Eine
der meistzitierten und treffendsten poetischen Vergegenwärtigungen
eigener Kindheit und Jugendzeit stammt aus dem fünften Kapitel von
Friedrich Hölderlins sperrig-genialem Briefroman „Hyperion“:
„Ruhe der Kindheit! himmlische Ruhe! wie oft steh ich stille vor
dir in liebender Betrachtung, und möchte dich denken!“ –
Besonders kennzeichnend für die charakterliche Entwicklung des
Menschen im Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein ist in aller
Regel der in der persönlichen Rückschau besonders schmerzliche
Verlust der natürlichen Fähigkeit radikaler Gegenwärtigkeit und
einer ganz dem Erleben des jeweiligen Augenblicks gewidmeter
konzentriertester Wachheit, die trotz ihres grundsätzlich
spielerischen Charakters dennoch gerade aus ihrer aufmerksamen
Beobachtungsgabe heraus höchst präzise Schlussfolgerungen zu ziehen
vermag, welche der vom erlernten Denken geprägten Wahrnehmung des
Erwachsenen oftmals entgehen. Hölderlins Aufforderung, die eigene
Kindheit zu denken, kann somit nur der erste Schritt zur einer
grundsätzlichen Veränderung der Wahrnehmung sein, was sicherlich
einer der schwersten Aufgaben ist.
In
ihrem großartigen, atemlos zu lesenden Erinnerungsbuch „Wörterbuch
einer verlorenen Welt“ gelingt es der französischen Musikerin und
Schriftstellerin Alba Arikha, Tochter des französisch-israelischen
bildenden Künstlers Avigdor Arikha (1929-2010), ihre eigene Kindheit
als Tochter eines zutiefst traumatisierten Holocaust-Überlebenden auf
so unnachahmliche, unwiderstehliche und gleichzeitig tiefgründige
und berührende Art und Weise so zu denken und literarisch treffend
zu vergegenwärtigen, dass wir als aufmerksame Leser die
charakteristischen Koordinaten ihrer Kinder- und Jugendzeit als
typische Vertreterin der Zweiten Generation unwillkürlich mit
denselben wachen Sinnen der Erzählerin gleichsam an ihrer Stelle
noch einmal mit- und nacherleben dürfen und somit ein viel
umfassenders und direkteres Begreifen in Anspruch nehmen können als
es uns aus der rationalen Perspektive eines rein intellektuellen
Zugangs selbst unter Zuhilfenahme der besten wissenschaftlichen
Mittel der Weltbetrachtung jemals möglich wäre.
Wenn
ich meine Großmutter weinen sehe, schaudert mir. Dasselbe gilt für
meine Eltern. Ein Gedicht, ein Musikstück, ein Zitat genügen, um in
ihnen eine Gefühlslawine loszutreten, die ich abstoßend finde. Wie
können Menschen Gefühle aus ihrem System purzeln lassen wie nasse
Wäsche aus der Wäschetrommel? Wo sind die Grenzen? Ich weiß von
Grenzen. Ich habe darüber in Büchern gelesen. Russische Geschichten
von verwegenen Soldaten und errötenden Hausmädchen. Französische
Klassiker, wo Verlegenheit über Schamlosigkeit siegt. Wenn freche
Kinder Grenzen überschreiten, werden sie bestraft, wieder und
Wieder. Ich werde zurechtgewiesen, aber nie bestraft. Egal. Ich bin
hart wie Stahl, wie der Metallstab, der meine Wirbelsäule in
Position hält.
Alba
Arikha wuchs trotz einiger für das junge Mädchen
verständlicherweise als erhebliche Einschränkungen wahrgenommener
medizinischer Hilfsmittel wie einer Gesundheitsbrille mit dicken
Gläsern sowie einer Stützvorrichtung zur Korrektur ihrer
Wirbelsäulenfehlstellung unter in vielerlei Hinsicht privilegierten
Grundbedingungen in der künstlerischen Bohème
von Paris auf, wo ihr in Rădăuţi
(heute Rumänien) geborener, nach fünf stilbildenden Jahren in
Palästina/Israel künstlerisch wie kommerziell zeitlebens
erfolgreicher Vater dank eines Stipendiums für die renommierte École
des Beaux-Arts bis zu seinem Tod als vielgeachteter Künstler lebte;
zu seinen besten Freunden zählten Samuel Beckett und Henri
Cartier-Bresson, und prominente Zeitgenossen wie Gary Cooper, Alain
Delon und Serge Gainsbourg verkehrten regelmäßig in seinem
Haushalt. Zu seinen berühmtesten Auftragsarbeiten zählen Porträts
von der Queen Mother (im Auftrag von Königin Elizabeth II.),
Catherine Deneuve (im Auftrag der Republik Frankreich) und Lord Alec
Douglas Home of the Hirsel, dem ehemaligen britischen Premierminister
(1963-64).
