Jerusalem

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Mittwoch, 4. Juni 2014

„Kornblumenblau“ von Schünemann & Volić

Wie hiesige Reaktionen auf die noch andauernde bittere Krise in der Ukraine sowie die leidenschaftslos-routinierte, vornehmlich ablehnende Sicht des Normalbürgers auf die einzelnen Konflikparteien eindrücklich beweisen, gehören die unabhängigen Staaten Osteuropas auch zwei Generationen nach Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch zu den großen Fremdkörpern im schemenhaft-unentwickelten europäischen Selbstverständnis vieler Bundesbürger, die ihre Sympathien aus träger Gewohnheit eher westeuropäischen Nachbarländern schenken, mit denen sie sich in gemeinsamer Kultur stärker verbunden glauben. „Polnische Wirtschaft“ oder „Russische Verhältnisse“ sind nur zwei der hartnäckigsten historischen Stereotypen die geradezu sprichwörtlichen Eingang in die deutsche Alltagssprache gefunden haben. Über Länder wie Serbien, Kroatien oder Albanien gibt es zahllose gängige Vorurteile, die sich im Laufe der letzten zweihundert Jahre ebenfalls kaum verändert zu haben scheinen.





Dabei bleibt deutlich hervorzuheben, dass besonders die vielbeschworene deutsch-französische Freundschaft, wie sie heute zu Recht gerühmt wird, zuallererst das Produkt einer jahrzehntelangen gemeinsamen intensiven politischen Anstrengung ist, die erst durch gezielt herbeigeführte persönliche Begegnungen und ein tiefgreifendes wechselseitiges Kennenlernen über mehrere Generationen die überkommene und von vielen nationalistisch gesinnten Intellektuellen des kolonialistischen Zeitalters pseudophilosophisch zur erbitterten Kulturfrage überhöhte Feindschaft der Vergangenheit nachhaltig zu überwinden vermochte: ein ebenso lebensfroher wie genussfreudiger fiktiver Dorfpolizist wie Bruno aus Martin Walkers wunderbaren, im südfranzösischen Perigord angesiedelten Kriminalromanen, der lieber schwarze Trüffel, Stopfleber und Rotwein genießt anstatt Verbrecher zu jagen, darf deswegen als virtuoser Lebenskünstler gelten, während ein realer serbischer oder bulgarischer Kollege mit gleichen Angewohnheiten vom Betrachter aus purer geistiger Trägheit vermutlich als verfressen und arbeitsscheu wahrgenommen würde.

Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und streckte die Beine aus. Eigentlich durfte er sich überhaupt nicht beschweren. Sein Bruder war arbeitsloser Anstreicher und schleppte den Leuten in Novi Sad die Kohlen für den Winter, seine Mutter putzte Klos auf einer ungarischen Autobahnraststätte. Und seit seine Schwester gesagt hatte, dass sie rüber wollte nach Österreich, in ein irgendwie besseres Leben, hatte niemand mehr etwas von ihr gehört. Er machte sich Sorgen. In Dragaš, dem Dorf im südwestlichen Kosovo, an der Grenze zu Albanien, waren nur noch die Großeltern und die Ziegen, und ob die Familie dort jemals – und sei es auf dem Friedhof – wieder zusammenkommen würde, stand in den Sternen. […] Man konnte es auch so sehen: Er hatte geschafft, was in der Familie keiner vor ihm geschafft hatte: Mit zwanzig Lebensjahren war er in Besitz einer Arbeit, einer Sozialversicherung und einer Kochuniform.

