Im
ersten überaus einprägsamen Bild von Michel Kichkas ebenso
humorvoller wie tiefgründiger Graphic Novel „Zweite Generation“
starrt der noch kindliche, jedoch mit dem Autor und Zeichner
erklärtermaßen identische Icherzähler ratlos auf die instinktiv in
Abwehr verschränkten Arme seines in sich gekehrten Vaters und fragt
sich – unerwidert über Jahre, wer ihm wohl diese merkwürdige
sechsstellige Nummer zwischen die Haare seines linken Unterarms
geschrieben haben mag. Wenn der Vater beim Essen laut vernehmlich
rülpst, was den Kindern ausdrücklich verboten ist, heißt es: „Bei
Papa ist das was anderes. Er war im Lager.“ Und wenn diesem am
Mittagstisch im Familienkreis ein von seiner Frau gekochtes Gericht
besonders gut schmeckt, erinnert es ihn dennoch an Auschwitz: „Weil
es dort so etwas nicht gab.“
Der im
Jahr 1992 mit einem unerwarteten Pulitzer-Preis prämierte
amerikanische Zeichner und Karikaturist Art Spiegelman hat mit seinen
berühmten Maus-Bänden „Mein Vater kotzt Geschichte
aus“/„Und hier begann mein Unglück“ einen bislang in diesem
Genre unerreichten, geradezu stilbildenden Klassiker geschaffen, in
dem er auf äußerst prägnante, düster-depressive Art und Weise das
Grauen der Schoah anhand des Leidenswegs seiner Eltern Revue
passieren lässt, die auch nach dem Krieg im amerikanischen Exil
innerlich nie zur Ruhe kamen – die Mutter beging 1968 Selbstmord –
und auf diese Weise auch den Sohn als gleichsam „typischen“
Vertreter der sogenannten „zweiten Generation“ in seiner
Weltwahrnehmung und in seiner Persönlichkeit nachhaltig prägten.
Diesem
schwierig zu gestaltenden lebenslangem Thema hat sich der
belgisch-israelische Karikaturist und vielbeschäftigte Illustrator
von Kinderbüchern Michel Kichka (geboren 1954 in Lüttich) auf
gänzlich andere, poetischere Art und Weise und in seiner ganz
eigenen charakteristischen Bildsprache gewidmet. Seine innerhalb
eines langwierigen schmerzhaften persönlichen Prozesses der
Bewusstwerdung und Verarbeitung der eigenen traumatischen
Familiengeschichte entstandene Graphic Novel „Zweite Generation –
Was ich meinem Vater nie gesagt habe“ orientiert sich trotz der
durchgängig-konsequenten (und dem Thema angemessenen) Ausführung in
Schwarzweiß eindeutig am in seinem Grundcharakter eher
leichtfüßigeren europäischen Comic belgischer Prägung, die er in
Form so vertrauter Figuren wie Tintin, Gaston oder des Marsupilami
bei passender Gelegenheit immer wieder kenntnisreich zitiert.
Doch
auch Kichkas langjährige Erfahrung als politischer Karikaturist für
israelische und europäische Tageszeitungen lässt sich an seinen
geistreichen autobiographischen Zeichnungen deutlich ablesen. Dabei
scheut der originelle Zeichner und langjährige Präsident der
israelischen Karikaturistengilde keine großen metaphorischen Gesten:
auf einer fast die gesamte Seite einnehmenden Zeichnung steht sein
Vater einsam am Stracheldraht von Auschwitz bis zu den Knien in
seinen eigenen Tränen; auf einem anderen Bild hängt er in der
bekannten Pose des Stummfilmstars Harold Lloyd am Zeiger einer
riesigen mechanischen Uhr, die exakt am Tag und in der Stunde seiner
Verhaftung für alle Zeit stehengeblieben scheint. Und „Zeichne mir
eine Familie“, bittet der kleine Michel in poetischer Anlehnung an
Saint Exuperys kleinen Prinzen seinen ratlos dreinblickenden Vater
auf der Oberfläche eines winzigen Planeten vor dem schwarzen
Hintergrund eines menschenleeren Universums.
Obwohl
er seine Eltern stets als sehr liebevoll wahrgenommen hat, wuchs
Michel Kichka (wie seine drei Geschwister auch) fern von ihnen in
einem katholischen Internat auf. Das Familienleben war geprägt vom
Schweigen des Vaters, von dessen depressiven Phasen und chronischen
körperlichen Leiden wie unterschiedlichsten psychosomatischen
Beschwerden. Erst spät in seinem Leben gelang es Henri Kichka, ein
Buch über seinen Leidensweg während der Schoah zu schreiben, mit
siebzig begleitete er erstmals eine belgische Jugendgruppe nach
Auschwitz – ein ehrenamtliches Engagement, das er von da an
regelmäßig mindestens einmal im Jahr ausfüllen sollte. Während
Michel schon in Jugendjahren nach Israel emigrierte und sich auf
diese Art und Weise zu distanzieren vermochte, nahm sich sein
jüngerer Bruder Charly in der festen Überzeugung, persönlich und
menschlich versagt zu haben, das Leben.
Michel Kichka, 2008 |
Michel
Kichkas große Stärke und wunderbare Begabung in seinem vorliegenden
großen Werk besteht in der überaus seltenen Fähigkeit, scheinbar
Unsagbares im poetisch-zauberhaften Zusammenwirken von Sprache und
Bild für den Leser dennoch unmittelbar erfassbar und zugänglich zu
machen. Am Ende seiner Erzählung, die auch den beinahe lebenslangen
Entstehungsprozess seiner Graphic Novel umfasst, schwebt der Autor
innerlich strahlend und mit weit ausgebreiteten Armen schwerelos über
den aufgeschlagenen Seiten seines vollendeten Albums: „Noch niemals
hatte ich mich so gut gefühlt.“ Diese allumfassende positive
Annahme seines eigenen Schicksals sowie des Lebens an sich scheint
Michel Kichka explizit auch auf den trotz der Schwere des Stoffes
merkwürdig gut unterhaltenen Leser ausweiten zu wollen, der
schließlich das nachhaltig befreiende Gefühl eines tieferen
Begreifens genießen darf: hier zeigt Michel Kichka die
unermesslichen wunderbaren Möglichkeiten der Graphic Novel
vorbildlich auf.
„Zweite Generation“, aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock,
erschienen bei Egmont, 111 Seiten, € 19,99
(Dieser Text ist bereits in einer gekürzten Fassung in der Printausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen.)
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