Jerusalem

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Montag, 25. August 2014

„Als Paula den Löwen vor Oma versteckte“ von Helen Stephens

Es gibt Dinge im Leben, die man selbst noch im Erwachsenenalter unbewusst als so bedrohlich für sich selbst oder für andere empfindet, dass man sie vorsorglich lieber vor fremden Blicken verstecken möchte und meint, selbst mit seinen engsten Vertrauten niemals offen darüber reden zu können. Dabei sind viele dieser Erscheinungen, egal ob es sich dabei um reale Ausprägungen des täglichen Lebens oder um scheinbar ungreifbare Phänomene des menschlichen Geistes handelt, objektiv und von außen betrachtet gar nicht so furchterregend, wie sie uns zunächst erscheinen; aber die individuelle Art und Gestalt dieser uns allen vertrauten kleinen Geheimnisse vermag uns zweifellos viel über uns und unsere jeweiligen Persönlichkeitsmuster zu verraten.


Paula ist ein denkbar fröhliches, selbstbewusstes kleines Mädchen, das sich vor nichts und niemandem fürchtet, nicht einmal vor dem riesigen Löwen, der eines Tages gemächlichen Schrittes in die Stadt spaziert kommt, um sich einen dieser fantastischen neuen Hüte zu kaufen. Schwer zu sagen, wessen Furcht im ersten Moment des Erkennens größer ist: die der Menschen vor dem arglos-friedlichen Löwen oder die des Löwen vor der hysterisch-entfesselten Menge. Auf seiner panikartigen Flucht gerät der verängstigte König der Tiere schließlich in den Garten der mutigen kleinen Paula, die ihn wie selbstverständlich in ihrem Kinderzimmer versteckt – was bei einem Raubtier dieser Größe gar nicht so leicht ist, da er weder hinter das Sofa noch unters Bett oder hinter die angelehnte Tür passt.

In Helen Stephens wunderbarem ersten Bilderbuch „Wie man einen Löwen versteckt“ (2012) haben wir auf spielerisch-umsichtige Art und Weise bereits einen wesentlichen Grund für das beinahe alltägliche Mysterium erfahren, warum wir entgegen jeder menschlichen Vernunft immer wieder bereit sind, unsere persönliche Integrität aufs Spiel zu setzen, um absolut Offensichtliches vor anderen Menschen zu verbergen: nämlich aus liebevoller Rücksichtnahme – weil wir meinen, unsere Liebsten so vor einer vermeintlichen Gefahr oder einer möglicherweise traumatischen Erkenntnis bewahren zu können. In Paulas speziellem Fall wirkt das ebenso rührend wie mutig. Tatsächlich aber sind ihre Eltern ebenso entsetzt wie die übrigen Bürger der Stadt, als sie den gutmütigen Löwen entdecken, der erst ganz am Ende des Buches zum allseits umjubelten Helden wird.



In ihrem soeben erschienenen, jedoch auch jederzeit unabhängig vom ersten Teil mit großem Gewinn zu lesenden Fortsetzungsband „Als Paula den Löwen vor Oma versteckte“ gelingt es es der gewitzten schottischen Illustratorin auf äußerst moderate Art und Weise, das Thema ihres ersten Buches nicht nur in der konkret sichtbaren äußeren Handlung mit viel Fantasie und Humor fortzuführen, sondern auch den bemerkenswerten inneren Gehalt ihrer Geschichte auf überaus treffende und auch für Kinder unmittelbar zugängliche Art und Weise noch weiter auszuarbeiten und zu konkretisieren. Denn auch wenn sich Paulas Eltern mittlerweile mit der Existenz eines kapitalen Wildtiers in ihrer Wohnung abgefunden zu haben scheinen – der fürs Wochenende als Babysitter anreisenden Oma möchten sie diese unbequeme und möglicherweise Furcht auslösende Tatsache doch gerne verschweigen.

Es stellt sich allerdings schon bald heraus, dass ihre Sorge vollkommen unbegründet ist, da die stark kurzsichtige Oma die Existenz des Löwen gar nicht zu bemerken scheint: Sie hält ihn abwechselnd für einen Lampenständer, ein weiches Handtuch oder ein bequemes Sofa – oder tut sie in Wirklichkeit nur so und übt im eigenen vermeintlichen Nichterkennen bereits ihrerseits zärtliche Rücksichtnahme? Der neugierigen Paula indes bereitet schon bald der überdimensionale Koffer ihrer Großmutter Kopfzerbrechen, den die Eltern vor ihrer Abreise nur unter größter körperlicher Anstrengung durchs Treppenhaus in die Wohnung zu schleppen vermocht hatten. Warum antwortet Oma ihr immer nur ausweichend, wenn sie nach dessen Inhalt fragt? Und wieso müssen sie im Supermarkt all diese Großpackungen Milch, Honig und Thunfisch kaufen? Als dann in der ersten Nacht laute, unter keinen Umständen ignorierbare Schmatz- und Rülpsgeräusche aus dem Zimmer der Oma dringen, deutet sich schließlich an, dass auch diese möglicherweise ein kaum zu leugnendes ganz persönliches Geheimnis haben könnte...

Helen Stephens

„Als Paula den Löwen vor Oma versteckte“ ist ein wunderbar farbenfroh gezeichnetes, ebenso intelligentes wie poetisches Bilderbuch, das Kindern ab drei Jahren mit viel Humor auf entwaffnend-einfache Art und Weise kongenial zu vermitteln versteht, dass nahezu jeder Mensch kleine Geheimnisse haben darf, dass es mitunter aber nicht unbedingt sinnvoll ist, diese auch um jeden Preis zu bewahren, weil sie in ihrer innersten Natur entweder gar nicht so furchtbar sind, wie sie aus bestimmter Perspektive auf den ersten Blick zu sein scheinen – aber auch, weil man gerade jenen Menschen, die einem am allernächsten stehen, sehr viel mehr zumuten kann, als einem oft bewusst ist. Und vielleicht braucht man gerade für diese wesentliche Erfahrung noch den urtümlich-naiven Mut des Kindes.

„Als Paula den Löwen vor Oma versteckte“, aus dem Englischen von Seraina Staub, erschienen bei Atlantis, 36 Seiten, € 14,95

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