Jerusalem

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Freitag, 27. Juni 2014

„Zweite Generation“ von Michel Kichka

Im ersten überaus einprägsamen Bild von Michel Kichkas ebenso humorvoller wie tiefgründiger Graphic Novel „Zweite Generation“ starrt der noch kindliche, jedoch mit dem Autor und Zeichner erklärtermaßen identische Icherzähler ratlos auf die instinktiv in Abwehr verschränkten Arme seines in sich gekehrten Vaters und fragt sich – unerwidert über Jahre, wer ihm wohl diese merkwürdige sechsstellige Nummer zwischen die Haare seines linken Unterarms geschrieben haben mag. Wenn der Vater beim Essen laut vernehmlich rülpst, was den Kindern ausdrücklich verboten ist, heißt es: „Bei Papa ist das was anderes. Er war im Lager.“ Und wenn diesem am Mittagstisch im Familienkreis ein von seiner Frau gekochtes Gericht besonders gut schmeckt, erinnert es ihn dennoch an Auschwitz: „Weil es dort so etwas nicht gab.“



Der im Jahr 1992 mit einem unerwarteten Pulitzer-Preis prämierte amerikanische Zeichner und Karikaturist Art Spiegelman hat mit seinen berühmten Maus-Bänden „Mein Vater kotzt Geschichte aus“/„Und hier begann mein Unglück“ einen bislang in diesem Genre unerreichten, geradezu stilbildenden Klassiker geschaffen, in dem er auf äußerst prägnante, düster-depressive Art und Weise das Grauen der Schoah anhand des Leidenswegs seiner Eltern Revue passieren lässt, die auch nach dem Krieg im amerikanischen Exil innerlich nie zur Ruhe kamen – die Mutter beging 1968 Selbstmord – und auf diese Weise auch den Sohn als gleichsam „typischen“ Vertreter der sogenannten „zweiten Generation“ in seiner Weltwahrnehmung und in seiner Persönlichkeit nachhaltig prägten.

Diesem schwierig zu gestaltenden lebenslangem Thema hat sich der belgisch-israelische Karikaturist und vielbeschäftigte Illustrator von Kinderbüchern Michel Kichka (geboren 1954 in Lüttich) auf gänzlich andere, poetischere Art und Weise und in seiner ganz eigenen charakteristischen Bildsprache gewidmet. Seine innerhalb eines langwierigen schmerzhaften persönlichen Prozesses der Bewusstwerdung und Verarbeitung der eigenen traumatischen Familiengeschichte entstandene Graphic Novel „Zweite Generation – Was ich meinem Vater nie gesagt habe“ orientiert sich trotz der durchgängig-konsequenten (und dem Thema angemessenen) Ausführung in Schwarzweiß eindeutig am in seinem Grundcharakter eher leichtfüßigeren europäischen Comic belgischer Prägung, die er in Form so vertrauter Figuren wie Tintin, Gaston oder des Marsupilami bei passender Gelegenheit immer wieder kenntnisreich zitiert.


Doch auch Kichkas langjährige Erfahrung als politischer Karikaturist für israelische und europäische Tageszeitungen lässt sich an seinen geistreichen autobiographischen Zeichnungen deutlich ablesen. Dabei scheut der originelle Zeichner und langjährige Präsident der israelischen Karikaturistengilde keine großen metaphorischen Gesten: auf einer fast die gesamte Seite einnehmenden Zeichnung steht sein Vater einsam am Stracheldraht von Auschwitz bis zu den Knien in seinen eigenen Tränen; auf einem anderen Bild hängt er in der bekannten Pose des Stummfilmstars Harold Lloyd am Zeiger einer riesigen mechanischen Uhr, die exakt am Tag und in der Stunde seiner Verhaftung für alle Zeit stehengeblieben scheint. Und „Zeichne mir eine Familie“, bittet der kleine Michel in poetischer Anlehnung an Saint Exuperys kleinen Prinzen seinen ratlos dreinblickenden Vater auf der Oberfläche eines winzigen Planeten vor dem schwarzen Hintergrund eines menschenleeren Universums.

Obwohl er seine Eltern stets als sehr liebevoll wahrgenommen hat, wuchs Michel Kichka (wie seine drei Geschwister auch) fern von ihnen in einem katholischen Internat auf. Das Familienleben war geprägt vom Schweigen des Vaters, von dessen depressiven Phasen und chronischen körperlichen Leiden wie unterschiedlichsten psychosomatischen Beschwerden. Erst spät in seinem Leben gelang es Henri Kichka, ein Buch über seinen Leidensweg während der Schoah zu schreiben, mit siebzig begleitete er erstmals eine belgische Jugendgruppe nach Auschwitz – ein ehrenamtliches Engagement, das er von da an regelmäßig mindestens einmal im Jahr ausfüllen sollte. Während Michel schon in Jugendjahren nach Israel emigrierte und sich auf diese Art und Weise zu distanzieren vermochte, nahm sich sein jüngerer Bruder Charly in der festen Überzeugung, persönlich und menschlich versagt zu haben, das Leben.

Michel Kichka, 2008

Michel Kichkas große Stärke und wunderbare Begabung in seinem vorliegenden großen Werk besteht in der überaus seltenen Fähigkeit, scheinbar Unsagbares im poetisch-zauberhaften Zusammenwirken von Sprache und Bild für den Leser dennoch unmittelbar erfassbar und zugänglich zu machen. Am Ende seiner Erzählung, die auch den beinahe lebenslangen Entstehungsprozess seiner Graphic Novel umfasst, schwebt der Autor innerlich strahlend und mit weit ausgebreiteten Armen schwerelos über den aufgeschlagenen Seiten seines vollendeten Albums: „Noch niemals hatte ich mich so gut gefühlt.“ Diese allumfassende positive Annahme seines eigenen Schicksals sowie des Lebens an sich scheint Michel Kichka explizit auch auf den trotz der Schwere des Stoffes merkwürdig gut unterhaltenen Leser ausweiten zu wollen, der schließlich das nachhaltig befreiende Gefühl eines tieferen Begreifens genießen darf: hier zeigt Michel Kichka die unermesslichen wunderbaren Möglichkeiten der Graphic Novel vorbildlich auf.

„Zweite Generation“, aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock, erschienen bei Egmont, 111 Seiten, € 19,99

(Dieser Text ist bereits in einer gekürzten Fassung in der Printausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen.)

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