So darf es besonders im Sinne der europäischen Verständigung als großer Verdienst der beiden Autoren Jelena Volić und Christian Schünemann gelten, dass sie sich für ihre neue, die internationalen Krimi-Landschaften auf reizvolle Art und Weise erweiternde Buchreihe, deren erster Teil „Kornblumenblau“ bereits im vergangenen Jahr erschienen ist, die neu aufblühende serbische Metropole Belgrad als dankbaren Handlungsort und die ebenso unbestechliche wie unkonventionelle Juristin Milena Lukin als sympathische Ermittlerin ausgesucht haben, um dem Leser mit hintersinniger Eleganz vor Augen zu führen, dass ein kritischer, unabhängiger Geist und eine sensible, lebenslustige Seele nicht nur überall zu Hause sein können, sondern – losgelöst von sozialer oder geographischer Herkunft – sogar die einzigen wesentlichen Mittel zur individuellen Welterkundung sind.

Belgrad heißt auf Serbisch „die weiße Stadt“. Milena kannte hier jede Straße und jedes Haus – jedenfalls kam es ihr so vor. In den alten Büchern mit Fotos aus früheren Zeiten war freilich etwas anderes zu sehen als dieser graue, mit Reklametafeln gespickte Steinhaufen. Was Serben, Türken und Habsburger über Jahrhunderte gestaltet und gebaut hatten, wurde durch die deutschen Bombenangriffe am sechsten April 1941 weitgehend vernichtet und die Zerstörung durch die Alliierten in den ersten Monaten des Jahres 1944 vollendet. Übriggeblieben waren vereinzelte stuck- und säulenverzierte Prachtbauten aus den vergangenen Jahrhunderten, für die Nachwelt gehegt und gepflegt und umgeben von symmetrischen Blumenrabatten, zierlichen Parkbänken und vornehm plätschernden Springbrunnen. Die schönen alten Kästen waren vorzugsweise den gewählten Vertretern des serbischen Volkes und Dienern der staatlichen Bürokratie vorbehalten – oder zahlungskräftigen Hotelgästen aus dem Ausland.

Jelena Volić und Christian Schünemann

Milena, Anfang vierzig und alleinerziehende Mutter eines zehnjährigen Sohnes aus einer gescheiterten Beziehung mit einem deutschen Komilitonen während des gemeinsamen Studiums in Berlin, bestreitet als hochausgebildete Juristin und Spezialistin für internationales Strafrecht ihr kümmerliches Einkommen als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Kriminalistik und Kriminologie der Universität Belgrad sowie aus Fördergeldern der Deutschen Akademischen Gesellschaft: offiziell erklärtes, aber von ihren Vorgesetzten bewusst hintertriebenes „gemeinsames“ Ziel ist die Errichtung eines Fachbereichs für Internationale Strafverfolgung und Gerichtsbarkeit als europäisches Forschungsprojekt, das künftig das Haager Tribunal aktiv bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien unterstützen soll.

Zwischen diesen Ruinen und alten Denkmälern klaffte eine riesige Lücke, ein schwarzes Loch, in dem eine ganze Welt versunken war. Es war die Welt Jugoslawiens mit dem roten Pioniertuch, den weißen Kniestrümpfen und den Räumen ihrer Kindheit – bewohnt von strengen Tanten und witzigen Onkeln, gewärmt von der Liebe aufmerksamer Eltern, sie duftete nach Gugelhupf und warmem Kakao. Das Abenteuer der ersten Zigarette im kroatischen Inselsommer, der erste Kuss auf der Skihütte in den bosnischen Bergen waren mit einem schalen Gefühl der Enttäuschung aus dem Gedächtnis gelöscht und die Fotos aus den Alben verbannt. Das halbe Jahrhundert einer ganzen Nation war von der Tafel der Weltgeschichte gewischt worden, und jeder Einzelne hatte das Anrecht auf sentimentale Erinnerungen eingebüßt, weil man Kriegsgenerälen und Politikern erlaubte, die Geschichte umzuschreiben.

