Jerusalem

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Donnerstag, 7. August 2014

„Das Halsband der Tauben“ von Raja Alem

Kaum eine andere internationale Großstadt steht im gefährlichen Mikrokosmos westlicher Vorurteile stärker für die mit dem Islam vermeintlicherweise zwangsläufig einhergehende Rückständigkeit, Engstirnigkeit und fanatische Rücksichtlosigkeit gegenüber Andersgläubigen als die mit Abstand heiligste unter zahlreichen anderen heiligen Städten im Islam, Ort der religiösen Erweckung des Propheten Mohammed sowie – in Form des Zentralheiligtums der Kaaba – gleichermaßen konkretes wie abstraktes Pilgerziel der für jeden frommen Muslim zu erstrebenden Hadsch: Mekka, genannt „die Ehrwürdige“. Die geistliche Kapitale im zentralen Osten der Arabischen Halbinsel besitzt aktuell eine Einwohnerzahl von 1,5 Millionen, Nicht-Muslimen ist das Betreten der Stadt bis heute streng untersagt, was zweifelsohne zum ungebrochenen, jedoch höchst widersprüchlichen Mythos der Stätte beiträgt.


Die nachhaltig inspirierende, intellektuell erfrischende Lektüre von Raja Alems brillantem, über fünfhundert Seiten starkem Mekka-Roman „Das Halsband der Tauben“ allerdings, der aufgrund seines anhaltenden fulminanten positiven Echos in den deutschen Medien seit kurzem auch in einer kartonierten Erfolgsausgabe lieferbar ist, bietet dem Leser eine ideale, ausgesprochen nützliche Gelegenheit, kollektive auf unscharfes Denken, geistige Trägheit und fehlende Information gegründeten Stereotypen zu hinterfragen sowie seine persönliche Sichtweise auf den Islam und insbesondere auf die Stadt Mekka auf fundiertere realistische Grundlagen zu stellen.

Für Asa war Liebe immer so etwas wie eine Grippe, kein unheilbarer Krebs. Sie flatterte von Herz zu Herz. Sie genoss das Fieber ständig neuer Verliebtheit. Ohne es sich sehr zu Herzen zu nehmen, war sie für immer neue Viren bereit. Sie nahm weder das Leben noch die Männer allzu ernst. Du kannst dir nicht vorstellen, wie angenehm es in Asas Nähe war. Man fühlte sich wie im Schein ewiger Sonnenstrahlen auf einem grandiosen Gemälde. Ich hatte immer Mitleid mit Leuten wie Jussuf, die am Krebs ihrer Liebe litten.

Dabei scheint es eigentlich eine nicht weiter erwähnenswerte Selbstverständlichkeit zu sein, dass die soziale und politische Struktur einer lebendigen Großstadt, selbst wenn es sich dabei um eine „heilige“ Stadt mit erheblicher ideeller Strahlkraft handelt, kaum weniger heterogen sein kann als die jeder anderen beliebigen Großstadt – und dass die Bürger eines Landes oder einer sonstigen politischen Verwaltungseinheit nicht zwangsläufig mit den Standpunkten ihrer Regierungen oder religiösen Führer übereinstimmen müssen, sondern in der Regel – je größer die jeweilige Gemeinschaft ist – ganz eigene individuelle Wertvorstellungen besitzen, in deren spezieller Natur und Ausprägung sie sich gewöhnlich von ihren Mitmenschen unterscheiden und als Individuum abgrenzen.

Was für ein Bild! Der vollkommene Tod!“, stieß Muadh hervor und schoss ein Foto

Auf der reinen Handlungsebene beginnt Raja Alems virtuoses Buch wie ein klassischer Kriminalroman: in einer wenig belebten Gasse der historischen Altstadt von Mekka wird eine gänzlich entkleidete weibliche Leiche aufgefunden; die amtliche Ermittlung der Identität der atemberaubend schönen, jungen Toten sowie der wahrscheinlichen Tatumstände und die Überführung des mutmaßlichen Täters übernimmt nicht nur von Amts wegen der melancholische Inspektor Nassir al-Kachtani, der schon bald hinter den mannigfaltigen Schleiern von scheinbarem religiösen Eifer und bürgerlichem Konforrmismus auf zahlreiche dunkel-heimliche Liebschaften, irritierend frei ausgelebte (insbesondere weibliche) Sexualität und ein machtbesessenes geheimes Netzwerk aus politischer Korruption und aggressiver Immobilienspekulation stößt.

Bautätigkeit in Mekka im Jahr 2010/Foto: Fadi El Benni, Al Jazeera

Ob vielleicht Batman Asa entführt hatte? Irgendein Wesen aus dem Reich der Dunkelheit, das alle Radarsperren durchbrach? Selbst ganz zur Fledermaus geworden, sehnte sich Jussuf nach Asa, und zum ersten Mal verstand er, warum er sich als junger Bursche Kants Sätze notiert hatte: Wenn man Raum und Zeit erforscht, stellt man fest, dass sie sowohl endlich als auch unendlich sind; wenn man die Materie erforscht, dass sie sowohl unendlich oft teilbar als auch unteilbar ist; und dass man, wenn man den Willen erforscht, feststellt, dass er sowohl vorherbestimmt als auch frei ist...

Was den klugen Roman der 1970 geborenen Schriftstellerin jedoch auf geradezu wunderbar-märchenhafte Art und Weise in direkte, ebenso schmeichelhafte wie berechtigte Linie klassischer orientalischer Erzählwerke rückt, ist ihre vollkommen einzigartige allwissende und in höchstem Maß virtuose Erzählperspektive: denn es ist weder eine geheimnisvoll-scharfsinnige moderne Scheherazade noch ein männlich-nüchterner Erzähler mit den beschränkten Instrumenten des menschlichen Geistes, der die vielschichtige, mühelos Jahrtausende überbrückende Geschichte der Stadt Mekka vor dem staunenden Leser ausbreitet, sondern die in der Altstadt gelegene Abu-I-Rus, auch Vielkopfgasse genannt, die „Königin der Düfte“, die zu ihrem blumigen Beinamen kam, indem sie über Jahrhunderte die seltene Fähigkeit erwarb, selbst noch die unerträglichsten Gerüche stoisch zu ertragen.

Raja Alem

Die Dank ihres biblischen Alters an Erfahrung und Wissen geradezu verschwenderisch reiche Vielkopfgasse ist mit den Geheimnissen moderner Kommunikationsmittel zwischen Liebenden ebenso vertraut wie mit den Mythen der vorislamischen Zeit sowie den bedeutsamen Ereignissen, die schließlich zum unaufhaltsamen Aufstieg der neuen Weltreligion des Islam führen und die Geburtsstadt ihres großen Propheten nachhaltig verändern sollten – am Ende kann man sich kaum eine versiertere, empathischere und gewinnendere Erzählerin der Geschichte Mekkas denken als die aus ihrer in jeder Hinsicht überlegenen Perspektive literarisch brillierende und zu schärfster politischer Analyse und beißender Satire ebenso wie zu reinstem „menschlichen“ Mitgefühl bereite Abu-I-Rus. „Das Halsband der Tauben“ ist unter vielen bestechenden Romanen aus dem arabischen Kulturraum der letzten Jahre vermutlich derjenige, den man auf jeden Fall gelesen haben sollte, da er unser persönliches Weltbild am nachhaltigsten zu verändern vermag.

„Das Halsband der Tauben“, aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich, erschienen im Unionsverlag, 583 Seiten, € 14,95


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