Wie
hiesige Reaktionen auf die noch andauernde bittere Krise in der
Ukraine sowie die leidenschaftslos-routinierte, vornehmlich
ablehnende Sicht des Normalbürgers auf die einzelnen Konflikparteien
eindrücklich beweisen, gehören die unabhängigen Staaten Osteuropas
auch zwei Generationen nach Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch zu
den großen Fremdkörpern im schemenhaft-unentwickelten europäischen
Selbstverständnis vieler Bundesbürger, die ihre Sympathien aus
träger Gewohnheit eher westeuropäischen Nachbarländern schenken,
mit denen sie sich in gemeinsamer Kultur stärker verbunden glauben.
„Polnische Wirtschaft“ oder „Russische Verhältnisse“ sind
nur zwei der hartnäckigsten historischen Stereotypen die geradezu
sprichwörtlichen Eingang in die deutsche Alltagssprache gefunden
haben. Über Länder wie Serbien, Kroatien oder Albanien gibt es
zahllose gängige Vorurteile, die sich im Laufe der letzten
zweihundert Jahre ebenfalls kaum verändert zu haben scheinen.
Dabei
bleibt deutlich hervorzuheben, dass besonders die vielbeschworene
deutsch-französische Freundschaft, wie sie heute zu Recht gerühmt
wird, zuallererst das Produkt einer jahrzehntelangen gemeinsamen
intensiven politischen Anstrengung ist, die erst durch gezielt
herbeigeführte persönliche Begegnungen und ein tiefgreifendes
wechselseitiges Kennenlernen über mehrere Generationen die
überkommene und von vielen nationalistisch gesinnten Intellektuellen
des kolonialistischen Zeitalters pseudophilosophisch zur erbitterten
Kulturfrage überhöhte Feindschaft der Vergangenheit nachhaltig zu
überwinden vermochte: ein ebenso lebensfroher wie genussfreudiger
fiktiver Dorfpolizist wie Bruno aus Martin Walkers wunderbaren, im
südfranzösischen Perigord angesiedelten Kriminalromanen, der lieber
schwarze Trüffel, Stopfleber und Rotwein genießt anstatt Verbrecher
zu jagen, darf deswegen als virtuoser Lebenskünstler gelten, während
ein realer serbischer oder bulgarischer Kollege mit gleichen
Angewohnheiten vom Betrachter aus purer geistiger Trägheit
vermutlich als verfressen und arbeitsscheu wahrgenommen würde.
Er
lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und
streckte die Beine aus. Eigentlich durfte er sich überhaupt nicht
beschweren. Sein Bruder war arbeitsloser Anstreicher und schleppte
den Leuten in Novi Sad die Kohlen für den Winter, seine Mutter
putzte Klos auf einer ungarischen Autobahnraststätte. Und seit seine
Schwester gesagt hatte, dass sie rüber wollte nach Österreich, in
ein irgendwie besseres Leben, hatte niemand mehr etwas von ihr
gehört. Er machte sich Sorgen. In Dragaš,
dem Dorf im südwestlichen Kosovo, an der Grenze zu Albanien, waren
nur noch die Großeltern und die Ziegen, und ob die Familie dort
jemals – und sei es auf dem Friedhof – wieder zusammenkommen
würde, stand in den Sternen. […] Man konnte es auch so sehen: Er
hatte geschafft, was in der Familie keiner vor ihm geschafft hatte:
Mit zwanzig Lebensjahren war er in Besitz einer Arbeit, einer
Sozialversicherung und einer Kochuniform.
So
darf es besonders im Sinne der europäischen Verständigung als
großer Verdienst der beiden Autoren Jelena Volić
und Christian Schünemann gelten, dass sie sich für ihre neue, die
internationalen Krimi-Landschaften auf reizvolle Art und Weise
erweiternde Buchreihe, deren erster Teil „Kornblumenblau“ bereits
im vergangenen Jahr erschienen ist, die neu aufblühende serbische
Metropole Belgrad als dankbaren Handlungsort und die ebenso
unbestechliche wie unkonventionelle Juristin Milena Lukin als
sympathische Ermittlerin ausgesucht haben, um dem Leser mit
hintersinniger Eleganz vor Augen zu führen, dass ein kritischer,
unabhängiger Geist und eine sensible, lebenslustige Seele nicht nur
überall zu Hause sein können, sondern – losgelöst von sozialer
oder geographischer Herkunft – sogar die einzigen wesentlichen
Mittel zur individuellen Welterkundung sind.