Als auf dem hochgesicherten Militärgelände von Topčider zwei junge Gardisten der serbischen Eliteeinheit während eines gewöhnlichen Routinerundgangs im Rahmen ihres Wachdienstes unter mysteriösen Umständen zu Tode kommen, behauptet die Militärführung, die beiden unerfahrenen Rekruten seien einem verbotenen archaischen Selbstmordritual zum Opfer gefallen, weswegen man ihnen von amtlicher Seite ein Begräbnis mit den sonst üblichen militärischen Ehren entschieden verweigert. Die entsetzten Eltern der beiden Todesopfer engagieren daraufhin auf eigene Kosten den streitbaren, mit vitaler subversiver Energie ausgestatteten Anwalt Siniša Stojković, um ihre Söhne von dem Verdacht militärischen Ungehorsams reinzuwaschen und um herauszufinden, was in jener Nacht wirklich passiert sein mag.

Belgrad, Ada-Brücke

Obwohl dem überzeugten Querulanten für gewöhnlich kein noch so kontroverser Fall zu heiß ist, stößt er bei seinen riskanten Ermittlungen in höchsten Militärkreisen schnell an die legalen Grenzen seiner Berufsausübung und muss daher seine mit zahlreichen offiziellen Vollmachten ausgestattete langjährige Freundin Milena um Hilfe bitten, die sich sofort mit einer unnachahmlichen Mischung aus natürlichem Gerechtigkeitssinn und starrsinnigem Todesmut in eine schwer durchschaubare Grundkonstellation hineinwühlt, in der alte militärische Seilschaften aus dem Balkankrieg, Kriegsverbrechen an der muslimischen Minderheit und kollektives Streben nach Zugehörigkeit ebenso eine Rolle spielen wie politische Machtgier, Korruption und falsch verstandene Loyalität zu fragwürdigen moralischen Instanzen. Mit ihrem scharfen Verstand und ihren zahlreichen unbequemen Fragen kommt sie dabei der bitteren Wahrheit so nahe, dass sie schon bald auf der Abschussliste einer innerhalb der serbischen Elite gut vernetzten Gruppe von ebenso unbeirrbaren wie skrupellosen Nationalisten landet.

Schritt eins: Er hatte die Observierung wiederaufgenommen. Er führte die Mission im eigenen Auftrag durch, ohne Befehl und ohne Instruktionen von oben. Er musste Informationen sammeln und sortieren, er musste den Gegner einschätzen und herausfinden, wer alles dazugehörte. War die Frau die Chefin und der Silbertyp mit dem Seidenschal, mit dem sie manchmal unterwegs war, ihr Laufbursche? […] Momčilo hatte die Frau unterschätzt. Alle hatten sie die Frau unterschätzt. Er, Pawle, musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren und versuchen, jeden ihrer Schritte vorauszuberechnen. Er musste sich klug anstellen. Er allein musste entscheiden, wann die Beobachtungsphase beendet war und wann Schritt zwei, der Zugriff, zu erfolgen hatte.

Den beiden Autoren ist mit ihrem ersten gemeinsamen, spannend zu lesenden Kriminalroman ein für den interessierten Leser ausgesprochen wertvoller, kenntnisreicher Blick auf die aktuelle politische und wirtschaftliche Situation Serbiens gelungen, der – ausgehend von der wechselhaften Geschichte des Landes am unverdienten Rande Europas – nicht nur die Befindlichkeiten seiner Bewohner auf ebenso gründliche wie liebevolle Art und Weise zu porträtieren versteht, sondern auch angemessen auf das „verlorene Paradies“ des vereinten Jugoslawiens und seiner unterschiedlichen Nationalitäten eingeht. Dabei bleibt auch der lange Schatten deutscher Kriegsverbrechen stets spürbar. In dieser Hinsicht bietet „Kornblumenblau“ ein nahezu unbezahlbares Leseerlebnis, das zwar eine persönliche Begegnung mit dem Land und seinen Bürgern nicht ersetzen kann, aber dennoch vorbildlich aufzeigt, wie man seine persönliche Sichtweise aufs Unbekannte wirksam verändern kann, wenn man sich diesem mit Demut und Verständnis nähert.

„Kornblumenblau“, erschienen bei Diogenes, 362 Seiten, € 19,90

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