
Düfte“, die zu ihrem blumigen Beinamen kam, indem sie über
Jahrhunderte die seltene Fähigkeit erwarb, selbst noch die
unerträglichsten Gerüche stoisch zu ertragen.
Raja Alem |
Die Dank ihres biblischen
Alters an Erfahrung und Wissen geradezu verschwenderisch reiche
Vielkopfgasse ist mit den Geheimnissen moderner Kommunikationsmittel
zwischen Liebenden ebenso vertraut wie mit den Mythen der
vorislamischen Zeit sowie den bedeutsamen Ereignissen, die
schließlich zum unaufhaltsamen Aufstieg der neuen Weltreligion des
Islam führen und die Geburtsstadt ihres großen Propheten nachhaltig
verändern sollten – am Ende kann man sich kaum eine versiertere,
empathischere und gewinnendere Erzählerin der Geschichte Mekkas
denken als die aus ihrer in jeder Hinsicht überlegenen Perspektive
literarisch brillierende und zu schärfster politischer Analyse und
beißender Satire ebenso wie zu reinstem „menschlichen“ Mitgefühl
bereite Abu-I-Rus. „Das Halsband der Tauben“ ist unter
vielen bestechenden Romanen aus dem arabischen Kulturraum der letzten
Jahre vermutlich derjenige, den man auf jeden Fall gelesen haben
sollte, da er unser persönliches Weltbild am nachhaltigsten zu
verändern vermag.
„Das Halsband der Tauben“, aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich, erschienen im
Unionsverlag, 583 Seiten, € 14,95
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.