Belgrad
heißt auf Serbisch „die weiße Stadt“. Milena kannte hier jede
Straße und jedes Haus – jedenfalls kam es ihr so vor. In den alten
Büchern mit Fotos aus früheren Zeiten war freilich etwas anderes zu
sehen als dieser graue, mit Reklametafeln gespickte Steinhaufen. Was
Serben, Türken und Habsburger über Jahrhunderte gestaltet und
gebaut hatten, wurde durch die deutschen Bombenangriffe am sechsten
April 1941 weitgehend vernichtet und die Zerstörung durch die
Alliierten in den ersten Monaten des Jahres 1944 vollendet.
Übriggeblieben waren vereinzelte stuck- und säulenverzierte
Prachtbauten aus den vergangenen Jahrhunderten, für die Nachwelt
gehegt und gepflegt und umgeben von symmetrischen Blumenrabatten,
zierlichen Parkbänken und vornehm plätschernden Springbrunnen. Die
schönen alten Kästen waren vorzugsweise den gewählten Vertretern
des serbischen Volkes und Dienern der staatlichen Bürokratie
vorbehalten – oder zahlungskräftigen Hotelgästen aus dem Ausland.
Jelena Volić und Christian Schünemann |
Milena,
Anfang vierzig und alleinerziehende Mutter eines zehnjährigen Sohnes
aus einer gescheiterten Beziehung mit einem deutschen Komilitonen
während des gemeinsamen Studiums in Berlin, bestreitet als
hochausgebildete Juristin und Spezialistin für internationales
Strafrecht ihr kümmerliches Einkommen als wissenschaftliche
Mitarbeiterin des Instituts für Kriminalistik und Kriminologie der
Universität Belgrad sowie aus Fördergeldern der Deutschen
Akademischen Gesellschaft: offiziell erklärtes, aber von ihren
Vorgesetzten bewusst hintertriebenes „gemeinsames“ Ziel ist die
Errichtung eines Fachbereichs für Internationale Strafverfolgung und
Gerichtsbarkeit als europäisches Forschungsprojekt, das künftig das
Haager Tribunal aktiv bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen auf dem
Gebiet des ehemaligen Jugoslawien unterstützen soll.
Zwischen
diesen Ruinen und alten Denkmälern klaffte eine riesige Lücke, ein
schwarzes Loch, in dem eine ganze Welt versunken war. Es war die Welt
Jugoslawiens mit dem roten Pioniertuch, den weißen Kniestrümpfen
und den Räumen ihrer Kindheit – bewohnt von strengen Tanten und
witzigen Onkeln, gewärmt von der Liebe aufmerksamer Eltern, sie
duftete nach Gugelhupf und warmem Kakao. Das Abenteuer der ersten
Zigarette im kroatischen Inselsommer, der erste Kuss auf der Skihütte
in den bosnischen Bergen waren mit einem schalen Gefühl der
Enttäuschung aus dem Gedächtnis gelöscht und die Fotos aus den
Alben verbannt. Das halbe Jahrhundert einer ganzen Nation war von der
Tafel der Weltgeschichte gewischt worden, und jeder Einzelne hatte
das Anrecht auf sentimentale Erinnerungen eingebüßt, weil man
Kriegsgenerälen und Politikern erlaubte, die Geschichte
umzuschreiben.