Avigdor Arikha: "Leinwand mit Selbstporträt"/Foto: Israel Museum |
Prägender als ihre von frühester Kindheit an als vollkommen
natürlich wahrgenommenen Begegnungen mit bedeutenden
Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses war jedoch die
familiäre Situation, die zwar eine überaus liebevolle, höchst
innige Beziehung zu allen (über-)lebenden Verwandten beinhaltete –
außer zur Tante, die nicht nur die Zeichnungen ihres begabten
Bruders, sondern auch den wertvollen Schmuck ihrer Mutter heimlich
verkauft hatte – aber eben auch stark vom unheilbaren Trauma des
Vaters geprägt war, dem gegenüber seine beiden Töchter aus
fürsorglicher Rücksichtnahme niemals zuzugeben wagten, dass sie
fast jede Nacht von seinen nächtlichen Schreien, den
Nazi-Flashbacks, wie sie und ihre Mutter es unter sich nannten,
aufwachten. Der erfolgreiche Maler beginnt Alba zwar immer wieder von
seinen Erlebnissen während der Schoah zu erzählen, bricht seine
Schilderungen aber auch immer wieder unvermittelt ab und vertröstet
seine Tochter auf später.
Liebe Anna,
wir haben uns nie kennengelernt, weil es dich nicht gibt. Du
existierst nur in meiner Fantasie, bist mein exotisches Gegenstück.
Ein projizierter Funke Normalität in meinem Leben.
Ich dachte, dass ich durch die Vorstellung von dir vielleicht ein
wenig werden könnte wie du, dass ich mich dir ein wenig angleichen
könnte.
Dass meine vermeintliche Vebindung zu dir mich möglicherweise
interessanter macht in den Augen derer, die mich nicht interessant
finden.
Aber das ist nicht geschehen.
Meine Familie wird nie normal sein. Ich werde nie du sein. Kein
Märchen wird mich ändern.
Das Leben wird es tun.
Vielleicht gibt es jemanden wie dich, irgendwo auf der Welt. Ich
hoffe es. Ich habe dich gemocht.
Auf Wiedersehen, du Fantasie-Cousine!
Alba Arikha/Foto: Rebecca Reid/eyevine |
Mit Beginn der Pubertät beginnt Alba Arikha immer stärker nach
einem Ausbruch aus den vermeintlich hemmenden familiären
Verhätnissen zu streben, nach einem mutmaßlich unbelasteten, ganz
normalen Leben wie es ihre teils ebenfalls prominenten Mitschüler
vorzuleben scheinen. Und sie häuft selbstbewusst die ganz eigenen
kleinen Geheimnisse einer heranwachsenden jungen Frau an: Lidschatten
und Lippenstift, den Minirock in der Schultasche und heimliches
Petting mit gleichaltrigen Schulfreunden. Im Alter von siebzehn
bricht sie schließlich radikal mit der häuslichen Situation und
verbringt ihr letztes Schuljahr auf eigenen Wunsch fern von ihrer
Familie in den USA, der Heimat ihrer Mutter, der Lyrikerin Anne Atik.
Ihr außergewöhnliches, hellwaches und erstaunlich lebensweises Buch
ist der wunderbare, in höchstem Maße geglückte Versuch einer
persönlichen Aussöhnung mit der nur scheinbar eng umrissenen Welt
ihrer Kindheit – eine überaus wirksame Wiedergutmachung der
Autorin an sich selbst und eine unwiderstehliche Liebeserklärung an
ihren Vater sowie die wiederherzustellende, umfassende
Wahrnehmungsfähigkeit der Kindheit.
„Wörterbuch einer verlorenen Welt“, aus dem Englischen von
Friederike Meltendorf, erschienen im Berlin Verlag, 255 Seiten, € 19,99
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