Es gibt Dinge im Leben,
die man selbst noch im Erwachsenenalter unbewusst als so bedrohlich
für sich selbst oder für andere empfindet, dass man sie vorsorglich
lieber vor fremden Blicken verstecken möchte und meint, selbst mit
seinen engsten Vertrauten niemals offen darüber reden zu können.
Dabei sind viele dieser Erscheinungen, egal ob es sich dabei um reale
Ausprägungen des täglichen Lebens oder um scheinbar ungreifbare
Phänomene des menschlichen Geistes handelt, objektiv und von außen
betrachtet gar nicht so furchterregend, wie sie uns zunächst
erscheinen; aber die individuelle Art und Gestalt dieser uns allen
vertrauten kleinen Geheimnisse vermag uns zweifellos viel über uns
und unsere jeweiligen Persönlichkeitsmuster zu verraten.
Paula ist ein denkbar
fröhliches, selbstbewusstes kleines Mädchen, das sich vor nichts
und niemandem fürchtet, nicht einmal vor dem riesigen Löwen, der
eines Tages gemächlichen Schrittes in die Stadt spaziert kommt, um
sich einen dieser fantastischen neuen Hüte zu kaufen. Schwer zu
sagen, wessen Furcht im ersten Moment des Erkennens größer ist: die
der Menschen vor dem arglos-friedlichen Löwen oder die des Löwen
vor der hysterisch-entfesselten Menge. Auf seiner panikartigen Flucht
gerät der verängstigte König der Tiere schließlich in den Garten
der mutigen kleinen Paula, die ihn wie selbstverständlich in ihrem
Kinderzimmer versteckt – was bei einem Raubtier dieser Größe gar
nicht so leicht ist, da er weder hinter das Sofa noch unters Bett
oder hinter die angelehnte Tür passt.
In Helen Stephens
wunderbarem ersten Bilderbuch „Wie man einen Löwen versteckt“
(2012) haben wir auf spielerisch-umsichtige Art und Weise bereits
einen wesentlichen Grund für das beinahe alltägliche Mysterium
erfahren, warum wir entgegen jeder menschlichen Vernunft immer wieder
bereit sind, unsere persönliche Integrität aufs Spiel zu setzen, um
absolut Offensichtliches vor anderen Menschen zu verbergen: nämlich
aus liebevoller Rücksichtnahme – weil wir meinen, unsere Liebsten
so vor einer vermeintlichen Gefahr oder einer möglicherweise
traumatischen Erkenntnis bewahren zu können. In Paulas speziellem
Fall wirkt das ebenso rührend wie mutig. Tatsächlich aber sind ihre
Eltern ebenso entsetzt wie die übrigen Bürger der Stadt, als sie
den gutmütigen Löwen entdecken, der erst ganz am Ende des Buches
zum allseits umjubelten Helden wird.
In ihrem soeben
erschienenen, jedoch auch jederzeit unabhängig vom ersten Teil mit
großem Gewinn zu lesenden Fortsetzungsband „Als Paula den Löwen
vor Oma versteckte“ gelingt es es der gewitzten schottischen
Illustratorin auf äußerst moderate Art und Weise, das Thema ihres
ersten Buches nicht nur in der konkret sichtbaren äußeren Handlung
mit viel Fantasie und Humor fortzuführen, sondern auch den
bemerkenswerten inneren Gehalt ihrer Geschichte auf überaus
treffende und auch für Kinder unmittelbar zugängliche Art und
Weise noch weiter auszuarbeiten und zu konkretisieren. Denn auch wenn
sich Paulas Eltern mittlerweile mit der Existenz eines kapitalen
Wildtiers in ihrer Wohnung abgefunden zu haben scheinen – der fürs
Wochenende als Babysitter anreisenden Oma möchten sie diese
unbequeme und möglicherweise Furcht auslösende Tatsache doch gerne
verschweigen.
Es stellt sich allerdings
schon bald heraus, dass ihre Sorge vollkommen unbegründet ist, da
die stark kurzsichtige Oma die Existenz des Löwen gar nicht zu
bemerken scheint: Sie hält ihn abwechselnd für einen Lampenständer,
ein weiches Handtuch oder ein bequemes Sofa – oder tut sie in
Wirklichkeit nur so und übt im eigenen vermeintlichen Nichterkennen
bereits ihrerseits zärtliche Rücksichtnahme? Der neugierigen Paula
indes bereitet schon bald der überdimensionale Koffer ihrer
Großmutter Kopfzerbrechen, den die Eltern vor ihrer Abreise nur
unter größter körperlicher Anstrengung durchs Treppenhaus in die
Wohnung zu schleppen vermocht hatten. Warum antwortet Oma ihr immer
nur ausweichend, wenn sie nach dessen Inhalt fragt? Und wieso müssen
sie im Supermarkt all diese Großpackungen Milch, Honig und Thunfisch
kaufen? Als dann in der ersten Nacht laute, unter keinen Umständen
ignorierbare Schmatz- und Rülpsgeräusche aus dem Zimmer der Oma
dringen, deutet sich schließlich an, dass auch diese möglicherweise
ein kaum zu leugnendes ganz persönliches Geheimnis haben könnte...
Helen Stephens |
„Als Paula den Löwen
vor Oma versteckte“ ist ein wunderbar farbenfroh gezeichnetes,
ebenso intelligentes wie poetisches Bilderbuch, das Kindern ab drei
Jahren mit viel Humor auf entwaffnend-einfache Art und Weise
kongenial zu vermitteln versteht, dass nahezu jeder Mensch kleine
Geheimnisse haben darf, dass es mitunter aber nicht unbedingt
sinnvoll ist, diese auch um jeden Preis zu bewahren, weil sie in
ihrer innersten Natur entweder gar nicht so furchtbar sind, wie sie
aus bestimmter Perspektive auf den ersten Blick zu sein scheinen –
aber auch, weil man gerade jenen Menschen, die einem am allernächsten
stehen, sehr viel mehr zumuten kann, als einem oft bewusst ist. Und
vielleicht braucht man gerade für diese wesentliche Erfahrung noch
den urtümlich-naiven Mut des Kindes.
„Als Paula den Löwen vor Oma versteckte“, aus dem Englischen von Seraina Staub,
erschienen bei Atlantis, 36 Seiten, € 14,95
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