Als
auf dem hochgesicherten Militärgelände von Topčider
zwei junge Gardisten der serbischen Eliteeinheit während eines
gewöhnlichen Routinerundgangs im Rahmen ihres Wachdienstes unter
mysteriösen Umständen zu Tode kommen, behauptet die Militärführung,
die beiden unerfahrenen Rekruten seien einem verbotenen archaischen
Selbstmordritual zum Opfer gefallen, weswegen man ihnen von amtlicher
Seite ein Begräbnis mit den sonst üblichen militärischen Ehren
entschieden verweigert. Die entsetzten Eltern der beiden Todesopfer
engagieren daraufhin auf eigene Kosten den streitbaren, mit vitaler
subversiver Energie ausgestatteten Anwalt Siniša
Stojković, um ihre Söhne von
dem Verdacht militärischen Ungehorsams reinzuwaschen und um
herauszufinden, was in jener Nacht wirklich passiert sein mag.
Belgrad, Ada-Brücke |
Obwohl
dem überzeugten Querulanten für gewöhnlich kein noch so
kontroverser Fall zu heiß ist, stößt er bei seinen riskanten
Ermittlungen in höchsten Militärkreisen schnell an die legalen
Grenzen seiner Berufsausübung und muss daher seine mit zahlreichen
offiziellen Vollmachten ausgestattete langjährige Freundin Milena um
Hilfe bitten, die sich sofort mit einer unnachahmlichen Mischung aus
natürlichem Gerechtigkeitssinn und starrsinnigem Todesmut in eine
schwer durchschaubare Grundkonstellation hineinwühlt, in der alte
militärische Seilschaften aus dem Balkankrieg, Kriegsverbrechen an
der muslimischen Minderheit und kollektives Streben nach
Zugehörigkeit ebenso eine Rolle spielen wie politische Machtgier,
Korruption und falsch verstandene Loyalität zu fragwürdigen
moralischen Instanzen. Mit ihrem scharfen Verstand und ihren
zahlreichen unbequemen Fragen kommt sie dabei der bitteren Wahrheit
so nahe, dass sie schon bald auf der Abschussliste einer innerhalb
der serbischen Elite gut vernetzten Gruppe von ebenso unbeirrbaren
wie skrupellosen Nationalisten landet.
Schritt
eins: Er hatte die Observierung wiederaufgenommen. Er führte die
Mission im eigenen Auftrag durch, ohne Befehl und ohne Instruktionen
von oben. Er musste Informationen sammeln und sortieren, er musste
den Gegner einschätzen und herausfinden, wer alles dazugehörte. War
die Frau die Chefin und der Silbertyp mit dem Seidenschal, mit dem
sie manchmal unterwegs war, ihr Laufbursche? […] Momčilo
hatte die Frau unterschätzt. Alle hatten sie die Frau unterschätzt.
Er, Pawle, musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren und versuchen,
jeden ihrer Schritte vorauszuberechnen. Er musste sich klug
anstellen. Er allein musste entscheiden, wann die Beobachtungsphase
beendet war und wann Schritt zwei, der Zugriff, zu erfolgen hatte.
Den
beiden Autoren ist mit ihrem ersten gemeinsamen, spannend zu lesenden
Kriminalroman ein für den interessierten Leser ausgesprochen
wertvoller, kenntnisreicher Blick auf die aktuelle politische und
wirtschaftliche Situation Serbiens gelungen, der – ausgehend von
der wechselhaften Geschichte des Landes am unverdienten Rande Europas
– nicht nur die Befindlichkeiten seiner Bewohner auf ebenso
gründliche wie liebevolle Art und Weise zu porträtieren versteht,
sondern auch angemessen auf das „verlorene Paradies“ des
vereinten Jugoslawiens und seiner unterschiedlichen Nationalitäten
eingeht. Dabei bleibt auch der lange Schatten deutscher
Kriegsverbrechen stets spürbar. In dieser Hinsicht bietet
„Kornblumenblau“ ein nahezu unbezahlbares Leseerlebnis, das zwar
eine persönliche Begegnung mit dem Land und seinen Bürgern nicht
ersetzen kann, aber dennoch vorbildlich aufzeigt, wie man seine
persönliche Sichtweise aufs Unbekannte wirksam verändern kann, wenn
man sich diesem mit Demut und Verständnis nähert.
„Kornblumenblau“,
erschienen bei Diogenes, 362 Seiten, € 19,90
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